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ARBEITSRECHT AKTUELL // 17/109

An­er­ken­nungs­ta­rif­ver­trag und künf­ti­ge Lohn­er­hö­hun­gen

Ver­weist ein Haus­ta­rif­ver­trag dy­na­misch auf Bran­chen­ta­rif­ver­trä­ge, en­det die Dy­na­mik der Ver­wei­sung, wenn der Haus­ta­rif­ver­trag wirk­sam ge­kün­digt ist: Bun­des­ar­beits­ge­richt, Ur­teil vom 22.03.2017, 4 AZR 462/16
Industrieanlage, Chemiewerk

18.04.2017. Ge­werk­schafts­mit­glie­der kön­nen von ih­rem ta­rif­ge­bun­de­nen Ar­beit­ge­ber ge­mäß § 4 Abs.1 Ta­rif­ver­trags­ge­setz (TVG) den je­weils gül­ti­gen Ta­rif­lohn ver­lan­gen, d.h. ihr Lohn­an­spruch steigt im Lau­fe der Zeit ent­spre­chend den ta­rif­li­chen Lohn­run­den.

Wer die An­wen­dung von Ta­rif­ver­trä­gen nur auf­grund ei­ner ar­beits­ver­trag­li­chen Be­zug­nah­me­klau­sel ver­lan­gen kann, hat nur dann ei­nen sol­chen "dy­na­mi­schen" Ta­rif­lohn­an­spruch, wenn die Be­zug­nah­me­klau­sel künf­ti­ge Ta­rif­fas­sun­gen in den Ar­beits­ver­trag ein­be­zieht.

In ei­ner ak­tu­el­len Ent­schei­dung hat das Bun­des­ar­beits­ge­richt (BAG) klar­ge­stellt, dass ein An­er­ken­nungs­ta­rif­ver­trag, mit dem der Ar­beit­ge­ber die An­wen­dung be­stimm­ter Bran­chen­ta­rif­ver­trä­ge für sein Un­ter­neh­men zu­sagt, kei­ne sehr zu­ver­läs­si­ge Grund­la­ge für dy­na­mi­sche Ta­rif­lohn­an­sprü­che ist: BAG, Ur­teil vom 22.03.2017, 4 AZR 462/16.

Kann der Ar­beit­ge­ber durch Kündi­gung ei­nes An­er­ken­nungs­ta­rif­ver­trags die dort in Be­zug ge­nom­me­nen Ta­rif­verträge sta­tisch „ein­frie­ren“?

Ist ein Ar­beit­neh­mer Ge­werk­schafts­mit­glied und ist auch sein Ar­beit­ge­ber (ent­we­der als Ta­rif­par­tei ei­nes Fir­men­ta­rif­ver­trags oder als Mit­glied ei­nes Ar­beit­ge­ber­ver­ban­des) an ei­nen Ta­rif­ver­trag ge­bun­den, dann gilt der Ta­rif­ver­trag gemäß § 4 Abs.1 TVG zwi­schen Ar­beit­ge­ber und Ar­beit­neh­mer wie ein Ge­setz, d.h. un­mit­tel­bar und zwin­gend. Ab­wei­chun­gen vom Ta­rif sind nur zu­guns­ten des Ar­beit­neh­mers zulässig (§ 4 Abs.3 TVG).

Aus die­ser sog. „nor­ma­ti­ven Wir­kung“ des Ta­rif­ver­trags kann sich der Ar­beit­ge­ber auch nicht her­aus­mo­geln, in­dem er aus dem Ar­beit­ge­ber­ver­band aus­tritt, denn dann greift § 3 Abs.3 TVG ein. Nach die­ser Vor­schrift bleibt die Ta­rif­ge­bun­den­heit so lan­ge be­ste­hen, bis der Ta­rif­ver­trag durch Kündi­gung oder durch Ab­lauf der ver­ein­bar­ten Lauf­zeit en­det. So­lan­ge die­se Nach­bin­dung gemäß § 3 Abs.3 TVG dau­ert, bleibt die ge­set­zes­glei­che („nor­ma­ti­ve“) Wir­kung des Ta­rif­ver­trags be­ste­hen. Ab­wei­chun­gen per Ar­beits­ver­trag oder Be­triebs­ver­ein­ba­rung sind da­her im Nach­bin­dungs­zeit­raum nur möglich, wenn sie sich zu­guns­ten des Ar­beit­neh­mers aus­wir­ken (§ 4 Abs.3 TVG).

Ei­ne schwäche­re Form der Wei­ter­gel­tung ei­nes Ta­rif­ver­trags ist die so­ge­nann­te Nach­wir­kung im Sin­ne von § 4 Abs.5 TVG, die mit Ab­lauf des Ta­rif­ver­trags be­ginnt, d.h. ab dem Zeit­punkt, in dem der Ta­rif­ver­trag wirk­sam gekündigt ist oder sei­ne Lauf­zeit vor­bei ist. Im Nach­wir­kungs­zeit­raum gel­ten die Nor­men des Ta­rif­ver­trags zwar im­mer noch, können aber durch an­de­re Ver­ein­ba­run­gen er­setzt wer­den, z.B. durch Ar­beits­ver­trag oder Be­triebs­ver­ein­ba­rung (§ 4 Abs.5 TVG). Sol­che Ab­wei­chun­gen vom nach­wir­ken­den Ta­rif­ver­trag können sich auch zu­las­ten des Ar­beit­neh­mers aus­wir­ken.

Et­was kom­pli­ziert wird die ta­rif­recht­li­che La­ge, wenn ein Ta­rif­ver­trag auf an­de­re Ta­rif­verträge ver­weist, und zwar so, dass die in Be­zug ge­nom­me­nen Ta­rif­verträge in ih­rer je­weils gülti­gen Fas­sung gel­ten sol­len. Wird dann der ver­wei­sen­de Ta­rif­ver­trag gekündigt und wirkt da­her nach sei­nem Ab­lauf nur noch gemäß § 4 Abs.5 TVG nach, sind die Ver­wei­sungs­fol­gen nach der Recht­spre­chung des BAG ein­ge­schränkt: Kommt es während der Nach­wir­kung des ver­wei­sen­den Ta­rif­ver­trags zu ei­ner Ände­rung der in Be­zug ge­nom­me­nen Ta­rif­verträge, sind die­se Ände­run­gen von der Ver­wei­sung nicht mehr er­fasst (BAG, Ur­teil vom 22.02.2012, 4 AZR 8/10, Rn.27).

Im Er­geb­nis wird da­durch die Ver­wei­sung aus Ar­beit­neh­mer­sicht ent­wer­tet, denn die prak­tisch wich­tigs­ten Ta­rifände­run­gen sind Ta­rif­loh­nerhöhun­gen, von de­nen der Ar­beit­neh­mer aber nicht mehr pro­fi­tiert, wenn er sich nur auf ei­nen nach­wir­ken­den Ver­wei­sungs-Ta­rif­ver­trag be­ru­fen kann.

Aber gilt die­se für Ar­beit­neh­mer ungüns­ti­ge Recht­spre­chung auch, wenn ein auf an­de­re Ta­rif­verträge ver­wei­sen­der Ta­rif­ver­trag ar­beits­ver­trag­lich fest­ge­schrie­ben ist? Ei­ne sol­che (vom Ar­beit­ge­ber vor­for­mu­lier­te) ar­beits­ver­trag­li­che Be­zug­nah­me­klau­sel müss­te zu­min­dest ein­deu­tig sein, denn Un­klar­hei­ten wir­ken sich gemäß dem Recht der All­ge­mei­nen Geschäfts­be­din­gun­gen zu­las­ten des Ar­beit­ge­bers aus (§ 305c Abs.2 Bürger­li­ches Ge­setz­buch - BGB).

Streit im Che­mie­un­ter­neh­men: Ar­beit­neh­mer tra­gen zur Sa­nie­rung durch zeit­wei­sen Lohn­ver­zicht bei, der Ar­beit­ge­ber ist dafür zu ei­nem An­er­ken­nungs­ta­rif­ver­trag be­reit

Im Jah­re 2010 konn­te ein in­sol­ven­tes Che­mie­un­ter­neh­men un­ter Be­tei­li­gung der Ge­werk­schaft und der Be­triebsräte an ei­nen Er­wer­ber veräußert wer­den. Grund­la­ge war ein An­er­ken­nungs­ta­rif­ver­trag (ATV), mit wel­chem sich der Er­wer­ber im Prin­zip da­zu be­reit erklärte, die für die Che­mie­in­dus­trie gel­ten­den Ta­rif­verträge an­zu­wen­den, und zwar in ih­rer je­wei­li­gen Fas­sung, d.h. „dy­na­misch“.

In dem ATV war auch ein ein­ma­li­ger, für das Jahr 2010 gel­ten­der Ver­zicht der Ar­beit­neh­mer auf be­stimm­te Lohn­be­stand­tei­le vor­ge­se­hen. Der ATV war erst­mals per En­de 2011 künd­bar.

Die Ar­beit­neh­mer des Un­ter­neh­mens erklärten sich im Som­mer 2010 durch ar­beits­ver­trag­li­che Ein­zel­ver­ein­ba­rung mit dem ATV ein­ver­stan­den.

Nach­dem der Ar­beit­ge­ber den ATV frist­ge­recht per En­de 2011 gekündigt hat­te, gab er später ver­ein­bar­te Ta­rif­loh­nerhöhun­gen der Che­mie­in­dus­trie nicht mehr an die Ar­beit­neh­mer wei­ter.

Ei­ner der be­trof­fe­nen Ar­beit­neh­mer zog vor das Ar­beits­ge­richt und be­an­trag­te fest­zu­stel­len, dass auf sein Ar­beits­verhält­nis wei­ter­hin die Ta­rif­verträge der In­dus­trie­ge­werk­schaft Berg­bau, Che­mie, En­er­gie für die west­deut­sche Che­mie­in­dus­trie in ih­rer je­weils ak­tu­el­len Fas­sung An­wen­dung fin­den. Mit die­ser Kla­ge hat­te er we­der vor dem Ar­beits­ge­richt Karls­ru­he (Ur­teil vom 07.10.2015, 5 Ca 231/15) noch vor dem Lan­des­ar­beits­ge­richt (LAG) Ba­den-Würt­tem­berg Er­folg (LAG Ba­den-Würt­tem­berg, Ur­teil vom 11.03.2016, 9 Sa 44/15).

BAG bestätigt sei­ne Recht­spre­chung zu den Rechts­wir­kun­gen ei­nes ver­wei­sen­den Ta­rif­ver­trags, der nur noch nach­wirkt

Auch in Er­furt hat­te der Kläger kein Glück. Das BAG wies sei­ne Re­vi­si­on zurück.

Zur Be­gründung be­zieht sich das BAG auf sei­ne oben ge­nann­te Recht­spre­chung, der zu­fol­ge ein nur noch nach­wir­ken­der Ta­rif­ver­trag, der auf an­de­re Ta­rif­verträge ver­weist, ei­ne be­schränk­te Wir­kung hat. Die Ver­wei­sung durch ei­nen nach­wir­ken­den Ta­rif­ver­trag ist nämlich ab dem Zeit­punkt, in dem die Nach­wir­kung be­ginnt, sta­tisch. Künf­ti­ge Ände­run­gen der von dem Ver­wei­sungs­ta­rif­ver­trag er­fass­ten Ta­rif­verträge kom­men da­her den Ar­beit­neh­mern nicht zu­gu­te, die sich (nur) auf den Ver­wei­sungs­ta­rif­ver­trag be­ru­fen können.

Be­zo­gen auf den vor­lie­gen­den Fall ist das BAG der Mei­nung, dass die im Som­mer 2010 ge­trof­fe­ne ar­beits­ver­trag­li­che Ver­ein­ba­rung aus­sch­ließlich ei­ne Be­zug­nah­me auf den ATV ent­hielt, denn nur die­ser Ta­rif­ver­trag wur­de in der Be­zug­nah­me­klau­sel erwähnt. Außer­dem lag der ATV der ar­beits­ver­trag­li­chen Ver­ein­ba­rung als An­la­ge bei. Da­mit konn­te sich der Kläger mit sei­ner Ar­gu­men­ta­ti­on nicht durch­set­zen, dass er ei­nen ver­trag­li­chen An­spruch auf Be­zah­lung gemäß den­je­ni­gen Che­mie-Ta­rif­verträgen hat­te, die im ATV ge­nannt wa­ren. Hier­zu stellt das BAG klar:

„Durch die­se Re­ge­lungs­tech­nik ha­ben die Ar­beits­ver­trags­par­tei­en fest­ge­legt, dass sie die wei­te­re An­wend­bar­keit der ta­rif­ver­trag­lich in Be­zug ge­nom­me­nen Flächen­ta­rif­verträge von der Fort­wir­kung des in­di­vi­du­al­ver­trag­lich in Be­zug ge­nom­me­nen ATV abhängig ma­chen woll­ten. Dass die Re­ge­lun­gen der Flächen­ta­rif­verträge - wie der Kläger meint - auch un­abhängig vom ATV auf das Ar­beits­verhält­nis der Par­tei­en An­wen­dung fin­den soll­ten, ist der in­di­vi­du­al­ver­trag­li­chen Ver­ein­ba­rung nicht zu ent­neh­men.“

Fa­zit: Es macht ei­nen großen Un­ter­schied, ob der Ar­beits­ver­trag ei­ne Be­zug­nah­me­klau­sel enthält, der zu­fol­ge die Lohn­ta­rif­verträge ei­ner be­stimm­ten Bran­che in ih­rer je­wei­li­gen Fas­sung auf das Ar­beits­verhält­nis an­wend­bar sind, oder ob die Be­zug­nah­me­klau­sel le­dig­lich ei­nen Fir­men- bzw. An­er­ken­nungs­ta­rif­ver­trag für an­wend­bar erklärt, der dann sei­ner­seits auf be­stimm­te Flächen- bzw. Lohn­ta­rif­verträge ver­weist. Denn von ei­ner ar­beits­ver­trag­li­chen Be­zug­nah­me­klau­sel kommt der Ar­beit­ge­ber nur mit Zu­stim­mung des Ar­beit­neh­mers los, wo­hin­ge­gen der Ar­beit­neh­mer kei­nen recht­li­chen Ein­fluss auf die Fort­gel­tung ei­nes An­er­ken­nungs­ta­rif­ver­trags hat.

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Letzte Überarbeitung: 1. April 2019

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