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LAG Meck­len­burg-Vor­pom­mern, Ur­teil vom 22.11.2016, 5 Sa 298/15

   
Schlagworte: Mindestlohn, Krankheit
   
Gericht: Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern
Aktenzeichen: 5 Sa 298/15
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 22.11.2016
   
Leitsätze:
Vorinstanzen: Arbeitsgericht Stralsund, Urteil vom 07.10.2015, 3 Ca 149/15
   

Lan­des­ar­beits­ge­richt Meck­len­burg-Vor­pom­mern
5 Sa 298/15

Te­nor

1. Auf die Be­ru­fung des Klägers wird das Ur­teil des Ar­beits­ge­richts Stral­sund vom 07.10.2015 - 3 Ca 149/15 - teil­wei­se ab­geändert:

Die Be­klag­te wird ver­ur­teilt, an den Kläger als rest­li­ches Ar­beits­ent­gelt für den Mo­nat Ja­nu­ar 2015 € 1,68 brut­to nebst Zin­sen in Höhe von fünf Pro­zent­punk­ten über dem Ba­sis­zins­satz der EZB seit dem 01.02.2015 zu zah­len.

2. Im Übri­gen wird die Be­ru­fung zurück­ge­wie­sen.

3. Der Kläger trägt die Kos­ten des Be­ru­fungs­ver­fah­rens.

4. Die Re­vi­si­on wird zu­ge­las­sen.

Tat­be­stand

Die Par­tei­en strei­ten über die An­re­chen­bar­keit ei­ner ta­rif­ver­trag­li­chen An­we­sen­heits­prämie auf den ge­setz­li­chen Min­dest­lohn.

Der 1959 ge­bo­re­ne Kläger ist seit dem 14.03.2005 bei der Be­klag­ten, ei­nem fisch­ver­ar­bei­ten­den Un­ter­neh­men, als Mit­ar­bei­ter im Trans­port-, Um­schlag- und La­ger­we­sen beschäftigt. Nach § 3 des Ar­beits­ver­tra­ges vom 21.03.2005 un­ter­liegt das Ar­beits­verhält­nis den für den Ar­beit­ge­ber gel­ten­den Ta­rif­verträgen und Be­triebs­ver­ein­ba­run­gen in der je­weils gülti­gen Fas­sung. Der Kläger ist Mit­glied der Ge­werk­schaft Nah­rung-Ge­nuss-Gaststätten (NGG).

Die Be­klag­te schloss am 06.05.2013 mit der Ge­werk­schaft NGG ei­nen rück­wir­kend zum 01.03.2013 gülti­gen (Haus-)Lohn­ta­rif­ver­trag (im Fol­gen­den nur LTV). Der Kläger be­zieht die Vergütung der Lohn­grup­pe 5 LTV. Der Ta­rif­ver­trag enthält fol­gen­de Be­stim­mun­gen:

§ 5
Ent­gel­te

Lauf­zeit vom 01.01.2015 bis zum 30.06.2015

Ent­gelt­grup­pen

Std/Lohn
in Eu­ro

An­we­sen-
heits­prämie
in Eu­ro
5%

durch­schnit-
tli­che Leis­tungs-
zu­schläge in
Eu­ro

Ge­samt-
be­trag

... ... ... ... ...
Lohn­grup­pe 5 8,34 0,37 0,66 9,37
... ... ... ... ...

 

1. Je­der Ar­beit­neh­mer erhält mo­nat­lich ei­ne An­we­sen­heits­zu­la­ge in Höhe von 15% zusätz­lich zum Ta­ri­fent­gelt. Pro Tag krank­heits­be­ding­ter Ab­we­sen­heit kann ma­xi­mal ein Be­trag von 25% des durch­schnitt­li­chen ta­rif­li­chen Ta­ges­ver­diens­tes von die­ser Prämie in Ab­zug ge­bracht wer­den …

2. Die 15%ige An­we­sen­heits­prämie wird bis zum 01.07.2015 zu­guns­ten des Ta­rif­lohns in den je­wei­li­gen Lohn­grup­pen ab­ge­baut, und zwar in fol­gen­den Schrit­ten, auf 10% zum 01.01.2014, zum 01.01.2015 auf 5% und zum 01.07.2015 auf 0%. …

…"
Am 16.01.2015 gab die Be­klag­te fol­gen­de Be­leg­schafts­in­for­ma­ti­on her­aus:

"…

zum Jah­res­wech­sel 2015 wird es - wie Sie wis­sen - ne­ben den ge­setz­li­chen Ände­run­gen durch den Min­dest­lohn auch ei­ne Verände­rung der Zu­sam­men­set­zung Ih­res Ent­gelts durch den gülti­gen Haus­ta­rif­ver­trag ge­ben.

Für die Lohn­grup­pen 2, 3 und 4 greift zum 01.01.2015 der ge­setz­li­che Min­dest­lohn, mit dem auch die Zah­lung der An­we­sen­heits­prämie entfällt.

Für die Lohn­grup­pe 5 er­folgt ei­ne an­tei­li­ge Be­rech­nung der An­we­sen­heits­prämie.

In den Lohn­grup­pen 6-12 wird, gemäß Haus­ta­rif­ver­trag, ein wei­te­rer An­teil der AWP auf den Grund­stun­den­lohn um­ge­legt.

…"

Die Be­klag­te rech­ne­te bei dem Kläger für den Mo­nat Ja­nu­ar 2015 ei­nen Mo­nats­lohn von 181 St­un­den à € 8,50 = € 1.538,50 brut­to so­wie ei­ne An­we­sen­heits­zu­la­ge von € 36,33 brut­to ab, in der Lohn­ab­rech­nung be­zeich­net als "Anw.zu­la­ge Prod.".

Am 12.02.2015 un­ter­rich­te­te die Be­klag­te ih­re Be­leg­schaft auf­grund ver­schie­de­ner Nach­fra­gen noch­mals über die veränder­te Ab­rech­nungs­wei­se:

"…

am 16.01.2015 in­for­mier­ten wir Sie über die durch den Min­dest­lohn veränder­te Ab­rech­nungs­wei­se Ih­res Ent­gel­tes. In den Lohn­grup­pen 2, 3 und 4 wird die An­we­sen­heits­prämie ab dem 01.01.2015 ent­fal­len. In der Lohn­grup­pe 5 er­folgt ei­ne an­tei­li­ge Be­rech­nung.
In den wei­te­ren Lohn­grup­pen 6-12 wird ein wei­te­rer Teil der An­we­sen­heits­prämie auf den Grund­lohn um­ge­legt.

Da hin­sicht­lich der an­gekündig­ten Vor­ge­hens­wei­se Fra­gen an die Kol­le­gin­nen her­an­ge­tra­gen wur­den, möch­ten wir mit der un­ten ste­hen­den Erläute­rung die Fra­gen be­ant­wor­ten:

Bezüglich der An­re­chen­bar­keit von Zu­la­gen auf den Min­dest­lohn exis­tie­ren ne­ben Ausführungs­hin­wei­sen be­reits meh­re­re Ent­schei­dun­gen des Eu­ropäischen Ge­richts­ho­fes (Ent­schei­dung vom 14. April 2005 (C-314/02) und vom 7. No­vem­ber 2013 (C-522/12)).

Zu­sam­men­fas­send ist hier­aus zu ent­neh­men:

Wer­den mit Zu­la­gen zusätz­lich zur Nor­mal­leis­tung er­brach­te Leis­tun­gen des Ar­beit­neh­mers vergütet, sind die Zu­la­gen nicht an­re­chen­bar. Hier­un­ter fal­len bei­spiels­wei­se Leis­tungs- und Qua­litätsprämi­en.

An­ders verhält es sich mit Zu­la­gen, wel­che auf die Ab­gel­tung der Nor­mal­leis­tung des Ar­beit­neh­mers ab­stel­len. Hier­un­ter fällt bei­spiels­wei­se die An­we­sen­heits­prämie, da hier le­dig­lich die An­we­sen­heit des Ar­beit­neh­mers vergütet wird. Die An­we­sen­heits­prämie ist so­mit auf die Be­rech­nung des Min­dest­loh­nes an­re­chen­bar.
Dies wur­de für die Lohn­grup­pen 2, 3 und 4 in vol­ler Höhe, und für die Lohn­grup­pe 5 an­tei­lig durch­geführt. Da­her ist die An­we­sen­heits­prämie nicht ent­fal­len, son­dern bei der Be­rech­nung des Min­dest­loh­nes an­ge­rech­net wor­den.

…"

Für Fe­bru­ar 2015 rech­ne­te die Be­klag­te beim Kläger ei­nen Mo­nats­lohn von 173 St­un­den à € 8,50 = € 1.470,50 brut­to so­wie ei­ne An­we­sen­heits­prämie von € 36,33 brut­to ab.

Der Kläger for­der­te dar­auf­hin die Be­klag­te schrift­lich auf, ihm für Ja­nu­ar und Fe­bru­ar 2015 ei­ne An­we­sen­heits­prämie von 5 % auf den ab­ge­rech­ne­ten Brut­to­lohn zu zah­len und die Dif­fe­renz in Höhe von je­weils € 37,20 brut­to nach­zu­entrich­ten.


Der Kläger hat erst­in­stanz­lich die An­sicht ver­tre­ten, die ta­rif­ver­trag­li­che An­we­sen­heits­prämie in Höhe von 5 % sei auf den ab Ja­nu­ar 2015 gel­ten­den Min­dest­lohn von € 8,50 brut­to zu be­rech­nen. Die Be­klag­te könne ei­ne ta­rif­ver­trag­li­che Leis­tung nicht ein­sei­tig ver­rin­gern.

Der Kläger hat be­an­tragt,

1. die Be­klag­te zu ver­ur­tei­len, an ihn als wei­te­res Ent­gelt für den Mo­nat Ja­nu­ar 2015 € 37,20 brut­to nebst 5 % Zin­sen über dem Ba­sis­zins­satz seit dem 01.02.2015 zu zah­len, und
2. die Be­klag­te zu ver­ur­tei­len, an ihn als wei­te­res Ent­gelt für den Mo­nat Fe­bru­ar 2015 € 37,20 brut­to nebst 5 % Zin­sen über dem Ba­sis­zins­satz seit dem 01.03.2015 zu zah­len.

Die Be­klag­te hat be­an­tragt, die Kla­ge ab­zu­wei­sen. Sie hat die Auf­fas­sung ver­tre­ten, die An­we­sen­heits­prämie sei auf den ge­setz­li­chen Min­dest­lohn an­zu­rech­nen. Zwi­schen der An­we­sen­heits­prämie und dem Min­dest­lohn be­ste­he ei­ne funk­tio­na­le Gleich­wer­tig­keit, da die An­we­sen­heits­prämie eben­falls die ver­trag­li­che Re­gel­leis­tung ab­gel­ten sol­le, nämlich das Er­schei­nen zur Ar­beits­auf­nah­me. Schon gar nicht könne die An­we­sen­heits­prämie pro­zen­tu­al auf der Grund­la­ge des ge­setz­li­chen Min­dest­lohns be­rech­net wer­den. Maßgeb­lich sei al­lein die Lohn­ta­bel­le des LTV.


Das Ar­beits­ge­richt hat die Kla­ge ab­ge­wie­sen und die Be­ru­fung zu­ge­las­sen. Zur Be­gründung hat es un­ter Be­zug­nah­me auf die Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts aus­geführt, dass die An­we­sen­heits­prämie auf den Min­dest­lohn­an­spruch an­ge­rech­net wer­den könne. Die­ser Lohn­be­stand­teil ho­no­rie­re kei­ne be­son­de­ren in­di­vi­du­el­len Leis­tun­gen und kei­ne er­schwer­ten Ar­beits­be­din­gun­gen, son­dern gel­te eben­so wie der Min­dest­lohn die Nor­maltätig­keit ab. Die Be­gren­zung von Fehl­zei­ten ste­he nicht im Vor­der­grund.


Mit sei­ner form- und frist­ge­recht ein­ge­leg­ten Be­ru­fung ver­folgt der Kläger sein Zah­lungs­be­geh­ren wei­ter, wo­bei er nun­mehr sei­ner Be­rech­nung den in der Ta­bel­le des LTV aus­ge­wie­se­nen Be­trag von € 0,37 brut­to je St­un­de zu­grun­de legt. Das Ar­beits­ge­richt ha­be zu Un­recht ei­ne An­rech­nung der An­we­sen­heits­prämie auf den Min­dest­lohn­an­spruch zu­ge­las­sen. Die An­we­sen­heits­prämie be­ru­he auf ei­ner in­di­vi­du­el­len Leis­tung des Ar­beit­neh­mers in Form der Ver­mei­dung von Krank­heits­ta­gen. Des­halb feh­le es an ei­ner funk­tio­na­len Gleich­wer­tig­keit.

Der Kläger be­an­tragt,

das Ur­teil des Ar­beits­ge­richts Stral­sund vom 07.10.2015 - 3 Ca 149/15 - ab­zuändern und

1. die Be­klag­te zu ver­ur­tei­len, an ihn als wei­te­res Ent­gelt für den Mo­nat Ja­nu­ar 2015 € 30,64 brut­to nebst 5 % Zin­sen über dem Ba­sis­zins­satz der EZB seit dem 01.02.2015 zu zah­len, und
2. die Be­klag­te zu ver­ur­tei­len, an ihn als wei­te­res Ent­gelt für den Mo­nat Fe­bru­ar 2015 € 27,68 brut­to nebst 5 % Zin­sen über dem Ba­sis­zins­satz seit dem 01.03.2015 zu zah­len.

Die Be­klag­te be­an­tragt,

die Be­ru­fung zurück­zu­wei­sen.
Sie ver­tei­digt die erst­in­stanz­li­che Ent­schei­dung. Das Ar­beits­ge­richt sei zu Recht von ei­ner funk­tio­na­len Gleich­wer­tig­keit von An­we­sen­heits­prämie und Min­dest­lohn aus­ge­gan­gen. Mit der An­we­sen­heits­prämie wer­de nicht die Ar­beits­unfähig­keit be­straft, son­dern die tatsächlich ge­leis­te­te Ar­beit ent­lohnt. Grundsätz­lich sei­en al­le Vergütungs­zah­lun­gen auf den Min­dest­lohn­an­spruch an­re­chen­bar. Et­was an­de­res gel­te nur dann, wenn ei­ne Zah­lung ei­nen be­son­de­ren Zweck ha­be, der ei­ne An­rech­nung ver­bie­te, wie es z. B. bei dem Nacht­zu­schlag (§ 6 Abs. 5 Arb­ZG) der Fall sei. Im Übri­gen sei die An­we­sen­heits­prämie nur auf die re­gelmäßige Ar­beits­zeit von 40 Wo­chen­stun­den zu gewähren.


We­gen der wei­te­ren Ein­zel­hei­ten des Sach- und Streit­stan­des wird auf die Schriftsätze der Par­tei­en nebst An­la­gen, die Sit­zungs­pro­to­kol­le so­wie das an­ge­grif­fe­ne ar­beits­ge­richt­li­che Ur­teil ver­wie­sen.


Ent­schei­dungs­gründe


Die Be­ru­fung des Klägers ist zulässig, aber nur zum Teil be­gründet. Das Ar­beits­ge­richt hat die Kla­ge mit Aus­nah­me ei­nes ge­ringfügi­gen Be­tra­ges zu Recht ab­ge­wie­sen. Das Be­ru­fungs­ge­richt schließt sich den zu­tref­fen­den Ausführun­gen des Ar­beits­ge­richts an.

Der Kläger hat aus dem LTV noch ei­nen An­spruch auf ei­ne An­we­sen­heits­prämie für Ja­nu­ar 2015 in Höhe von € 1,68 brut­to; im Übri­gen sind die Ansprüche für Ja­nu­ar und Fe­bru­ar 2015 erfüllt. Aus § 1 Mi­LoG er­gibt sich kein wei­ter­ge­hen­der An­spruch.

1. Ta­rif­ver­trag­li­che Ansprüche

Nach § 5 LTV be­trug die An­we­sen­heits­prämie im Zeit­raum Ja­nu­ar bis ein­sch­ließlich Ju­ni 2015 in der Lohn­grup­pe 5 € 0,37 je St­un­de. Da die Be­klag­te für Ja­nu­ar 2015 ins­ge­samt 181 pro­duk­ti­ve St­un­den ab­ge­rech­net hat, er­gibt sich ei­ne An­we­sen­heits­prämie von € 66,97 brut­to. Im Mo­nat Fe­bru­ar 2015 beträgt die An­we­sen­heits­prämie bei 173 St­un­den € 64,01 brut­to.

a) Die An­we­sen­heits­prämie für Ja­nu­ar 2015 ist auf 181 St­un­den zu zah­len; sie ist nicht auf ei­ne re­gelmäßige Ar­beits­zeit von 40 St­un­den be­grenzt.

Die Aus­le­gung des nor­ma­ti­ven Teils ei­nes Ta­rif­ver­trags folgt den für die Aus­le­gung von Ge­set­zen gel­ten­den Re­geln. Da­nach ist zunächst vom Ta­rif­wort­laut aus­zu­ge­hen, wo­bei der maßgeb­li­che Sinn der Erklärung zu er­for­schen ist, oh­ne am Buch­sta­ben zu haf­ten. Bei nicht ein­deu­ti­gem Ta­rif­wort­laut ist der wirk­li­che Wil­le der Ta­rif­ver­trags­par­tei­en mit zu berück­sich­ti­gen, so­weit er in den ta­rif­li­chen Nor­men sei­nen Nie­der­schlag ge­fun­den hat. Ab­zu­stel­len ist fer­ner auf den ta­rif­li­chen Ge­samt­zu­sam­men­hang, weil die­ser An­halts­punk­te für den wirk­li­chen Wil­len der Ta­rif­ver­trags­par­tei­en lie­fern und nur so Sinn und Zweck der Ta­rif­norm zu­tref­fend er­mit­telt wer­den kann. Lässt dies zwei­fels­freie Aus­le­gungs­er­geb­nis­se nicht zu, können die Ge­rich­te für Ar­beits­sa­chen oh­ne Bin­dung an die Rei­hen­fol­ge wei­te­re Kri­te­ri­en wie die Ent­ste­hungs­ge­schich­te des Ta­rif­ver­trags, ge­ge­be­nen­falls auch die prak­ti­sche Ta­rifübung, ergänzend her­an­zie­hen. Auch die Prak­ti­ka­bi­lität denk­ba­rer Aus­le­gungs­er­geb­nis­se gilt es zu berück­sich­ti­gen; im Zwei­fel gebührt der­je­ni­gen Ta­rif­aus­le­gung der Vor­zug, die zu ei­ner vernünf­ti­gen, sach­ge­rech­ten, zweck­ori­en­tier­ten und prak­tisch brauch­ba­ren Re­ge­lung führt (st. Rspr., vgl. et­wa BAG, Ur­teil vom 29. Ju­ni 2016 - 5 AZR 696/15 - Rn. 19, ju­ris; BAG, Ur­teil vom 13. Ja­nu­ar 2016 - 10 AZR 42/15 - Rn. 15, ju­ris = NZA-RR 2016, 309).

Ei­ne Be­gren­zung der An­we­sen­heits­prämie auf ei­ne re­gelmäßige Ar­beits­zeit von 40 St­un­den lässt sich dem LTV nicht ent­neh­men. Der Wort­laut ist ein­deu­tig. Nach § 5 LTV be­rech­net sich die An­we­sen­heits­prämie nach den ge­leis­te­ten St­un­den. Ei­ne Kap­pungs­gren­ze bei 40 Wo­chen­stun­den ist nicht vor­ge­se­hen. Der LTV nimmt an kei­ner Stel­le auf die re­gelmäßige Ar­beits­zeit des Man­tel­ta­rif­ver­tra­ges Be­zug. Die Erläute­run­gen un­ter § 5 Nr. 1 und Nr. 2 LTV ent­hal­ten eben­falls kei­nen Hin­weis auf ei­ne Be­gren­zung des An­spruchs bei ei­ner be­stimm­ten Ar­beits­zeit. Sch­ließlich ge­bie­tet auch der Sinn und Zweck ei­ner An­we­sen­heits­prämie nicht, den An­spruch nur auf die re­gelmäßige Ar­beits­zeit zu gewähren. Das In­ter­es­se des Ar­beit­ge­bers, Fehl­zei­ten ge­ring zu hal­ten, entfällt nicht zwangsläufig, nach­dem die re­gelmäßige Ar­beits­zeit er­reicht ist.

b) Der An­spruch des Klägers aus § 5 LTV auf Zah­lung der An­we­sen­heits­prämie für Ja­nu­ar 2015 ist mit Aus­nah­me ei­ner Dif­fe­renz von € 1,68 brut­to erfüllt. Der An­spruch für Fe-bru­ar 2015 ist vollständig erfüllt.

Nach § 362 Abs. 1 BGB er­lischt das Schuld­verhält­nis, wenn die ge­schul­de­te Leis­tung an den Gläubi­ger be­wirkt wird. Be­ste­hen meh­re­re Schuld­verhält­nis­se, kommt es auf die Til­gungs­be­stim­mung des Schuld­ners an (§ 366 Abs. 1 BGB).

Die Be­klag­te hat die ge­schul­de­te An­we­sen­heits­prämie auf zwei Po­si­tio­nen der Lohn­ab­rech­nung auf­ge­teilt. Den ei­nen Teil hat sie un­ter der Be­zeich­nung "Anw.zu­la­ge Prod." an den Kläger ge­zahlt, den an­de­ren Teil als Be­stand­teil des Mo­nats­lohns. Auf­grund der Be­leg­schafts­in­for­ma­tio­nen im Ja­nu­ar und im Fe­bru­ar 2015 war dem Kläger be­kannt, dass die Po­si­ti­on Mo­nats­lohn in der für ihn maßgeb­li­chen Lohn­grup­pe 5 nicht nur den Grund­lohn um­fasst, son­dern auch ei­nen Teil der An­we­sen­heits­prämie enthält. Der Teil des Mo­nats­lohns, der den ta­rif­ver­trag­li­chen St­un­den­lohn über­steigt, dien­te er­kenn­bar der Erfüllung des An­spruchs auf die An­we­sen­heits­prämie. Da der St­un­den­lohn in der Lohn­grup­pe 5 € 8,34 brut­to be­trug, die Be­klag­te je­doch tatsächlich ei­nen St­un­den­lohn von € 8,50 brut­to ge­zahlt hat, ver­bleibt ein Be­trag von € 0,16 brut­to je St­un­de, der auf die An­we­sen­heits­prämie an­zu­rech­nen ist.

Die An­we­sen­heits­prämie des Klägers für Ja­nu­ar 2015 be­trug € 66,97 brut­to. Da­von ist zum ei­nen der ge­zahl­te Be­trag von € 36,33 brut­to ab­zu­zie­hen und zum an­de­ren der über­schießen­de Teil aus dem Mo­nats­lohn, d. h. € 28,96 brut­to, was ei­nen Rest von € 1,68 brut­to er­gibt.

Die An­we­sen­heits­prämie des Klägers für Fe­bru­ar 2015 be­lief sich auf € 64,01 brut­to. Da­von ist zunächst wie­der­um der ge­zahl­te Be­trag von € 36,33 brut­to ab­zu­zie­hen und zum an­de­ren der über­schießen­de Teil aus dem Mo­nats­lohn, d. h. € 27,68 brut­to, wo­mit der An­spruch vollständig be­gli­chen ist.

2. Ge­setz­li­che Ansprüche

Nach § 1 Abs. 1 Mi­LoG hat je­der Ar­beit­neh­mer An­spruch auf Zah­lung ei­nes Ar­beits­ent­gelts min­des­tens in Höhe des Min­dest­lohns durch den Ar­beit­ge­ber. Die Höhe des Min­dest­lohns beträgt ab dem 01.01.2015 € 8,50 brut­to je Zeit­stun­de (§ 1 Abs. 2 Satz 1 Mi­LoG).

Die Be­klag­te hat den Min­dest­lohn­an­spruch des Klägers in den Mo­na­ten Ja­nu­ar und Fe­bru­ar 2015 vollständig erfüllt. Da­bei ist es unschädlich, dass sie ei­nen Teil der An­we­sen­heits­prämie auf den Min­dest­lohn ver­wandt hat.

Der Min­dest­lohn­an­spruch aus § 1 Abs. 1 Mi­LoG ist ein ge­setz­li­cher An­spruch, der ei­genständig ne­ben den ar­beits- oder ta­rif­ver­trag­li­chen Ent­gelt­an­spruch tritt. Das Min­dest­l­ohn­ge­setz greift in die Ent­gelt­ver­ein­ba­run­gen der Ar­beits­ver­trags­par­tei­en und die an­wend­ba­rer Ent­gelt­ta­rif­verträge nur in­so­weit ein, als sie den An­spruch auf Min­dest­lohn un­ter­schrei­ten. § 3 Mi­LoG führt bei Un­ter­schrei­ten des ge­setz­li­chen Min­dest­lohns zu ei­nem Dif­fe­renz­an­spruch (BAG, Ur­teil vom 25. Mai 2016 - 5 AZR 135/16 - Rn. 22, ju­ris = ZIP 2016, 1940). Der Min­dest­lohn schützt Ar­beit­neh­mer vor un­an­ge­mes­sen nied­ri­gen Löhnen und trägt zu­gleich zur fi­nan­zi­el­len Sta­bi­lität der so­zia­len Si­che­rungs­sys­te­me bei (BT-Drucks. 18/1558 S. 2).

Den Min­dest­lohn­an­spruch erfüllen grundsätz­lich al­le Ent­gelt­zah­lun­gen des Ar­beit­ge­bers, die sich als Ge­gen­leis­tung für die er­brach­te Ar­beit dar­stel­len, es sei denn, dass der Ar­beit­ge­ber sie oh­ne Rück­sicht auf ei­ne tatsächli­che Ar­beits­leis­tung er­bringt oder dass sie auf ei­ner be­son­de­ren ge­setz­li­chen Zweck­be­stim­mung be­ru­hen, wie z. B. der Nacht­zu­schlag nach § 6 Abs. 5 Arb­ZG (BAG, Ur­teil vom 25. Mai 2016 - 5 AZR 135/16 - Rn. 32, ju­ris = ZIP 2016, 1940). Ob ei­ne Leis­tung auf den Min­dest­lohn­an­spruch an­zu­rech­nen ist, rich­tet sich nach ih­rem Zweck. Soll ei­ne Leis­tung, bei­spiels­wei­se ei­ne Zu­la­ge, ih­rem Zweck nach die­sel­be Ar­beits­leis­tung ent­gel­ten, die mit dem Min­dest­lohn zu vergüten ist, liegt ei­ne funk­tio­na­le Gleich­wer­tig­keit vor, die zur An­rech­nung führt (BT-Drucks. 18/1558, S. 67; BAG, Ur­teil vom 16. April 2014 - 4 AZR 802/11 - Rn. 39, ju­ris = NZA 2014, 1277; BAG, Ur­teil vom 18. April 2012 - 4 AZR 139/10 - Rn. 28, ju­ris = NZA 2013, 392; LAG Sach­sen, Ur­teil vom 24. Mai 2016 - 3 Sa 680/15 - Rn. 75, ju­ris = Ar­buR 2016, 378). Ei­ne An­rech­nung schei­det je­doch aus, wenn der Ent­gelt­be­stand­teil nicht im Ge­gen­sei­tig­keits­verhält­nis zur Ar­beits­leis­tung steht, son­dern ei­ne an­de­re Funk­ti­on als der Min­dest­lohn hat. Das gilt bei­spiels­wei­se für vermögens­wirk­sa­me Leis­tun­gen, die nicht da­zu be­stimmt sind, den lau­fen­den Le­bens­un­ter­halt zu be­strei­ten (BAG, Ur­teil vom 16. April 2014 - 4 AZR 802/11 - Rn. 61, ju­ris = NZA 2014, 1277; LAG Hamm, Ur­teil vom 22. April 2016 - 16 Sa 1627/15 - Rn. 48, ju­ris).

Zunächst ist es er­for­der­lich, die Funk­ti­on der Leis­tung zu be­stim­men. So­dann kommt es dar­auf an, ob die Leis­tung, die sich aus dem Ar­beits­ver­trag, ei­nem Ta­rif­ver­trag oder aus dem Ge­setz er­ge­ben kann, ih­rem er­kenn­ba­ren Zweck nach zusätz­lich zum Min­dest­lohn zu zah­len ist.

Ei­ne An­we­sen­heits­prämie soll Ar­beit­neh­mer an­hal­ten, Fehl­zei­ten so­weit wie möglich zu ver­rin­gern, um die da­mit ver­bun­de­nen be­trieb­li­chen Ab­laufstörun­gen zu mi­ni­mie­ren (BAG, Ur­teil vom 21. Ja­nu­ar 2009 - 10 AZR 216/08 - Rn. 36, ju­ris = AP Nr. 283 zu § 611 BGB Gra­ti­fi­ka­ti­on; LAG Meck­len­burg-Vor­pom­mern, Ur­teil vom 14. Sep­tem­ber 2010 - 5 Sa 19/10 - Rn. 47, ju­ris). An­we­sen­heits­prämi­en sind re­gelmäßig Son­der­vergütun­gen im Sin­ne des § 4a EFZG. Un­er­heb­lich ist da­bei, ob die Prämie - po­si­tiv for­mu­liert - an die Ta­ge der An­we­sen­heit an­knüpft, oder - ne­ga­tiv for­mu­liert - Kürzun­gen bei Fehl­ta­gen vor­sieht (BAG, Ur­teil vom 25. Ju­li 2001 - 10 AZR 502/00 - Rn. 15 ff., ju­ris = MDR 2002, 159).

Die An­we­sen­heits­prämie im LTV ist al­lein da­von abhängig, dass der Ar­beit­neh­mer sei­ne Ar­beits­leis­tung er­bringt. Sie ist ei­ne Zu­la­ge zum St­un­den­lohn, die bei krank­heits­be­ding­ten Fehl­zei­ten entfällt (§ 5 Nr. 1 Satz 2 LTV). Die An­we­sen­heits­prämie ho­no­riert die tatsächli­che Er­brin­gung der Ar­beits­leis­tung. Sie ist eben­so wie der St­un­den­lohn ei­ne un­mit­tel­ba­re Ge­gen­leis­tung für die ge­leis­te­te Ar­beit. Der Ar­beit­neh­mer erhält die­se Zu­la­ge, weil er tatsächlich am Ar­beits­platz tätig ge­wor­den ist. Die Zu­la­ge wird für die nor­ma­le Ar­beits­leis­tung gewährt; sie hängt nicht von be­son­de­ren Be­las­tun­gen am Ar­beits­platz oder be­son­ders be­las­ten­den Ar­beits­zei­ten ab. Die An­we­sen­heits­prämie ist ein Be­stand­teil des Ar­beits­ent­gelts, der ge­ra­de des­halb ge­zahlt wird, weil die ver­ein­bar­te Ar­beits­leis­tung auch tatsächlich er­bracht wird.

Die An­we­sen­heits­prämie hat kei­nen an­de­ren Zweck als die Ent­loh­nung der Tätig­keit. Sie ho­no­riert kei­ne Son­der­leis­tung des Ar­beit­neh­mers. Die Ver­mei­dung von Fehl­zei­ten durch den Ar­beit­neh­mer ist kei­ne ei­genständi­ge Leis­tung, die ne­ben der herkömmli­chen Ar­beits­leis­tung er­bracht wird. Die An­we­sen­heits­prämie dient al­lein da­zu, die tatsächli­che Er­brin­gung der Ar­beits­leis­tung zu fördern. Sie ho­no­riert nichts an­de­res als die tatsächlich ge­leis­te­te Ar­beit. Zwar mag die ta­rif­ver­trag­li­che An­we­sen­heits­prämie durch ei­ne An­rech­nung auf den Min­dest­lohn­an­spruch an Wirk­sam­keit ver­lie­ren. Dar­auf kommt es aber nicht an, da es den Ta­rif­ver­trags­par­tei­en im Rah­men ih­rer Ta­rif­au­to­no­mie frei­steht, ob und wie sie auf Verände­run­gen der ge­setz­li­chen Rah­men­be­din­gun­gen re­agie­ren.

Die Funk­ti­on des Min­dest­lohns ge­bie­tet es nicht, die An­we­sen­heits­prämie zusätz­lich zu die­sem zah­len. Der Min­dest­lohn soll nach dem Wil­len des Ge­setz­ge­bers ab­si­chern, dass der Ar­beit­neh­mer ei­ne an­ge­mes­se­ne Ge­gen­leis­tung für die er­brach­te Ar­beit erhält. Da­mit ist zu­gleich ein be­stimm­ter Min­dest­wert der Ar­beits­leis­tung fest­ge­legt. Die­ser Min­dest­wert wird durch die An­we­sen­heit am Ar­beits­platz nicht erhöht. Das Tätig­wer­den am Ar­beits­platz ist kein wert­erhöhen­der Fak­tor, der ei­ne zusätz­li­che Vergütung über den Min­dest­lohn hin­aus recht­fer­ti­gen und for­dern könn­te. Die An­we­sen­heit am Ar­beits­platz ist mit dem Min­dest­lohn ab­ge­gol­ten. Der Ge­setz­ge­ber sieht den Min­dest­lohn grundsätz­lich als an­ge­mes­se­ne Ge­gen­leis­tung für die er­brach­te Ar­beit an. Die An­we­sen­heit am Ar­beits­platz verändert nicht das Verhält­nis von Leis­tung und Ge­gen­leis­tung, wie es bei­spiels­wei­se bei Ar­beit in der Nacht­zeit der Fall ist, für die nach § 6 Abs. 5 Arb­ZG ein an­ge­mes­se­ner Aus­gleich zu gewähren ist.


Die Kos­ten­ent­schei­dung er­gibt sich aus § 92 Abs. 2 Nr. 1, § 97 Abs. 1 ZPO. Die Re­vi­si­on wird im Hin­blick auf die grundsätz­li­che Be­deu­tung der ent­schei­dungs­er­heb­li­chen Rechts­fra­ge zu­ge­las­sen.

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