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LSG Bay­ern, Ur­teil vom 13.08.2013, L 3 U 262/12

   
Schlagworte: HIV-Infektion, Berufskrankheit
   
Gericht: Landessozialgericht Bayern
Aktenzeichen: L 3 U 262/12
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 13.08.2013
   
Leitsätze:
Vorinstanzen:
   

 

Baye­ri­sches Lan­des­so­zi­al­ge­richt

Ur­teil vom 13.08.2013 (nicht rechts­kräftig)

 

So­zi­al­ge­richt München S 9 U 713/09

Baye­ri­sches Lan­des­so­zi­al­ge­richt L 3 U 262/12

 

I. Die Be­ru­fung der Be­klag­ten ge­gen das Ur­teil des So­zi­al­ge­richts München vom 12.03.2012 wird zurück­ge­wie­sen.

II. Die Be­klag­te hat der Kläge­rin auch die außer­ge­richt­li­chen Kos­ten der Be­ru­fung zu er­stat­ten.

III. Die Re­vi­si­on wird nicht zu­ge­las­sen.


Tat­be­stand:

Strei­tig ist die Fest­stel­lung der HIV-In­fek­ti­on als Be­rufs­krank­heit (BK) Nr. 3101.

Die 1966 ge­bo­re­ne Kläge­rin ab­sol­vier­te im Rah­men ih­rer eh­ren­amt­li­chen Tätig­keit bei der J. von En­de Ju­li 1982 bis Mit­te Au­gust 1982 ein Prak­ti­kum in der Pri­vat­kli­nik Dr. S. (Chir­ur­gie, Or­thopädie, In­ne­re Me­di­zin u.a.) in B-Stadt. Während die­ser Prak­ti­kan­tentätig­keit er­litt sie mehr­mals Schnitt- bzw. Stich­ver­let­zun­gen an ge­brauch­ten Kanülen bzw. Skal­pel­len. Nach ih­ren An­ga­ben hat­te sie sich da­bei auch nach der Blut­ent­nah­me bei ei­nem Pa­ti­en­ten, nach­dem sie ge­stol­pert war, ver­se­hent­lich mit ei­ner mit Blut (ca. 0,5 ml) gefüll­ten Sprit­ze ge­sto­chen. Im nach­fol­gen­den vierwöchi­gen Fa­mi­li­en­ur­laub in Spa­ni­en tra­ten grip­peähn­li­che Sym­pto­me (Durch­fall, Fie­ber, Übel­keit) und Hau­t­er­schei­nun­gen auf; die Kläge­rin war da­mals zwei Wo­chen bettläge­rig.

Sie leg­te 1984 die Mitt­le­re Rei­fe ab, durch­lief von 1980 bis 1988 die Aus­bil­dung zur Kin­der­kran­ken­schwes­ter und war an­sch­ließend in die­sem Be­ruf in ei­ner Kin­der­kli­nik tätig. Am 07.04.1987 und im No­vem­ber 1987 wur­de mit­tels ei­ner La­bor­un­ter­su­chung (ELISA) ei­ne HIV-In­fek­ti­on fest­ge­stellt. Die Kläge­rin wur­de mit dem Me­di­ka­ment Re­tro­vir be­han­delt. Sie in­for­mier­te die Be­klag­te anläss­lich ei­ner persönli­chen Vor­spra­che am 14.12.1988 über die­se Er­eig­nis­se.

In der gut­acht­li­chen Stel­lung­nah­me vom 28.01.1989 teil­te Pro­fes­sor Dr. G. (P.-In­sti­tut B-Stadt) der Be­klag­ten mit, das se­ro­lo­gi­sche An­ti-HIV-Mus­ter der Kläge­rin könne mit ei­ner In­fek­ti­on zum Zeit­punkt des Prak­ti­kums in Übe­rein­stim­mung ge­bracht wer­den; ein Na­del­stich sei we­der do­ku­men­tiert noch be­legt. Die Er­mitt­lun­gen an Hand der Kran­ken­un­ter­la­gen in der S.-Kli­nik wa­ren bezüglich der Iden­ti­fi­zie­rung ei­nes Pa­ti­en­ten mit HIV er­folg­los.

Bei ei­ner wei­te­ren persönli­chen Vor­spra­che am 13.06.1980 ver­wei­ger­te die Kläge­rin An­ga­ben zu ih­rem Ar­beit­ge­ber. Die Be­klag­te lehn­te dar­auf­hin mit dem bin­dend ge­wor­de­nen Be­scheid vom 21.03.1990 Leis­tun­gen aus An­lass der HIV-In­fek­ti­on we­gen man­geln­der Mit­wir­kung der Kläge­rin ab; sie ha­be An­ga­ben zu ih­ren frühe­ren Beschäfti­gungs­verhält­nis­sen bzw. Be­triebs­prak­ti­ka ver­wei­gert.

An­fang 2007 nahm der Kläger­be­vollmäch­tig­te das Ver­wal­tungs­ver­fah­ren wie­der auf. Nach Er­in­ne­rung der Kläge­rin ha­be sie sich nach der Blut­ent­nah­me bei ei­nem Pa­ti­en­ten mit dem Na­men K., der Ste­ward bei ei­ner ame­ri­ka­ni­schen Flug­ge­sell­schaft ge­we­sen sei, ver­se­hent­lich mit der Sprit­ze (in den Dau­men) ge­sto­chen. Da­mals ha­be es kei­ne Ver­hal­tens­re­geln für ei­nen Sprit­zen­un­fall in der Kli­nik ge­ge­ben und ein HIV-Test sei noch nicht be­kannt ge­we­sen.

Die von der Be­klag­ten gehörte Re­gie­rung von Ober­bay­ern (Ge­wer­be­auf­sichts­amt) ver­trat in der Stel­lung­nah­me vom 02.06.2009 (In­ter­nist Dr. W.) die Auf­fas­sung, dass bei der Ver­wen­dung der Sprit­ze wahr­schein­lich die für ei­ne In­fek­ti­on er­for­der­li­che Min­dest­men­ge von 1,0 µl in­fi­zier­ten Blu­tes nicht er­reicht wor­den sei. Al­le An­ga­ben der Kläge­rin sei­en nicht be­wie­sen.

Die Be­klag­te lehn­te mit Be­scheid vom 25.06.2009 die An­er­ken­nung der HIV-In­fek­ti­on als Be­rufs­krank­heit nach Nr. 3101 der Be­rufs­krank­hei­ten-Lis­te so­wie ei­nen Leis­tungs­an­spruch ab; es sei nach der Stel­lung­nah­me der Re­gie­rung von Ober­bay­ern nicht nach­ge­wie­sen, dass sich die Kläge­rin durch ih­re be­ruf­li­che Tätig­keit in­fi­ziert ha­be.

Die Be­klag­te wies den da­ge­gen ein­ge­leg­ten Wi­der­spruch mit Wi­der­spruchs­be­scheid vom 23.09.2009 zurück. Für die Fest­stel­lung der Be­rufs­krank­heit sei der Nach­weis ei­nes ursächli­chen Zu­sam­men­hangs zwi­schen der Er­kran­kung und der be­ruf­li­chen Tätig­keit er­for­der­lich. Es sei im An­schluss an das Prak­ti­kum kein HIV-Test durch­geführt wor­den und es könne auch nicht nach­ge­wie­sen wer­den, dass der an­ge­ge­be­ne Pa­ti­ent tatsächlich mit HIV in­fi­ziert ge­we­sen sei.

Die Kläge­rin hat hier­ge­gen am 26.10.2009 beim So­zi­al­ge­richt München (SG) Kla­ge er­ho­ben. Sie macht gel­tend, sie ha­be sich am 12.08.1982 bei ei­nem Sprit­zen­un­fall nach der Blut­ent­nah­me bei dem Pa­ti­en­ten K. mit HIV-ver­seuch­tem Blut in­fi­ziert. Ei­ne an­de­re In­fek­ti­onsmöglich­keit schei­de aus. Sie ha­be im Zeit­raum von 1984 bis 1987 fünf Se­xu­al­part­ner ge­habt, die al­le ne­ga­tiv auf HIV ge­tes­tet wor­den sind. Vor 1984 ha­be sie kei­ne In­tim­kon­tak­te ge­habt. Die Be­klag­te ha­be es während des frühe­ren Ver­wal­tungs­ver­fah­rens versäumt, den Sach­ver­halt auf­zuklären.

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Das SG hat im Erörte­rungs­ter­min vom 26.08.2010 die Kläge­rin an­gehört, die ih­re An­ga­ben zu der Tätig­keit als Prak­ti­kan­tin in der S.-Kli­nik, den ers­ten Sym­pto­men nach der In­fek­ti­on, zu ih­rer be­ruf­li­chen Ent­wick­lung und den mit Pro­fes­sor Dr. G. er­folg­los ver­lau­fe­nen Ver­su­chen zur Aufklärung des Sach­ver­halts (Ein­sicht­nah­me in die Kran­ken­ak­ten der Kli­nik während des Prak­ti­kums) bestätigt hat. Das SG hat außer­dem die Mut­ter der Kläge­rin als Zeu­gin zu den Krank­heits­sym­pto­men während des Ur­laubs nach dem Prak­ti­kum gehört.

Das SG hat ein ärzt­li­ches Sach­verständi­gen­gut­ach­ten von Prof. Dr. C. (In­sti­tut für Vi­ro­lo­gie und Im­mun­bio­lo­gie der Uni­ver­sität C-Stadt) vom 15.11.2011 ein­ge­holt. Er kommt zu dem Er­geb­nis, dass bei der Kläge­rin ein si­gni­fi­kant erhöhtes Ri­si­ko von be­ruf­lich ex­po­nier­tem me­di­zi­ni­schen Per­so­nal im Ver­gleich zur weib­li­chen All­ge­mein­bevölke­rung be­stan­den ha­be, sich auch vor 1987 mit HIV in­fi­ziert zu ha­ben. Sie ha­be nicht zur Ri­si­ko­grup­pe der Ho­mo­se­xu­el­len und Dro­gensüch­ti­gen gehört. Vor 1987 ha­be ein lo­cke­rer Um­gang mit Schutz­maßnah­men ge­gen die In­fek­ti­on mit HIV ge­herrscht. Nach ei­ner Primärin­fek­ti­on kom­me es in mehr als in 50 % der Fälle zu ei­ner grip­peähn­li­chen Sym­pto­ma­tik und die Er­kran­kung Aids tre­te dann nach fünf bis zehn Jah­ren auf. Der Be­ginn der Er­kran­kung sei im April 1987 bzw. im Jahr 1989 an­zu­neh­men; die Min­de­rung der Er­werbsfähig­keit be­tra­ge 70 v. H.

Mit Ur­teil vom 12.03.2012 hat das SG fest­ge­stellt, dass die HIV-In­fek­ti­on der Kläge­rin ei­ne Be­rufs­krank­heit nach Nr. 3101 der An­la­ge 1 zur Be­rufs­krank­hei­ten-Ver­ord­nung ist. Die Kläge­rin sei als Prak­ti­kan­tin im Ge­sund­heits­we­sen tätig ge­we­sen und sei dort ei­ner be­son­de­ren In­fek­ti­ons­ge­fahr aus­ge­setzt ge­we­sen. Die In­fek­ti­on während des Prak­ti­kums sei auch nach­ge­wie­sen. Kurz nach Be­en­di­gung des Prak­ti­kums sei­en die ers­ten Sym­pto­me der Er­kran­kung auf­ge­tre­ten. Es sei auch be­legt, dass die ge­rin­ge Men­ge von mit HIV-ver­seuch­ten Blut aus der Sprit­ze zur In­fek­ti­on aus­ge­reicht ha­be. Wei­te­re In­fek­ti­ons­quel­len hätten nicht vor­ge­le­gen. Die An­ste­ckungs­ge­fahr bei he­te­ro­se­xu­el­len Kon­tak­ten sei ge­ringfügig.

Hier­ge­gen rich­tet sich die Be­ru­fung der Be­klag­ten vom 26.06.2012. Die Kläge­rin ha­be den Na­men des Pa­ti­en­ten, mit des­sen Blut sie sich in­fi­ziert ha­be, an­fangs nicht ge­nannt. Es sei auch des­sen HIV-In­fek­ti­on nicht nach­ge­wie­sen. Der Se­nat hat un­ter an­de­rem ei­ne Aus­kunft der B. E. und Be­fund­be­rich­te von Dr. J.-G., Dr. F. so­wie Pri­vat­do­zent Dr. S. (Kli­ni­kum der Uni­ver­sität B-Stadt) mit Ne­ben­be­fun­den bei­ge­zo­gen und ei­ne ergänzen­de gut­acht­li­che Stel­lung­nah­me des Sach­verständi­gen Pro­fes­sor Dr. C. vom 01.07.2013 ein­ge­holt. Der Sach­verständi­ge hat sei­ne frühe­ren Fest­stel­lun­gen bestätigt, dass die Kläge­rin bei dem Prak­ti­kum in der S.-Kli­nik ei­nem si­gni­fi­kant erhöhten In­fek­ti­ons­ri­si­ko aus­ge­setzt ge­we­sen sei. Im Rah­men die­ser Tätig­keit sei es zu ei­ner tie­fen Na­del­stich­ver­let­zung mit Über­tra­gung von Pa­ti­en­ten­blut ge­kom­men. Der Nach­weis ei­ner In­fek­ti­on mit HIV zum da­ma­li­gen Zeit­punkt (1982) sei nicht möglich ge­we­sen; ent­spre­chen­de Test­sys­te­me hätten in Deutsch­land erst seit 1985 zur Verfügung ge­stan­den. Die An­ga­ben der Kläge­rin zur Na­del­stich­ver­let­zung und den nach­fol­gen­den aku­ten re­tro­vi­ra­lem Syn­drom, der zeit­li­che Ab­lauf der HIV-In­fek­ti­on und die Ent­wick­lung der ers­ten Sym­pto­me im Frühjahr 1987 sei­en schlüssig und eher nach­zu­voll­zie­hen als ei­ne späte­re In­fek­ti­on mit deut­lich schnel­le­rem Ver­lauf.

Die Be­klag­te be­an­tragt,

das Ur­teil des SG auf­zu­he­ben und die Kla­ge ab­zu­wei­sen.

Die Kläge­rin be­an­tragt,

die Be­ru­fung der Be­klag­ten zurück­zu­wei­sen.

Bei­ge­zo­gen zum Ge­gen­stand der münd­li­chen Ver­hand­lung ge­macht wur­den die Ak­ten der Be­klag­ten und des SG. Auf den In­halt der bei­ge­zo­ge­nen Ak­ten und die Sit­zungs­nie­der­schrift wird im Übri­gen Be­zug ge­nom­men.

Ent­schei­dungs­gründe:

Die Be­ru­fung der Be­klag­ten ist zulässig (§§ 143, 1 Abs. 1 S. 2, 151 So­zi­al­ge­richts­ge­setz - SGG -).

Sie ist un­be­gründet. Das Ur­teil des SG ist nicht zu be­an­stan­den; denn es hat zu Recht bei der Kläge­rin die strei­ti­ge Be­rufs­krank­heit Nr. 3101 der An­la­ge 1 zur Be­rufs­krank­hei­ten-Ver­ord­nung (BKVO) vom 20.6.1968 (BGBl I S. 721) fest­ge­stellt.

Hier ent­schei­det das Ge­richt über ei­ne Fest­stel­lungs­kla­ge gemäß § 55 Abs. 1 SGG. Nach der ständi­gen Recht­spre­chung des Bun­des­so­zi­al­ge­richts (BSG) ist ei­ne Kla­ge auf Fest­stel­lung zulässig, dass ein Un­fall ein Ar­beits­un­fall ist; dies gilt auch für Be­rufs­krank­hei­ten ent­spre­chend. Ein An­trag, ei­nen Kläger we­gen der Fol­gen des Ar­beits­un­falls oder der Be­rufs­krank­heit dem Grun­de nach zu entschädi­gen, ist als An­trag auf Fest­stel­lung des Ar­beits­un­falls oder der Be­rufs­krank­heit aus­zu­le­gen (Kel­ler in Mey­er-La­de­wig La­de­wig/Kel­ler/Leit­he­rer, SGG, 10. Auf­la­ge, § 55, Rn. 13b m.w.N.).

Im vor­lie­gen­den Fall ist das frühe­re Recht der Reichs­ver­si­che­rungs­ord­nung (RVO) an­zu­wen­den, weil der Ver­si­che­rungs­fall vor dem In­kraft­tre­ten des So­zi­al­ge­setz­buchs VII (SGB VII) am 1.1.1997 ein­ge­tre­ten ist (§ 212 SGB VII; BSG vom 18.11.1997, Me­dR 1999, 45). Die Aus­nah­me­re­ge­lung des § 214 Abs. 3 SGB VII, wo­nach die Vor­schrif­ten über Ren­ten usw. auch für Ver­si­che­rungsfälle gel­ten, die vor dem Tag des In­kraft­tre­tens des Ge­set­zes

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ein­ge­tre­ten sind, wenn die­se Leis­tun­gen nach dem In­kraft­tre­ten die­ses Ge­set­zes erst­mals fest­zu­set­zen sind, greift hier nicht ein (Be­cker in Be­cker, Fran­ke, Mol­ken­tin, SGB VII, 3. Auf­la­ge, § 214, Rn. 5). Denn fest­zu­set­zen in die­sem Sin­ne sind Leis­tun­gen, wenn der An­spruch ent­stan­den ist (§ 40 Abs. 1 So­zi­al­ge­setz­buch I). Nach die­ser ge­setz­li­chen Re­ge­lung ist ein An­spruch ent­stan­den, so­bald die im Ge­setz oder auf­grund ei­nes Ge­set­zes be­stimm­ten Vor­aus­set­zun­gen vor­lie­gen. Der An­spruch ist mit dem vor dem 1.1.1997 ein­ge­tre­te­nen Ver­si­che­rungs­fall der In­fek­ti­on ent­stan­den.

Die Kläge­rin war während ih­rer Prak­ti­kan­tentätig­keit ge­setz­lich un­fall­ver­si­chert gemäß § 539 Abs. 1 Nr. 7 RVO. Da­nach sind in der Un­fall­ver­si­che­rung die im Ge­sund­heits- oder Ve­te­rinärwe­sen oder in der Wohl­fahrts­pfle­ge Täti­gen ge­setz­lich ver­si­chert. § 551 Abs. 1 RVO re­gelt, dass als Ar­beits­un­fall fer­ner ei­ne Be­rufs­krank­heit gilt. Be­rufs­krank­hei­ten sind die Krank­hei­ten, wel­che die Bun­des­re­gie­rung durch Rechts­ver­ord­nung mit Zu­stim­mung des Bun­des­rats be­zeich­net und die ein Ver­si­cher­ter bei ei­ner der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 ge­nann­ten Tätig­kei­ten er­lei­det. Die Bun­des­re­gie­rung ist ermäch­tigt, in der Rechts­ver­ord­nung sol­che Krank­hei­ten zu be­zeich­nen, die nach den Er­kennt­nis­sen der me­di­zi­ni­schen Wis­sen­schaft durch be­son­de­re Ein­wir­kun­gen ver­ur­sacht sind, de­nen be­stimm­te Per­so­nen­grup­pen durch ih­re Ar­beit in er­heb­lich höhe­rem Gra­de als die übri­ge Bevölke­rung aus­ge­setzt sind. Sie kann da­bei be­stim­men, dass die Krank­hei­ten nur dann Be­rufs­krank­hei­ten sind, wenn sie durch die Ar­beit in be­stimm­ten Un­ter­neh­men ver­ur­sacht wor­den sind. Zum da­ma­li­gen Zeit­punkt der Prak­ti­kan­tentätig­keit galt die Be­rufs­krank­hei­ten-Ver­ord­nung in der Fas­sung vom 8.12.1976 (BGBl I S. 3329), in des­sen An­la­ge 1 un­ter Nr. 3101 als Be­rufs­krank­heit In­fek­ti­ons­krank­hei­ten an­er­kannt sind, "wenn der Ver­si­cher­te im Ge­sund­heits­dienst, in der Wohl­fahrts­pfle­ge oder in ei­nem La­bo­ra­to­ri­um tätig oder durch ei­ne an­de­re Tätig­keit der In­fek­ti­ons­ge­fahr in ähn­li­chem Maße be­son­ders aus­ge­setzt war."

Nach der Recht­spre­chung des BSG sind § 539 Abs. 1 Nr. 7 RVO und Nr. 3101 An­la­ge 1 zur BKVO im Zu­sam­men­hang zu se­hen. Die Ein­be­zie­hung der in Nr. 7 ge­nann­ten Per­so­nen in den Kreis der Pflicht­ver­si­cher­ten wird mit dem erhöhten An­ste­ckungs­ri­si­ko bezüglich In­fek­ti­ons­krank­hei­ten beim Um­gang mit be­stimm­ten Bevölke­rungs­grup­pen ge­se­hen (BSG vom 25.8.1961, BS­GE 15, 41, 45; BSG vom 27.10.1961, BS­GE 15, 190,193). Die­ser der An­la­ge zur BKVO zu Grun­de lie­gen­de Ge­set­zes­zweck, der Grund für die Auf­nah­me der Kran­kenhäuser, Heil- und Pfle­ge­an­stal­ten usw. in den Ka­ta­log der gefähr­li­chen Be­triebs­ar­ten war, be­steht auch wei­ter­hin (Schle­gel in Schul­in, Hand­buch des So­zi­al­ver­si­che­rungs­rechts, Bd. 2, Un­fall­ver­si­che­rungs­recht, § 17, Rn. 2 f.). Aus­rei­chend ist hier­nach für die Entschädi­gung als Be­rufs­krank­heit der Nach­weis ei­ner In­fek­ti­ons­krank­heit und die (frühe­re) Tätig­keit in ei­nem Un­ter­neh­men des Ge­sund­heits­diens­tes oder der Wohl­fahrts­pfle­ge. Ein ursäch­li­cher Zu­sam­men­hang in der Ge­stalt, dass die In­fek­ti­ons­krank­heit ge­ra­de auf die­se Tätig­keit - und nicht z.B. auf ei­nen pri­va­ten Ur­laub in Über­see mit ho­her An­ste­ckungs­ge­fahr, z.B. bei Ty­phus - zurück­zuführen ist, muss nicht be­wie­sen wer­den. Die­ser Zu­sam­men­hang wird viel­mehr ver­mu­tet.

Auch wenn die Ver­let­zung mit ei­ner in­fi­zier­ten Sprit­ze im Rah­men ei­ner Heil­be­hand­lung im Kran­ken­haus ein geschütz­ter Ar­beits­un­fall ist, muss im vor­lie­gen­den Fall je­doch bezüglich der Tat­be­stands­vor­aus­set­zun­gen zwi­schen Ar­beits­un­fall und Be­rufs­krank­heit un­ter­schie­den wer­den. Die für das Be­rufs­krank­hei­ten­recht ty­pi­schen Schwie­rig­kei­ten im Fest­stel­lungs­ver­fah­ren be­ru­hen auf ei­ner Ent­ste­hungs­ur­sa­che, die sich vom klas­si­schen Ar­beits­un­fall mit sei­nem leicht er­kenn­ba­ren, plötz­li­chen, zeit­lich eng auf ei­ner Ar­beits­schicht be­grenz­ten Ge­sche­hen un­ter­schei­det. Bei Be­rufs­krank­hei­ten geht es über­wie­gend um oft lang­wie­ri­ge, allmähli­che Ent­wick­lungs­pro­zes­se von Er­kran­kun­gen und um vielfälti­ge Ent­ste­hungs­ur­sa­chen. Dies schließt aber nicht aus, dass auch bei ei­ner Be­rufs­krank­heit ei­ne un­fall­ar­ti­ge Ent­ste­hung, al­so ein ein­ma­li­ges Er­eig­nis zu Grun­de lie­gen kann. Es be­steht dann ei­ne An­spruchs­grund­la­gen­kon­kur­renz mit dem Vor­rang der Vor­schrif­ten über die Be­rufs­krank­hei­ten (Koch in Schul­in, a.a.O., § 35, Rn. 26; BSG vom 18.11.1997, a.a.O.; BSG vom 24.7.1985, SozR 5670 An­la­ge 1, Nr. 3102, Nr. 1).

Die Vor­aus­set­zun­gen der Nr. 3101 sind im vor­lie­gen­den Fall ge­ge­ben. Die Kläge­rin war als Prak­ti­kan­tin in ei­ner Kli­nik im Ge­sund­heits­dienst tätig. We­sent­li­cher In­halt des Be­griffs Ge­sund­heits­dienst ist der Dienst zum Schutz, zur Er­hal­tung, Förde­rung oder Wie­der­her­stel­lung der Ge­sund­heit gefähr­de­ter Men­schen oder zur Pfle­ge un­heil­bar Kran­ker oder Ge­brech­li­cher. Al­le Tätig­kei­ten im Rah­men der "ge­schlos­se­nen" Ge­sund­heitsfürsor­ge sind dar­un­ter zu ver­ste­hen, z.B. die Tätig­keit in Kran­kenhäusern, Heil- und Pfle­ge­an­stal­ten, wo­bei das ge­sam­te Per­so­nal in den Schutz­be­reich die­ser Re­ge­lung ein­be­zo­gen ist. Denn bei je­dem Beschäftig­ten ei­nes Kran­ken­hau­ses be­steht das erhöhte Ri­si­ko, sich an ei­ner In­fek­ti­ons­krank­heit an­zu­ste­cken (Merk­blatt zur BK-Nr. 3101 der An­la­ge zur Be­rufs­krank­hei­ten­ver­ord­nung, I. Vor­kom­men und Ge­fah­ren­quel­le; Scho­en­ber­ger, Mehr­tens, Va­len­tin, Ar­beits­un­fall und Be­rufs­krank­heit, 8. Auf­la­ge, S. 704).

Ein Ge­sund­heits­scha­den im Sin­ne ei­nes re­gel­wid­ri­gen Körper- oder Geis­tes­zu­stan­des ist hier­nach ei­ne Be­rufs­krank­heit, wenn sämt­li­che Tat­be­stands­merk­ma­le des § 551 Abs. 1 S. 2 RVO in Ver­bin­dung mit ei­ner in der An­la­ge 1 zu BKVO auf­geführ­ten Krank­heit erfüllt sind. Als re­gel­wid­rig wird ein Körper­zu­stand be­ur­teilt, der von der durch das Leit­bild des ge­sun­den Men­schen ge­prägten Norm ab­weicht. Ei­ne der­ar­ti­ge Er­kran­kung ist auch ei­ne HIV-In­fek­ti­on (Merk­blatt BK-Nr. 3101 der An­la­ge zur Be­rufs­krank­hei­ten­ver­ord­nung, III. Krank­heits­bil­der und Dia­gno­sen, Nr. 3. HIV-In­fek­ti­on/ Aids). Zu den Tat­be­stands­merk­ma­len können im All­ge­mei­nen auch ver­si­che­rungs­recht­li­che Be­grif­fe zählen, so vor al­lem das Ele­ment des Zwangs zur Tätig­keits­auf­ga­be. Die­se ist im vor­lie­gen­den Fall je­doch nicht er­for­der­lich.

Die Kläge­rin war auf­grund der Prak­ti­kan­tentätig­keit in der S.-Kli­nik ei­ner In­fek­ti­ons­ge­fahr in be­son­de­rem Maße aus­ge­setzt. Der Se­nat schließt sich der ständi­gen Recht­spre­chung des BSG an, die sich ins­be­son­de­re mit den Be­weis­an­for­de­run­gen bezüglich des ursächli­chen Zu­sam­men­hangs zwi­schen der Be­rufstätig­keit und des erhöhten An­ste­ckungs­ri­si­kos be­fasst hat (BSG vom 18.11.1997, a.a.O., BSG vom 21.3.2006, UV-Recht Ak­tu­ell 2006, 216 f.;

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BSG vom 2.4.2009, NZS 2010, 345 f.; BSG vom 2.04.2009, BS­GE 103, 45 ff.; BSG vom 2.04.2009, NZS 2010, 404 ff.; BSG vom 15.9.2011, NZS 2012, 151 f.). Die­ser Recht­spre­chung ist zu ent­neh­men, dass bei dem Nach­weis ei­ner erhöhten In­fek­ti­ons­ge­fahr durch ei­ne be­ruf­li­che Tätig­keit in ei­nem Kran­ken­haus und ei­ner In­fek­ti­ons­krank­heit ein ursäch­li­cher Zu­sam­men­hang zwi­schen der schädi­gen­den Ein­wir­kung und der ver­si­cher­ten Tätig­keit vor­liegt (sie­he auch BSG vom 30.5.1988 USK 8887). Die zu­min­dest er­for­der­li­che Wahr­schein­lich­keit ei­nes Kau­sal­zu­sam­men­hangs zwi­schen der ver­si­cher­ten Tätig­keit und ei­ner In­fek­ti­ons­krank­heit ist grundsätz­lich ge­ge­ben, wenn nach­ge­wie­sen ist, dass der Ver­si­cher­te bei der Be­rufstätig­keit - sei es durch ei­nen Pa­ti­en­ten, ei­nen Mit­ar­bei­ter oder auf sons­ti­ge Wei­se - ei­ner be­son­de­ren, über das nor­ma­le Maß hin­aus­ge­hen­den An­ste­ckungs­ge­fahr aus­ge­setzt war. Bei die­sem Nach­weis kann dann in der Re­gel auch da­von aus­ge­gan­gen wer­den, dass der Ver­si­cher­te sich die bei ihm auf­ge­tre­te­ne In­fek­ti­ons­krank­heit durch die be­son­de­re be­ruf­li­che Ex­po­si­ti­on zu­ge­zo­gen hat. Im Ge­gen­satz da­zu ist ei­ne frei­wil­li­ge se­xu­el­le Betäti­gung stets un­ver­si­chert. Der Schluss von ei­ner be­rufs­be­dingt erhöhten An­ste­ckungs­ge­fahr auf ei­ne be­ruf­li­che Ur­sa­che der auf­ge­tre­te­ne Sucht­krank­heit ist so­mit ge­recht­fer­tigt, wenn ne­ben der Gefähr­dung durch die ver­si­cher­te Tätig­keit kei­ne an­de­ren, den pri­va­ten Le­bens­be­reich zu­zu­ord­nen­den In­fek­ti­ons­ri­si­ken be­stan­den ha­ben. Kom­men so­wohl be­ruf­li­che als auch außer­be­ruf­li­che Ver­rich­tun­gen als An­ste­ckungs­quel­le in Be­tracht, von de­nen aber nur ei­ne al­lein die Krank­heit aus­gelöst ha­ben kann, muss ent­schie­den wer­den, ob sich mit hin­rei­chen­der Wahr­schein­lich­keit ei­ne der un­ter Ver­si­che­rungs­schutz be­ste­hen­den Hand­lun­gen als Krank­heits­ur­sa­che iden­ti­fi­zie­ren lässt. Hier­bei kommt es auf ei­ne Ge­samtwürdi­gung der bei­den Ri­si­ko­be­rei­che an.

Der Ver­ord­nungs­ge­ber nimmt so­mit ty­pi­sie­rend bei ei­ner be­son­de­ren In­fek­ti­ons­ge­fahr im Sin­ne der BK 3101 an, dass bei Vor­lie­gen der In­fek­ti­ons­krank­heit die haf­tungs­be­gründen­de Kau­sa­lität grundsätz­lich ge­ge­ben ist. In die­sem Fall tritt auf­grund der Nach­weis­schwie­rig­keit ei­nes kon­kre­ten In­fek­ti­ons­vor­gangs die In­fek­ti­ons­ge­fahr an die Stel­le der Ein­wir­kun­gen, die ent­spre­chend den An­for­de­run­gen an das Merk­mal der Ein­wir­kun­gen im Voll­be­weis nach­zu­wei­sen ist. Die­se be­son­de­re Ge­fah­ren­ex­po­si­ti­on kann sich auf­grund der Durch­seu­chung des Um­felds der Tätig­keit, nämlich des Per­so­nen­krei­ses oder der Ob­jek­te, mit oder an de­nen zu ar­bei­ten ist, und der Über­tra­gungs­ge­fahr der aus­geübten Ver­rich­tun­gen er­ge­ben, die sich nach dem Über­tra­gungs­mo­dus der je­wei­li­gen In­fek­ti­ons­krank­heit und nach der Art, der Häufig­keit und der Dau­er der vom Ver­si­cher­ten ver­rich­te­ten gefähr­li­chen Hand­lun­gen be­stimmt. Da­bei genügt nicht ei­ne schlich­te In­fek­ti­ons­ge­fahr, viel­mehr setzt die BK 3101 ei­ne erhöhte In­fek­ti­ons­ge­fahr vor­aus (BSG vom 2.4.2009, a.a.O.).

Hat ein Ver­si­cher­ter während der in Be­tracht kom­men­den An­ste­ckungs­zeit ei­nen po­ten­ti­ell ge­eig­ne­ten Kon­takt zu ei­ner nach­weis­li­chen In­fek­ti­ons­quel­le (Per­so­nen mit HIV-po­si­ti­vem Be­fund oder in­fek­tiösen Un­ter­su­chungs­ma­te­ria­li­en), liegt die be­son­de­re An­ste­ckungs­gefähr­dung na­he. Der Nach­weis wird erhärtet, wenn di­rekt nach der Ex­po­si­ti­on (Na­del­stich- oder Schnitt­ver­let­zun­gen) ei­ne Blut­pro­be ent­nom­men wird und in die­sem Zeit­punkt kei­ne HIV-An­tikörper nach­weis­bar sind, die­se je­doch bei späte­ren Nach­un­ter­su­chun­gen auf­tre­ten. Gehören po­ten­ti­el­le in­fek­ti­ons­ge­eig­ne­te Kon­tak­te, wie Schnitt- und Na­del­stich­ver­let­zun­gen, nach­weis­lich zum Tätig­keits­pro­fil, kann je nach den Umständen, der Nach­weis ei­nes sol­chen Er­eig­nis­ses ge­genüber der nach­weis­lich in­fi­zier­ten Per­son ent­behr­lich sein (Mehr­tens/Bran­den­burg, Die Be­rufs­krank­hei­ten­ver­ord­nung, Kom­men­tar, Stand Ja­nu­ar 2010, BK 3101, Rn. 22.3 m.w.N. der Recht­spre­chung).

Im vor­lie­gen­den Fall hat ei­ne (im Ver­gleich zum all­ge­mei­nen In­fek­ti­ons­ri­si­ko der Bevölke­rung) erhöhte In­fek­ti­ons­ge­fahr bei der Kläge­rin be­stan­den, weil sie in ei­nem Kran­ken­haus für Chir­ur­gie und in­ne­re Me­di­zin tätig war und dort be­reits im Zu­sam­men­hang mit Blut­ent­nah­men ei­ner si­gni­fi­kant erhöhten An­ste­ckungs­ge­fahr im Um­gang mit Sprit­zen aus­ge­setzt war.

Der Nach­weis ei­ner in­fi­zier­ten Kon­takt­per­son legt zwar ei­ne erhöhte In­fek­ti­ons­ge­fahr na­he. Nach der Recht­spre­chung des BSG (Ur­teil vom 2.04.2009, NZS 2010, 404 ff.) ist die­ser Schluss je­doch nicht zwin­gend. Dar­aus ent­nimmt das Ge­richt, dass der hier nicht ge­lun­ge­ne Nach­weis der von der Kläge­rin an­ge­ge­be­nen Pa­ti­en­ten nicht al­lein zur Ab­leh­nung der BK 3101 führen kann. Maßge­bend ist viel­mehr ei­ne Ge­samtwürdi­gung der o.g. Tat­be­stands­merk­ma­le un­ter Ein­be­zie­hung ei­nes dem pri­va­ten Le­bens­be­reich zu­zu­ord­nen­den In­fek­ti­ons­ri­si­kos so­wie her vor­lie­gen­den Be­wei­ser­leich­te­run­gen (BSG vom 2.4.2009, BS­GE 103, 45 ff; BSG vom 21.3.2006, UV-Recht Ak­tu­ell 2006, 216 ff.).

Bezüglich des Be­weis­maßsta­bes ist hier zu be­ach­ten, dass grundsätz­lich al­le an­spruchs­be­gründen­den Tat­sa­chen zur Über­zeu­gung des Ge­richts im Sin­ne des so­ge­nann­ten Voll­be­wei­ses nach­ge­wie­sen wer­den müssen. Für die Kau­sal­zu­sam­menhänge wird die so­ge­nann­te hin­rei­chen­de Wahr­schein­lich­keit als aus­rei­chend er­ach­tet. Voll­be­weis be­deu­tet, dass die Tat­sa­che mit an Si­cher­heit gren­zen­der Wahr­schein­lich­keit nach­ge­wie­sen ist. Er ist dann er­bracht, wenn kein vernünf­ti­ger Mensch noch Zwei­fel am Vor­lie­gen der zu be­wei­sen­den Tat­sa­che hat (BSG vom 17.4.2013, Die So­zi­al­ge­richts­bar­keit 2013, 345; Zieg­ler in Be­cker, Fran­ke, Mol­ke­tin, a.a.O., § 8, Rn. 17 f. m.w.N.). Ein Voll­be­weis kann auch auf Grund von In­di­zi­en bzw. ei­ner In­di­zi­en­rei­he be­ste­hen.

Im Rah­men der Be­weiswürdi­gung können auch bei ei­nem Voll­be­weis aus­nahms­wei­se die Be­weis­an­for­de­run­gen im Ein­zel­fall her­ab­ge­setzt wer­den. Ei­ne sol­che Her­ab­set­zung der Be­weis­an­for­de­run­gen ist dann zulässig, wenn be­son­de­re Umstände der ver­si­cher­ten Tätig­keit sonst mögli­che Be­weis­mit­tel aus­sch­ließen (z.B. bei dem Be­triebs­bann, LSG Schles­wig-Hol­stein vom 23.10.2003, Die So­zi­al­ge­richts­bar­keit 2004, 422).

Im vor­lie­gen­den Fall ist von ei­ner Be­wei­ser­leich­te­rung zu Guns­ten der Kläge­rin aus­zu­ge­hen, weil zur Zeit der In­fek­ti­on (Ju­li bis Au­gust 1982) nach den Fest­stel­lun­gen des Sach­verständi­gen­gut­ach­tens ei­ne ge­eig­ne­te Un­ter­su­chungs­me­tho­de zum Nach­weis ei­ner HIV-In­fek­ti­on in Deutsch­land so­wie Ver­hal­tens­re­geln von Kli­nik­per­so­nal ge­genüber an HIV-er­krank­ten Pa­ti­en­ten und Do­ku­men­ta­ti­ons­pflich­ten bei hier auf­tre­ten­den

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Sprit­zen­unfällen noch nicht vor­han­den ge­we­sen sind. Zum an­de­ren ist auch zu berück­sich­ti­gen, dass die Ein­schränkung der Er­mitt­lun­gen durch Prof. Dr. G. in der S.-Kli­nik im Jahr 1987 auf Pa­ti­en­ten mit ei­ner Ster­nal-Punk­ti­on nicht die denk­ba­ren In­fek­ti­ons­ri­si­ken durch ei­ne Stich­ver­let­zung mit ei­ner in­fi­zier­ten Sprit­ze völlig er­fasst hat. In­so­fern wa­ren die da­ma­li­gen Er­mitt­lun­gen bei der Kli­nik nicht aus­rei­chend und sie können auch nicht mehr nach­ge­holt wer­den (Zieg­ler, a.a.O., Rn. 22). Für den Kau­sal­zu­sam­men­hang - hier der erhöhten In­fek­ti­ons­ge­fahr bei der Tätig­keit in der S.-Kli­nik - genügt als Be­weis­maßstab die hin­rei­chen­de Wahr­schein­lich­keit. Sie ist ge­ge­ben, wenn die für das Vor­lie­gen des ursächli­chen Zu­sam­men­hangs spre­chen­den Gründe deut­lich über­wie­gen (Zieg­ler, a.a.O., § 8 Rn. 21; Bran­den­burg in Be­cker, Fran­ke, Mol­ken­tin, SGB VII, 3. Aufl., § 9, Rn. 52 ff. m.w.N.).

Der Se­nat ist auf­grund des ärzt­li­chen Sach­verständi­gen­gut­ach­tens von Prof. Dr. C. und des­sen ergänzen­der Stel­lung­nah­me vom 1.7.2013 der Über­zeu­gung, dass die Kläge­rin während der Prak­ti­kan­tentätig­keit in der S.-Kli­nik im Ju­li und Au­gust 1982 ei­ner be­son­de­ren Ge­fahr aus­ge­setzt ge­we­sen ist, an ei­ner HIV-In­fek­ti­on zu er­kran­ken. Dies er­gibt sich schon aus der Tat­sa­che, dass in Deutsch­land in den Großraum­re­gio­nen wie Ber­lin, Ham­burg, Köln, Düssel­dorf, Frank­furt und B-Stadt ein erhöhtes In­fek­ti­ons­ri­si­ko für Aids be­stand und dass durch den Flug­ver­kehr in­ter­na­tio­na­le Gäste mit un­be­kann­tem In­fek­ti­ons­sta­tus nach B-Stadt kom­men. Vor al­lem ist, wie schon aus­geführt wur­de, zu be­ach­ten, dass die Kläge­rin bei der Mit­hil­fe bei Blut­ent­nah­men in der Kli­nik ei­nem be­son­de­ren In­fek­ti­ons­ri­si­ko aus­ge­setzt war. Es gab zum da­ma­li­gen Zeit­punkt noch kei­ne Hy­gie­ne-Ver­hal­tens­re­geln für den Um­gang mit be­ruf­lich be­ding­ten Na­del­stich­ver­let­zun­gen. Bei die­ser Prak­ti­kan­tentätig­keit ist es nach den glaubwürdi­gen An­ga­ben der Kläge­rin zu ei­ner tie­fen(!) Na­del­stich­ver­let­zung mit der Über­tra­gung von Pa­ti­en­ten­blut ge­kom­men. Die von ihr be­schrie­be­ne Sym­to­ma­tik im An­schluss an die Prak­ti­kan­tentätig­keit ist ein In­diz für ei­nen in mehr als 50 % der Fälle be­schrie­be­nen Krank­heits­ver­lauf. Nach der Primärin­fek­ti­on kommt es nach dem Sach­verständi­gen zum aku­ten re­tro­vi­ra­len Syn­drom mit ei­ner der Grip­pe ähn­li­chen Sym­to­ma­tik (fie­ber­haf­te Er­kran­kun­gen mit Mund- und Ra­chen­schleim­haut­entzündung, Her­pes la­bia­lis, Durchfälle, Haut­aus­schlag). Dar­auf folgt ei­ne Pha­se, die un­be­han­delt nach meh­re­ren Jah­ren (5 bis 10 Jah­re) zum Voll­bild Aids führt. Während die­ser Pha­se ist ein Pa­ti­ent häufig nicht als mit HIV-in­fi­ziert aus­zu­ma­chen, weil kli­nisch kei­ne bis we­ni­ge Sym­pto­me be­ste­hen. Der Sach­verständi­ge hat auch be­tont, dass der In­halt ei­ner mit in­fi­zier­tem Blut gefüll­ten Sprit­ze bei der Blut­ab­nah­me für die In­fek­ti­on mit HIV aus­reicht.

Der Se­nat ist fer­ner im An­schluss an das Sach­verständi­gen­gut­ach­ten der Über­zeu­gung, dass die Kläge­rin nicht zur ty­pi­schen Ri­si­ko­grup­pe für HIV-In­fek­ti­on zählt. Das all­ge­mei­ne Ri­si­ko, sich mit HIV zu in­fi­zie­ren (z.B. durch he­te­ro­se­xu­el­len Ge­schlechts­ver­kehr) kann für Frau­en aus der All­ge­mein­bevölke­rung, wenn sie nicht be­stimm­ten Ri­si­ko­grup­pen an­gehören, als ge­ring und da­mit nicht mess­bar be­zeich­net wer­den. Ri­si­ko­grup­pen sind in ers­ter Li­nie Dro­gen­abhängi­ge, Part­ne­rin­nen bi­se­xu­el­ler Männer, Men­schen mit Hämo­phi­lie oder Mul­ti­t­rans­fu­si­ons-Empfänger. Nach dem Sach­verständi­gen muss auf­grund der schlüssi­gen An­ga­ben der Kläge­rin zur Na­del­stich­ver­let­zung von 1982 und dem nach­fol­gen­den aku­ten re­tro­vi­ra­len Syn­drom zu­grun­de­ge­legt wer­den, dass der zeit­li­che Ab­lauf ei­ner HIV-In­fek­ti­on mit dem In­fek­ti­ons­zeit­punkt im Som­mer 1982 und der Ent­wick­lung ers­ter Sym­pto­me im Frühjahr 1987 eher nach­ge­wie­sen ist als ei­ne späte­re In­fek­ti­on mit deut­lich schnel­le­rem Ver­lauf.

Sch­ließlich geht der Se­nat im Hin­blick auf die glaubwürdi­gen An­ga­ben der Kläge­rin auch da­von aus, dass vor oder während der Prak­ti­kan­tentätig­keit ei­ne Ge­fahr der An­ste­ckung mit dem HIV-Vi­rus nicht be­stan­den hat, da sie vor 1984 kei­nen Ge­schlechts­ver­kehr hat­te.

Gemäß § 551 Abs. 3 RVO gilt als Zeit­punkt des Ver­si­che­rungs­fal­les der Be­ginn der Krank­heit, oder, wenn dies für den Ver­si­cher­ten güns­ti­ger ist, der Be­ginn der Min­de­rung der Er­werbsfähig­keit. Der Sach­verständi­ge legt hier den Zeit­punkt der ers­ten Dia­gno­se der HIV-In­fek­ti­on zu Grun­de, nämlich den März 1987. Dem steht nicht ent­ge­gen, dass die Kläge­rin die In­fek­ti­on be­reits im Ju­li bzw. Au­gust 1982 er­lit­ten hat. Denn es ist zwi­schen der In­fek­ti­on als Ent­ste­hungs­quel­le der Krank­heit und der Krank­heit selbst, die nach­ge­wie­sen sein muss, zu un­ter­schei­den.

Der Sach­verständi­ge hat im Gut­ach­ten fest­ge­stellt, dass die MdE im Hin­blick auf die HIV-En­ze­pha­lo­pa­thie, Li­po­dys­tro­phie und Zerstörung des Im­mun­sys­tems 70 v.H. beträgt. Hier­bei ist auch zu berück­sich­ti­gen, dass die Kläge­rin 1994 ih­ren Be­ruf als Kin­der­kran­ken­schwes­ter auf­ge­ge­ben hat und in die­sen Be­ruf we­gen HIV-In­fek­ti­on auch nicht mehr zurück­keh­ren konn­te bzw. kann.

Die Kos­tent­schei­dung be­ruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zu­las­sung der Re­vi­si­on lie­gen nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1, 2 SGG).

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