HENSCHE RECHTSANWÄLTE, FACHANWALTSKANZLEI FÜR ARBEITSRECHT

 

BAG, Be­schluss vom 18.06.2015, 8 AZR 848/13 (A)

   
Schlagworte: Diskriminierung: Scheinbewerbung
   
Gericht: Bundesarbeitsgericht
Aktenzeichen: 8 AZR 848/13 (A)
Typ: Beschluss
Entscheidungsdatum: 18.06.2015
   
Leitsätze: I. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden gem. Art. 267 AEUV folgende Fragen vorgelegt:

Sind Art.3 Abs.1 Buchst.a) der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf und Art.14 Abs.1 Buchst.a) der Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (Neufassung) dahin gehend auszulegen, dass auch derjenige „Zugang zur Beschäftigung oder zu abhängiger Erwerbstätigkeit“ sucht, aus dessen Bewerbung hervorgeht, dass nicht eine Einstellung und Beschäftigung, sondern nur der Status als Bewerber erreicht werden soll, um Entschädigungsansprüche geltend machen zu können?

Falls die erste Frage bejaht wird: Kann eine Situation, in der der Status als Bewerber nicht im Hinblick auf eine Einstellung und Beschäftigung, sondern zwecks Geltendmachung von Entschädigungsansprüchen erreicht wurde, nach Unionsrecht als Rechtsmissbrauch bewertet werden?

II. Das Revisionsverfahren wird bis zur Entscheidung des Gerichtshofs ausgesetzt.
Vorinstanzen: Arbeitsgericht Wiesbaden, Urteil vom 20.01.2011, 5 Ca 2491/09
Hessisches Landesarbeitsgericht, Urteil vom 18.03.2013, 7 Sa 1257/12
Nachgehend Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 28.07.2016, C-423/15 (Nils Kratzer)
   

BUN­DES­AR­BEITS­GERICHT

8 AZR 848/13 (A)
7 Sa 1257/12 Hes­si­sches Lan­des­ar­beits­ge­richt

Im Na­men des Vol­kes!

UR­TEIL

In Sa­chen

Be­klag­ter, Be­ru­fungskläger und Re­vi­si­onskläger,

pp.

Kläge­rin, Be­ru­fungs­be­klag­te und Re­vi­si­ons­be­klag­te,

hat der Ach­te Se­nat des Bun­des­ar­beits­ge­richts auf­grund der münd­li­chen Ver­hand­lung vom 22. Ja­nu­ar 2015 durch den Vor­sit­zen­den Rich­ter am Bun­des­ar­beits­ge­richt Hauck, den Rich­ter am Bun­des­ar­beits­ge­richt Brein­lin­ger, die Rich-

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te­rin am Bun­des­ar­beits­ge­richt Dr. Win­ter so­wie den eh­ren­amt­li­chen Rich­ter von Schuck­mann und die eh­ren­amt­li­che Rich­te­rin Dr. Schim­mer be­schlos­sen:

I. Dem Ge­richts­hof der Eu­ropäischen Uni­on wer­den gem. Art. 267 AEUV fol­gen­de Fra­gen vor­ge­legt:

    1. Sind Art. 3 Abs. 1 Buchst. a) der Richt­li­nie 2000/78/EG des Ra­tes vom 27. No­vem­ber 2000 zur Fest­le­gung ei­nes all­ge­mei­nen Rah­mens für die Ver­wirk­li­chung der Gleich­be­hand­lung in Beschäfti­gung und Be­ruf und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a) der Richt­li­nie 2006/54/EG des Eu­ropäischen Par­la­ments und des Ra­tes vom 5. Ju­li 2006 zur Ver­wirk­li­chung des Grund­sat­zes der Chan­cen­gleich­heit und Gleich­be­hand­lung von Männern und Frau­en in Ar­beits- und Beschäfti­gungs­fra­gen (Neu­fas­sung) da­hin ge­hend aus­zu­le­gen,
      dass auch der­je­ni­ge „Zu­gang zur Beschäfti­gung oder zu abhängi­ger Er­werbstätig­keit“ sucht, aus des­sen Be­wer­bung her­vor­geht, dass nicht ei­ne Ein­stel­lung und Beschäfti­gung, son­dern nur der Sta­tus als Be­wer­ber er­reicht wer­den soll, um Entschädi­gungs­ansprüche gel­tend ma­chen zu können?
    2. Falls die ers­te Fra­ge be­jaht wird: Kann ei­ne Si­tua­ti­on, in der der Sta­tus als Be­wer­ber nicht im Hin­blick auf ei­ne Ein­stel­lung und Beschäfti­gung, son­dern zwecks Gel­tend­ma­chung von Entschädi­gungs­ansprüchen er­reicht wur­de, nach Uni­ons­recht als Rechts­miss­brauch be­wer­tet wer­den?

II. Das Re­vi­si­ons­ver­fah­ren wird bis zur Ent­schei­dung des Ge­richts­hofs aus­ge­setzt.

Gründe

A. Ge­gen­stand des Aus­gangs­ver­fah­rens

Die Par­tei­en strei­ten vor al­lem um Entschädi­gungs­ansprüche des Klägers, da­ne­ben auch um Er­satz des ma­te­ri­el­len Scha­dens und um Un­ter­las­sungs­ansprüche, weil der Kläger der Auf­fas­sung ist, bei der Ab­leh­nung sei­ner

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Be­wer­bung um ei­ne aus­ge­schrie­be­ne Stel­le we­gen sei­nes Al­ters und sei­nes Ge­schlechts dis­kri­mi­niert wor­den zu sein.

Die Be­klag­te gehört als Ver­si­che­rungs­ge­sell­schaft zu ei­ner der größten Ver­si­che­rungs­grup­pen Deutsch­lands. Der 1973 ge­bo­re­ne Kläger ist ein voll­aus­ge­bil­de­ter Ju­rist. Nach dem Stu­di­um hat er 1999 die Ers­te Ju­ris­ti­sche Staats­prüfung mit der No­te „be­frie­di­gend“ be­stan­den. Nach dem zwei­ten Aus­bil­dungs­ab­schnitt im staat­li­chen Vor­be­rei­tungs­dienst hat er die Zwei­te Ju­ris­ti­sche Staats­prüfung mit „aus­rei­chend“ be­stan­den. Seit Au­gust 2002 ist er über­wie­gend als selbständi­ger Rechts­an­walt tätig. Die­se Tätig­keit hat er 2008 un­ter­bro­chen und hat in Stel­len­bosch (ZA) er­folg­reich ei­nen Stu­di­en­gang mit dem Ab­schluss ei­nes „Mas­ter of Laws“ ab­sol­viert.

Im März 2009 schrieb die Be­klag­te ein „Trainee-Pro­gramm 2009“ aus, mit dem sie „Be­wer­ber (m/w) der Fach­rich­tun­gen Wirt­schafts­wis­sen­schaf­ten, (Wirt­schafts-)Ma­the­ma­tik, (Wirt­schafts-)In­for­ma­tik und Ju­ra“ such­te. Als An­for­de­rungs­kri­te­ri­en nann­te die Aus­schrei­bung ei­nen sehr gu­ten Hoch­schul­ab­schluss in ei­ner der Fach­rich­tun­gen, der nicht länger als ein Jahr zurück­liegt oder in­ner­halb der nächs­ten Mo­na­te er­folgt und qua­li­fi­zier­te, be­rufs­ori­en­tier­te Pra­xis­er­fah­rung, zum Bei­spiel durch Aus­bil­dung, Prak­ti­ka oder Werk­stu­den­tentätig­keit. Für Be­wer­bun­gen im Be­reich Ju­ra kam hin­zu: das er­folg­rei­che Ab­sol­vie­ren bei­der Staats­ex­ami­na und ei­ne ar­beits­recht­li­che Aus­rich­tung oder me­di­zi­ni­sche Kennt­nis­se. Der Kläger be­warb sich um ei­ne Trainee-Stel­le der Fach­rich­tung Ju­ra. Der Be­wer­bung fügte er ei­nen Le­bens­lauf so­wie wei­te­re Un­ter­la­gen bei. Der Kläger be­ton­te im Be­wer­bungs­schrei­ben, dass er als frühe­rer lei­ten­der An­ge­stell­ter ei­ner Rechts­schutz­ver­si­che­rung über Führungs­er­fah­rung verfüge. Der­zeit be­su­che er ei­nen Fach­an­walts­kurs für Ar­beits­recht. Er führ­te wei­ter aus, we­gen des To­des sei­nes Va­ters be­treue er ein um­fang­rei­ches me­di­zin­recht­li­ches Man­dat und verfüge da­her im Me­di­zin­recht über ei­nen er­wei­ter­ten Er­fah­rungs­ho­ri­zont. Als ehe­ma­li­ger lei­ten­der An­ge­stell­ter und Rechts­an­walt sei er es ge­wohnt, Ver­ant­wor­tung zu über­neh­men und selbständig zu ar­bei­ten.

Am 19. April 2009 lehn­te die Be­klag­te die Be­wer­bung des Klägers ab. Sie könne ihm der­zeit kei­ne Ein­satzmöglich­keit an­bie­ten. Der Kläger mach­te

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am 11. Ju­ni 2009 bei der Be­klag­ten schrift­lich ei­nen Entschädi­gungs­an­spruch in Höhe von 14.000,00 Eu­ro we­gen Al­ters­dis­kri­mi­nie­rung gel­tend. Dar­auf­hin lud ihn die Be­klag­te für An­fang Ju­li 2009 zu ei­nem Vor­stel­lungs­gespräch bei ih­rem Per­so­nal­lei­ter ein. Die Ab­sa­ge sei „au­to­ma­tisch ge­ne­riert“ wor­den und ha­be „so nicht den In­ten­tio­nen ent­spro­chen“. Der Kläger lehn­te die Ein­la­dung ab und schlug vor, nach Erfüllung des von ihm gel­tend ge­mach­ten Entschädi­gungs­an­spru­ches dann „sehr rasch über mei­ne Zu­kunft bei der Ver­si­che­rung“ zu spre­chen.

Der Kläger er­hob bei dem Ar­beits­ge­richt Wies­ba­den ei­ne Kla­ge auf Entschädi­gung we­gen Al­ters­dis­kri­mi­nie­rung in Höhe von 14.000,00 Eu­ro. Die­se be­gründe­te er mit der von ihm als dis­kri­mi­nie­rend emp­fun­de­nen For­mu­lie­rung der Aus­schrei­bung. Dann er­fuhr der Kläger, dass die Be­klag­te die vier Trainee-Stel­len für Ju­ra aus­sch­ließlich mit Frau­en be­setzt hat­te, während bei den über 60 Be­wer­bun­gen die Ver­tei­lung auf die Ge­schlech­ter fast pa­ritätisch ge­we­sen war. Dar­auf­hin mach­te der Kläger auf­grund ei­ner Dis­kri­mi­nie­rung we­gen des Ge­schlechts ei­ne wei­te­re Entschädi­gung in Höhe von 3.500,00 Eu­ro gel­tend.

Das Ar­beits­ge­richt hat die Kla­ge ab­ge­wie­sen. Die da­ge­gen ein­ge­leg­te Be­ru­fung des Klägers blieb vor dem Hes­si­schen Lan­des­ar­beits­ge­richt oh­ne Er­folg. Mit der zu­ge­las­se­nen Re­vi­si­on ver­folgt der Kläger das Ziel sei­ner Kla­ge wei­ter.

B. Recht­li­cher Rah­men

Die Richt­li­ni­en zur Ver­wirk­li­chung des Grund­sat­zes der Gleich­be­hand­lung und der An­ti­dis­kri­mi­nie­rung wur­den im deut­schen Recht mit dem All­ge-mei­nen Gleich­be­hand­lungs­ge­setz (AGG) vom 14. Au­gust 2006 (BGBl. I S. 1897) um­ge­setzt.

§ 1 AGG lau­tet:

„Ziel des Ge­set­zes ist, Be­nach­tei­li­gun­gen aus Gründen der Ras­se oder we­gen der eth­ni­schen Her­kunft, des Ge­schlechts, der Re­li­gi­on oder Welt­an­schau­ung, ei­ner Be­hin­de­rung, des Al­ters oder der se­xu­el­len Iden­tität zu ver­hin­dern oder zu be­sei­ti­gen.“

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Die Be­nach­tei­li­gung aus ei­nem die­ser Gründe ist ver­bo­ten, § 7 Abs. 1 AGG:

„Beschäftig­te dürfen nicht we­gen ei­nes in § 1 ge­nann­ten Grun­des be­nach­tei­ligt wer­den; dies gilt auch, wenn die Per­son, die die Be­nach­tei­li­gung be­geht, das Vor­lie­gen ei­nes in § 1 ge­nann­ten Grun­des bei der Be­nach­tei­li­gung nur an­nimmt.“

„Beschäftig­te“ iSd. § 7 Abs. 1 AGG sind nach § 6 Abs. 1 Satz 2 AGG auch:

„Als Beschäftig­te gel­ten auch die Be­wer­be­rin­nen und Be-wer­ber für ein Beschäfti­gungs­verhält­nis so­wie die Per­so­nen, de­ren Beschäfti­gungs­verhält­nis be­en­det ist.“,

da nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 AGG der Be­reich des Zu­gangs zur Beschäfti­gung zu schützen ist:

„(1) Be­nach­tei­li­gun­gen aus ei­nem in § 1 ge­nann­ten Grund sind nach Maßga­be die­ses Ge­set­zes un­zulässig in Be­zug auf:

  1. die Be­din­gun­gen, ein­sch­ließlich Aus­wahl­kri­te­ri­en und Ein­stel­lungs­be­din­gun­gen, für den Zu­gang zu un­selbständi­ger und selbständi­ger Er­werbstätig­keit, un­abhängig von Tätig­keits­feld und be­ruf­li­cher Po­si­ti­on, so­wie für den be­ruf­li­chen Auf­stieg“.

Beschäftig­te, al­so auch Be­wer­be­rin­nen und Be­wer­ber, die ei­ner ver­bo­te­nen Be­nach­tei­li­gung aus­ge­setzt sind, können Er­satz ih­res ma­te­ri­el­len und im­ma­te­ri­el­len Scha­dens ver­lan­gen:

„§ 15 Entschädi­gung und Scha­dens­er­satz

(1) Bei ei­nem Ver­s­toß ge­gen das Be­nach­tei­li­gungs­ver­bot ist der Ar­beit­ge­ber ver­pflich­tet, den hier­durch ent­stan­de­nen Scha­den zu er­set­zen. Dies gilt nicht, wenn der Ar­beit­ge­ber die Pflicht­ver­let­zung nicht zu ver­tre­ten hat.

(2) We­gen ei­nes Scha­dens, der nicht Vermögens­scha­den ist, kann der oder die Beschäftig­te ei­ne an­ge­mes­se­ne Entschädi­gung in Geld ver­lan­gen. Die Entschädi­gung darf bei ei­ner Nicht­ein­stel­lung drei Mo­nats­gehälter nicht über­stei­gen, wenn der oder die Beschäftig­te auch bei be­nach­tei­li­gungs­frei­er Aus­wahl nicht ein­ge­stellt wor­den wäre.

...“

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Nach dem deut­schen Zi­vil­pro­zess­recht trägt grundsätz­lich der An­spruch­stel­ler die Dar­le­gungs­last und die Be­weis­last. Ein Kläger muss al­so die den An­spruch be­gründen­den Tat­sa­chen dar­le­gen und im Streit­fall auch be­wei­sen. Für den Rechts­schutz bei Dis­kri­mi­nie­run­gen sieht je­doch § 22 AGG ei­ne Er­leich­te­rung der Dar­le­gungs­last und ei­ne Be­weis­last­um­kehr vor:

„Wenn im Streit­fall die ei­ne Par­tei In­di­zi­en be­weist, die ei­ne Be­nach­tei­li­gung we­gen ei­nes in § 1 ge­nann­ten Grun­des ver­mu­ten las­sen, trägt die an­de­re Par­tei die Be­weis­last dafür, dass kein Ver­s­toß ge­gen die Be­stim­mun­gen zum Schutz vor Be­nach­tei­li­gung vor­ge­le­gen hat.“

Für die Ver­mu­tungs­wir­kung des § 22 AGG ist es un­ter Berück­sich­ti­gung der Recht­spre­chung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts (vgl. BVerfG 28. Ja­nu­ar 1992 - 1 BvR 1025/82, 1 BvL 16/83, 1 BvL 10/91 - zu C I 1 der Gründe, BVerfGE 85, 191) aus­rei­chend, dass ein in § 1 AGG ge­nann­ter Grund „Be­stand­teil des Mo­tivbündels“ ist, das zur Ent­schei­dung geführt hat. Da­bei ist es nicht er­for­der­lich, dass der be­tref­fen­de Grund das aus­sch­ließli­che oder auch nur ein we­sent­li­ches Mo­tiv für das Han­deln des Be­nach­tei­li­gen­den ist. Er muss we­der vor­herr­schen­der Be­weg­grund noch Haupt­mo­tiv oder „Trieb­fe­der“ des Ver­hal­tens ge­we­sen sein. Ei­ne bloße Mit­ursächlich­keit genügt (vgl. BAG 26. Sep­tem­ber 2013 - 8 AZR 650/12 - Rn. 25). Da­nach darf bei ei­ner Ent­schei­dung über ei­ne Stel­len­be­set­zung kein in § 1 AGG ge­nann­ter Grund zu­las­ten ei­nes Be­wer­bers/ei­ner Be­wer­be­rin berück­sich­tigt wer­den. Der vor­le­gen­de Se­nat geht da­von aus, dass die­se Recht­spre­chung zum „Be­stand­teil ei­nes Mo­tivbündels“ für die sich be­nach­tei­ligt se­hen­de Par­tei im Schutz­ni­veau min­des­tens gleich, im Er­geb­nis so­gar stärker ist als die Vor­ga­ben des Uni­ons­rechts (zB EuGH 25. April 2013 - C-81/12 - [Aso­cia­tia AC­CEPT]; 5. Mai 1994 - C-421/92 - [Ha­ber­mann-Bel­ter­mann] Rn. 14, Slg. 1994, I-1657; 8. No­vem­ber 1990 - C-177/88 - [Dek­ker] Rn. 10 und Rn. 17, Slg. 1990, I-3941).

C. Er­for­der­lich­keit der Ent­schei­dung des Ge­richts­hofs

Für die Ent­schei­dung des Rechts­streits kommt es auf die Aus­le­gung von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a) der Richt­li­nie 2000/78/EG und Art. 14 Abs. 1

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Buchst. a) der Richt­li­nie 2006/54/EG an. Zu berück­sich­ti­gen sind wei­ter Art. 21 Abs. 1, Art. 23 und Art. 25 der Char­ta der Grund­rech­te der Eu­ropäischen Uni­on.

Nach Auf­fas­sung des vor­le­gen­den Se­nats setzt ein An­spruch des Klägers vor­aus, dass er sich bei der Be­klag­ten mit dem Ziel ei­ner Ein­stel­lung be­wor­ben hat. Nur dann kann er „Be­wer­ber“/„Beschäftig­ter“ im Sin­ne von § 6 Abs. 1 Satz 2 AGG sein. Die­se An­spruchs­vor­aus­set­zung sieht der Se­nat im vor­lie­gen­den Fall nicht als ge­ge­ben an. Zwar hat der Kläger bei der Be­klag­ten auf die Aus­schrei­bung der Trainee-Stel­len hin ei­ne Be­wer­bung ein­ge­reicht. Die­se ist aber nach der Be­ur­tei­lung des Se­nats auf­grund ih­res Wort­lau­tes und der Umstände des Ein­zel­falls nicht mit dem Zweck er­folgt, ei­ne Beschäfti­gung bei der Be­klag­ten als Trainee zu er­rei­chen. Sie ist viel­mehr so for­mu­liert, dass die Be­klag­te den Kläger nicht als „Trainee“ ein­stel­len würde. Dies er­gibt sich zum ei­nen aus den Mit­tei­lun­gen des Klägers bei der Be­wer­bung, et­wa durch Be­to­nung sei­ner vielfälti­gen Führungs­er­fah­rung. Zum an­de­ren er­gibt sich dies aus der Tat­sa­che, dass der Kläger nach ei­ner ers­ten Ab­leh­nung ei­ne Ein­la­dung zu ei­nem Gespräch mit dem Per­so­nal­lei­ter der Be­klag­ten aus­ge­schla­gen hat. Nach der Prüfung des Se­nats ver­folg­te der Kläger nicht das Ziel, von der Be­klag­ten als Trainee beschäftigt zu wer­den. Viel­mehr reich­te er ei­ne for­ma­le Be­wer­bung ein, um so als „Be­wer­ber“ im Sin­ne des AGG zu gel­ten und Ansprüche nach § 15 AGG er­he­ben zu können. Auf der Grund­la­ge des na­tio­na­len Zi­vil­rechts han­delt es sich um ei­ne nicht ernst­li­che und da­her un­be­acht­li­che Wil­lens­erklärung.

Da der Kläger nach Auf­fas­sung des vor­le­gen­den Se­nats die Vor­aus­set­zung des § 6 Abs. 1 Satz 2 AGG nicht erfüllt, kann er sich nicht auf § 15 AGG be­ru­fen. Sei­ne Kla­ge kann des­halb nicht zum Er­folg führen.

Dies kann der Se­nat je­doch oh­ne ei­ne Klärung des Uni­ons­rechts nicht ent­schei­den. Die­ses nennt nicht den „Be­wer­ber“, son­dern schützt den „Zu­gang zur Beschäfti­gung oder zu abhängi­ger oder selbständi­ger Er­werbstätig­keit“. Nicht geklärt ist, ob Art. 3 Abs. 1 Buchst. a) Richt­li­nie 2000/78/EG und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a) Richt­li­nie 2006/54/EG eben­falls vor­aus­set­zen, dass wirk­lich der Zu­gang zur Beschäfti­gung ge­sucht und ei­ne Ein­stel­lung bei dem Ar­beit­ge-

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ber tatsächlich ge­wollt ist. Dies ist ei­ne al­lein dem Ge­richts­hof ob­lie­gen­de Aus­le­gungs­fra­ge, zu der Recht­spre­chung nicht vor­liegt.

Soll­te der Ge­richts­hof die ers­te Vor­la­ge­fra­ge be­ja­hen, wird für den vor­le­gen­den Se­nat die zwei­te Vor­la­ge­fra­ge ent­schei­dungs­er­heb­lich.

D. Erörte­rung der Vor­la­ge­fra­gen

Zur Durch­set­zung und Um­set­zung des Uni­ons­rechts zum Grund­satz der Gleich­be­hand­lung und zum Schutz vor Dis­kri­mi­nie­run­gen neh­men im deut­schen Recht die Ansprüche auf Er­satz des ma­te­ri­el­len Scha­dens (§ 15 Abs. 1 AGG) und auf Er­satz des Scha­dens, der nicht Vermögens­scha­den ist (§ 15 Abs. 2 AGG) zu­sam­men mit der Be­weis­last­re­ge­lung des § 22 AGG ei­ne zen­tra­le Rol­le ein. Mit die­sen Be­stim­mun­gen folgt der deut­sche Ge­setz­ge­ber den Vor­ga­ben der ein­schlägi­gen Richt­li­ni­en (Richt­li­nie 2000/43/EG, Richt­li­nie 2000/78/EG und Richt­li­nie 2006/54/EG) und der Recht­spre­chung des Ge­richts­hofs (ua. EuGH 22. April 1997 - C-180/95 - [Draehm­pa­ehl] Rn. 24, 39 f., Slg. 1997, I-2195). Der be­son­ders aus­ge­stal­te­te An­spruch auf Entschädi­gung erfüllt die For­de­run­gen des Uni­ons­rechts „nach ei­ner wirk­sa­men und ver­schul­dens­un­abhängig aus­ge­stal­te­ten Sank­ti­on bei Ver­let­zung des Be­nach­tei­li­gungs­ver­bo­tes durch den Ar­beit­ge­ber“ (Be­gründung zu § 15 Abs. 2 AGG, BT-Drs. 16/1780 S. 38). Auf der Grund­la­ge von § 22 AGG müssen zur Um­kehr der Be­weis­last (le­dig­lich) In­di­zi­en dar­ge­legt wer­den, die ei­ne Dis­kri­mi­nie­rung ver­mu­ten las­sen. Da­bei darf im Hin­blick auf die Recht­spre­chung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts kei­ner der ver­bo­te­nen An­knüpfungs­gründe (hier: Ge­schlecht, Al­ter) in ir­gend­ei­ner Art und Wei­se Be­stand­teil des „Mo­tivbündels“ bei der Aus­wah­l­ent­schei­dung sein.

Kla­gen nach § 15 Abs. 2 AGG ha­ben die Be­son­der­heit, dass ein An­spruch auf Entschädi­gung (mit der Be­gren­zung auf drei Mo­nats­gehälter) be­ste­hen kann, „wenn der oder die Beschäftig­te auch bei be­nach­tei­li­gungs­frei­er Aus­wahl nicht ein­ge­stellt wor­den wäre“. Da­nach ist es für den Entschädi­gungs­an­spruch oh­ne Be­deu­tung, wenn ein/e Be­wer­ber/in we­gen der bes­se­ren Qua­li­fi­ka­ti­on an­de­rer Be­wer­ber/in­nen auch bei be­nach­tei­li­gungs­frei­er Aus­wahl die zu be­set­zen­de Stel­le nicht er­hal­ten hätte. Auch meh­re­re Be­wer­ber/in­nen können

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für das­sel­be Be­wer­bungs­ver­fah­ren ei­ne Entschädi­gung gel­tend ma­chen, § 61b Abs. 2 ArbGG. Wie im vor­lie­gen­den Fall wer­den Kla­gen zu § 15 Abs. 2 AGG nicht sel­ten auf For­mu­lie­run­gen in Stel­len­aus­schrei­bun­gen gestützt.

Die im Verhält­nis zum all­ge­mei­nen deut­schen Zi­vil­recht außer­gewöhn­li­che Re­ge­lung in § 15 Abs. 2 AGG hat in der Li­te­ra­tur An­lass zu vielfälti­gen De­bat­ten über Funk­ti­on und Aus­le­gung ge­ge­ben. Da­mit hängt zu­sam­men, dass das Kon­zept ei­ner ab­schre­cken­den Wir­kung (ua. EuGH 25. April 2013 - C-81/12 - [Aso­cia­tia AC­CEPT] Rn. 63) dem deut­schen Scha­dens­er­satz­recht an sich fremd ist.

Der vor­le­gen­de Se­nat (ua. BAG 21. Ju­ni 2012 - 8 AZR 364/11 - Rn. 57, BA­GE 142, 158) hat vor dem Hin­ter­grund der Recht­spre­chung des Ge­richts­hofs, wo­nach die Sank­ti­ons­re­ge­lung ei­nen tatsächli­chen und wirk­sa­men recht­li­chen Schutz der aus der Richt­li­nie her­ge­lei­te­ten Rech­te gewähr­leis­ten muss, die Härte der Sank­tio­nen der Schwe­re der mit ih­nen ge­ahn­de­ten Verstöße ent­spre­chen muss, in­dem sie ins­be­son­de­re ei­ne wirk­lich ab­schre­cken­de Wir­kung gewähr­leis­tet, zu­gleich aber der all­ge­mei­ne Grund­satz der Verhält­nismäßig­keit ge­wahrt wer­den muss, ei­nen dop­pel­ten Sank­ti­ons­zweck von § 15 Abs. 2 AGG an­ge­nom­men: Die Be­stim­mung hat so­wohl ei­ne „spe­zi­al­präven­ti­ve Funk­ti­on“ (den Ar­beit­ge­ber zukünf­tig zur ord­nungs­gemäßen Erfüllung sei­ner Pflich­ten nach dem AGG an­zu­hal­ten) als auch ei­ne „ge­ne­ral­präven­ti­ve Funk­ti­on“ (Drit­te von ähn­li­chen Verstößen ab­zu­hal­ten).

Zur ers­ten Vor­la­ge­fra­ge: Die Erfüllung die­ser Sank­ti­ons­funk­tio­nen setzt vor­aus, dass der Sta­tus als „Be­wer­ber“ und da­her als „Beschäftig­ter“ im Sin­ne von § 6 Abs. 1 Satz 2 AGG er­reicht wor­den ist. Dies ist nach Auf­fas­sung des Se­nats da­von abhängig, dass der/die Be­wer­ber/in sich mit dem Ziel ei­ner Ein­stel­lung be­wor­ben hat. Im Fall der vor­lie­gen­den Be­wer­bung des Klägers sieht der Se­nat die­se Vor­aus­set­zung nicht als ge­ge­ben an. Dies kann al­ler­dings nicht be­reits dar­aus ge­schlos­sen wer­den, dass ei­ne Per­son ei­ne Viel­zahl er­folg­lo­ser Be­wer­bun­gen ver­sandt und - wie der Kläger - meh­re­re Entschädi­gungs­pro­zes­se geführt hat (ua. BAG 24. Ja­nu­ar 2013 - 8 AZR 429/11 - Rn. 63). Auch wenn der Kläger sich ge­ra­de auf sol­che Stel­len­aus­schrei­bun­gen be­wor­ben hat, de­ren

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For­mu­lie­rung ei­nen An­schein von Dis­kri­mi­nie­rung er­we­cken, steht dies ent­ge­gen der Auf­fas­sung der Be­klag­ten ei­nem Entschädi­gungs­an­spruch nicht ent­ge­gen. Der Se­nat sieht den Kläger je­doch nicht als „Be­wer­ber“/„Beschäftig­ter“ im Sin­ne von § 6 Abs. 1 Satz 2 AGG an, da er ei­ne Be­wer­bung ein­ge­reicht hat, de­ren For­mu­lie­rung dem An­for­de­rungs­pro­fil der aus­ge­schrie­be­nen Stel­le voll­kom­men zu­wi­derläuft. Er hat da­mit die Ab­leh­nung sei­ner Be­wer­bung pro­vo­ziert. Der Kläger hat al­lein for­mal ei­nen Be­wer­ber­sta­tus an­ge­strebt. Es ging ihm dar­um, als ab­ge­lehn­ter Be­wer­ber ei­ne Entschädi­gungs­zah­lung gel­tend zu ma­chen. Dies fällt nach Auf­fas­sung des Se­nats nicht in den Schutz­be­reich des Grund­sat­zes der Gleich­be­hand­lung und des Dis­kri­mi­nie­rungs­schut­zes.

Der Kläger führt dem­ge­genüber im vor­lie­gen­den Ver­fah­ren aus, in Deutsch­land exis­tie­re kein wirk­sa­mes In­stru­men­ta­ri­um, um für ab­schre­ckend ho­he Entschädi­gungs­zah­lun­gen zu sor­gen. Ein sol­ches sei je­doch im Fall ei­ner al­lein zi­vil­recht­li­chen Sank­ti­ons­re­ge­lung - wie in Deutsch­land - zur Erfüllung der uni­ons­recht­li­chen Vor­ga­be ei­ner ab­schre­cken­den Wir­kung er­for­der­lich. Der vor­le­gen­de Se­nat ist je­doch aus den dar­ge­stell­ten Gründen der Auf­fas­sung, dass die uni­ons­recht­lich er­for­der­li­che ab­schre­cken­de Wir­kung ei­ne sol­che Aus­le­gung von § 15 Abs. 2 AGG nicht er­for­dert.

Zur zwei­ten Vor­la­ge­fra­ge: So­wohl der vor­le­gen­de Se­nat als auch das Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt sind der Auf­fas­sung, dass aus­nahms­wei­se nach dem Grund­satz von Treu und Glau­ben (§ 242 BGB) un­ter dem Ge­sichts­punkt des Rechts­miss­brauchs ein An­spruch, ins­be­son­de­re we­gen man­geln­der Ernst­haf­tig­keit der Be­wer­bung, aus­ge­schlos­sen sein kann (ua. BAG 13. Ok­to­ber 2011 - 8 AZR 608/10 - Rn. 51 ff., AP AGG § 15 Nr. 9; BVerwG 3. März 2011 - 5 C 16.10 - Rn. 33, BVerw­GE 139, 135). Mit Rück­sicht auf die Gewähr­leis­tung ei­nes tatsächli­chen und wirk­sa­men Rechts­schut­zes vor Be­nach­tei­li­gun­gen in Beschäfti­gung und Be­ruf ist an ei­nen der­ar­ti­gen An­spruchs­aus­schluss ein stren­ger Maßstab an­zu­le­gen. In sol­chen Fällen ist der Ar­beit­ge­ber für die feh­len­de sub­jek­ti­ve Ernst­haf­tig­keit, dh. den Rechts­miss­brauch dar­le­gungs- und be­weis­be­las­tet.

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Auch der Recht­spre­chung des Ge­richts­hofs ist zu ent­neh­men, dass die na­tio­na­len Ge­rich­te un­ter be­stimm­ten Umständen im Ein­zel­fall das miss­bräuch­li­che oder betrüge­ri­sche Ver­hal­ten der Be­trof­fe­nen auf der Grund­la­ge ob­jek­ti­ver Kri­te­ri­en in Rech­nung stel­len können, um ih­nen ge­ge­be­nen­falls die Be­ru­fung auf das ein­schlägi­ge Uni­ons­recht zu ver­weh­ren; sie ha­ben je­doch bei der Würdi­gung ei­nes sol­chen Ver­hal­tens die Zie­le der frag­li­chen Be­stim­mun­gen zu be­ach­ten (EuGH 22. De­zem­ber 2010 - C-303/08 - [Boz­kurt] Rn. 47, Slg. 2010, I-13445; 9. März 1999 - C-212/97 - [Cen­tros] Rn. 25, Slg. 1999, I-1459; 2. Mai 1996 - C-206/94 - [Pa­let­ta] Rn. 25, Slg. 1996, I-2357).

Im vor­lie­gen­den Ver­fah­ren hat der Se­nat, falls die ers­te Vor­la­ge­fra­ge be­jaht wird, die Fra­ge ei­nes even­tu­el­len Rechts­miss­brauchs zu prüfen. Die Be­klag­te be­haup­tet, in die­sem Rechts­streit aus­rei­chend zu ei­ner rechts­miss­bräuch­li­chen Be­ru­fung des Klägers auf Dis­kri­mi­nie­rungs­schutz vor­ge­tra­gen und un­ter Be­weis ge­stellt zu ha­ben. Im Er­geb­nis geht sie da­von aus, dass der Kläger - der sich selbst an­walt­lich ver­tritt - mit ei­nem ho­hen Pro­fes­sio­na­li­sie­rungs­grad vor­geht, um Ka­pi­tal aus feh­ler­haf­ten Stel­len­an­ge­bo­ten zu schla­gen.

Da­her kommt es für die Ent­schei­dung des Rechts­streits - wenn die ers­te Vor­la­ge­fra­ge be­jaht würde - dar­auf an, ob ei­ne feh­len­de sub­jek­ti­ve Ernst­haf­tig­keit der Be­wer­bung noch un­ter „Rechts­ge­brauch“ im Sin­ne der uni­ons­recht­li­chen Vor­ga­ben fällt. Wäre dies nicht der Fall, kommt die Ein­ord­nung ei­ner sol­chen Hal­tung - ggf. bei Hin­zu­tre­ten wei­te­rer ob­jek­tiv erfüll­ter Kri­te­ri­en - als rechts­miss­bräuch­lich im Sin­ne von § 242 BGB in Be­tracht.

Hauck Brein­lin­ger Win­ter

v. Schuck­mann Dr. Ron­ny Schim­mer

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