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BAG, Ur­teil vom 18.03.2015, 10 AZR 99/14

   
Schlagworte: Krankheit: Alkohol, Entgeltfortzahlung
   
Gericht: Bundesarbeitsgericht
Aktenzeichen: 10 AZR 99/14
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 18.03.2015
   
Leitsätze:

1. Wird ein Arbeitnehmer infolge seiner Alkoholabhängigkeit arbeitsunfähig krank, kann nach dem derzeitigen Stand der medizinischen Erkenntnisse nicht von einem schuldhaften Verhalten iSd. § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG ausgegangen werden.

2. Im Falle eines Rückfalls nach einer erfolgreich durchgeführten Therapie wird die Multikausalität der Alkoholabhängigkeit sich häufig in den Ursachen eines Rückfalls widerspiegeln und deshalb ein schuldhaftes Verhalten im entgeltfortzahlungsrechtlichen Sinn nicht festzustellen sein. Da es jedoch keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt, die in diesem Fall ein Verschulden iSd. § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG generell ausschließen, kann nur ein fachmedizinisches Gutachten genauen Aufschluss über die willentliche Herbeiführung des Rückfalls geben.

Vorinstanzen: Arbeitsgericht Köln, Urteil vom 29.5.2013 - 9 Ca 9134/12
Landesarbeitsgericht Köln, Urteil vom 16.1.2014 - 13 Sa 516/13
   

BUN­DES­AR­BEITS­GERICHT

10 AZR 99/14
13 Sa 516/13
Lan­des­ar­beits­ge­richt

Köln

 

Im Na­men des Vol­kes!

Verkündet am

18. März 2015

UR­TEIL

Jatz, Ur­kunds­be­am­tin

der Geschäfts­stel­le

In Sa­chen

Be­klag­te, Be­ru­fungskläge­rin und Re­vi­si­onskläge­rin,

pp

Kläge­rin, Be­ru­fungs­be­klag­te und Re­vi­si­ons­be­klag­te,

hat der Zehn­te Se­nat des Bun­des­ar­beits­ge­richts auf­grund der münd­li­chen Ver­hand­lung vom 18. März 2015 durch den Vor­sit­zen­den Rich­ter am Bun­des­ar­beits­ge­richt Dr. Linck, den Rich­ter am Bun­des­ar­beits­ge­richt Rein­fel­der, die


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Rich­te­rin am Bun­des­ar­beits­ge­richt Dr. Bru­ne so­wie die eh­ren­amt­li­chen Rich­ter Die­ner und Ef­fen­ber­ger für Recht er­kannt:

1. Die Re­vi­si­on der Be­klag­ten ge­gen das Ur­teil des Lan­des­ar­beits­ge­richts Köln vom 16. Ja­nu­ar 2014 - 13 Sa 516/13 - wird zurück­ge­wie­sen.

2. Die Be­klag­te hat die Kos­ten der Re­vi­si­on zu tra­gen.

Von Rechts we­gen!

Tat­be­stand

Die Par­tei­en strei­ten über Ent­gelt­fort­zah­lungs­ansprüche aus über­ge­gan­ge­nem Recht (§ 115 Abs. 1 SGB X).

Die Kläge­rin ist ei­ne ge­setz­li­che Kran­ken­kas­se. Ihr 1959 ge­bo­re­nes Mit­glied L. war seit 2007 bei der Be­klag­ten beschäftigt.

Am 23. No­vem­ber 2011 wur­de der al­ko­hol­abhängi­ge Herr L. mit ei­ner Al­ko­hol­ver­gif­tung (4,9 Pro­mil­le) bei völli­ger körper­li­cher und geis­ti­ger Be­we­gungs­lo­sig­keit in ein Kran­ken­haus ein­ge­lie­fert, wo er in­ten­siv­me­di­zi­nisch be­han­delt wur­de. Er war zunächst bis 15. Ja­nu­ar 2012 in sta­ti­onärer Be­hand­lung, dar­an schlos­sen sich wei­te­re Kran­ken­haus­auf­ent­hal­te an. Ins­ge­samt war er über zehn Mo­na­te ar­beits­unfähig er­krankt. In ei­nem von der Kläge­rin vor­ge­leg­ten So­zi­al­me­di­zi­ni­schen Gut­ach­ten des MDK N vom 14. Mai 2013 heißt es ua.:

„Bei dem Ver­si­cher­ten be­steht auf­grund der vor­lie­gen­den me­di­zi­ni­schen Un­ter­la­gen zwei­fels­frei ei­ne langjähri­ge, chro­ni­sche Al­ko­hol­krank­heit mit den ty­pi­schen Fol­ge­er­kran­kun­gen wie z. B. die äthyl­to­xi­sche Le­ber­zir­rho­se mit Gal­len­kom­pli­ka­tio­nen. Aus den vor­lie­gen­den Un­ter­la­gen geht her­vor, dass der Ver­si­cher­te be­reits zwei­mal ei­ne sta­ti­onäre Ent­zugs­the­ra­pie durch­geführt hat. Es ist je­doch of­fen­sicht­lich im­mer wie­der zu Rückfällen ge­kom­men und so­mit auch zu dem Al­ko­hol­ex­zess am 23.11.2011, der bei dem Ver­si­cher­ten ei­nen ko­matösen, be­at­mungs­pflich­ti­gen Zu­stand her­vor­rief bei re­spi­ra­to­ri­scher Insuf­fi­zi­enz in­fol­ge der Al­ko­holin­to­xi­ka­ti­on. Im Rah­men der not­wen­di­gen

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Lang­zeit­be­at­mung kam es dann zu den ty­pi­schen Kom­pli­ka­tio­nen im Ver­lauf, wie tu­busas­so­zi­ier­te, no­so­ko­mia­le Pneu­mo­nie, Aspi­ra­ti­ons­pneu­mo­nie und no­so­ko­mia­ler Si­nu­si­tis ma­xil­la­ris.

Auch die he­pa­to­bi­liären Kom­pli­ka­tio­nen sind, zu­min­dest zum Teil, Fol­ge langjähri­gen, ex­zes­si­ven Al­ko­hol­kon­sums (Le­ber­zir­rho­se).

Es ist hier­aus zu fol­gern, dass der in­ten­si­ve Al­ko­hol­kon­sum, der am 23.11.2011 zur sta­ti­onären Be­hand­lungs­not­wen­dig­keit und zur Ar­beits­unfähig­keit führ­te, im Rah­men ei­ner langjähri­gen, chro­ni­schen Er­kran­kung (Al­ko­hol­krank­heit) er­folg­te und nicht wil­lent­lich durch den Ver­si­cher­ten hätte ver­hin­dert oder ver­mie­den wer­den können ( Sucht­druck).

Selbst­ver­schul­den ist so­mit me­di­zi­nisch aus­zu­sch­ließen.“

Mit Schrei­ben vom 28. No­vem­ber 2011 kündig­te die Be­klag­te das Ar­beits­verhält­nis frist­los. Hier­ge­gen er­hob Herr L. Kündi­gungs­schutz­kla­ge. Die Kläge­rin leis­te­te an ihn für den Zeit­raum vom 29. No­vem­ber 2011 bis zum 30. De­zem­ber 2011 Kran­ken­geld in Höhe von 1.303,36 Eu­ro. Mit Schrei­ben vom 5. März 2012 erklärte die Be­klag­te ge­genüber der Kläge­rin, dass sie für den Fall, dass das Ar­beits­verhält­nis durch Ur­teil oder Ver­gleich im Ar­beits­ge­richts­ver­fah­ren verlängert würde, auf die Ein­re­de des Lohn­ver­falls ver­zich­te. Am 21. Ju­ni 2012 ei­nig­ten sich die Be­klag­te und Herr L. im Kündi­gungs­schutz-ver­fah­ren auf ei­ne Be­en­di­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses zum 30. De­zem­ber 2011. Mit Schrei­ben vom 18. Ju­li 2012 ver­lang­te die Be­klag­te von Herrn L. Aus­kunft über „al­le für die Ent­ste­hung der be­haup­te­ten Al­ko­hol­abhängig­keit er­heb­li­chen Umstände“. Die­ser re­agier­te nicht. Die Kläge­rin mach­te mit Schrei­ben vom 19. Ju­li 2012 Ansprüche auf Ent­gelt­fort­zah­lung aus über­ge­gan­ge­nem Recht in Höhe von 1.303,36 Eu­ro ge­genüber der Be­klag­ten gel­tend.

Die Kläge­rin hat die Auf­fas­sung ver­tre­ten, es ha­be ei­ne von Herrn L. nicht ver­schul­de­te Krank­heit vor­ge­le­gen. Dies wer­de durch das Gut­ach­ten des Me­di­zi­ni­schen Diens­tes der Kran­ken­kas­sen bestätigt. Ihr ste­he da­her aus über­ge­gan­ge­nem Recht ein Ent­gelt­fort­zah­lungs­an­spruch für den Zeit­raum vom 29. No­vem­ber 2011 bis zum 30. De­zem­ber 2011 in Höhe des ge­leis­te­ten Kran­ken­gel­des zu.


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Die Kläge­rin hat be­an­tragt, 

die Be­klag­te zu ver­ur­tei­len, das ge­zahl­te Kran­ken­geld für die Zeit vom 29. No­vem­ber 2011 bis zum 30. De­zem­ber 2011 in Höhe von 1.303,36 Eu­ro zu er­stat­ten.

Die Be­klag­te hat Kla­ge­ab­wei­sung be­an­tragt. Sie hat die Auf­fas­sung ver­tre­ten, die Er­kran­kung sei ver­schul­det ge­we­sen. Wer­de ein Ar­beit­neh­mer nach ei­ner sta­ti­onären Ent­zie­hungs­kur rückfällig, spre­che dies für ein Ver­schul­den. In ei­ner sol­chen Kur würden stets Hin­wei­se zur Ver­mei­dung je­den Al­ko­hol­ge­nus­ses ge­ge­ben.

Ar­beits­ge­richt und Lan­des­ar­beits­ge­richt ha­ben der Kla­ge statt­ge­ge­ben. Mit der vom Lan­des­ar­beits­ge­richt zu­ge­las­se­nen Re­vi­si­on be­gehrt die Be­klag­te wei­ter­hin Kla­ge­ab­wei­sung.


Ent­schei­dungs­gründe

Die zulässi­ge Re­vi­si­on ist un­be­gründet. Zwar kann der Kla­ge nicht mit der vom Lan­des­ar­beits­ge­richt ge­ge­be­nen Be­gründung statt­ge­ge­ben wer­den, wo­nach ein Rück­fall ei­nes al­ko­hol­abhängi­gen Ar­beit­neh­mers nach ei­ner durch­geführ­ten The­ra­pie stets als un­ver­schul­det iSv. § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG an­zu­se­hen ist. Die Ar­beits­unfähig­keit des Herrn L. im streit­ge­genständ­li­chen Zeit­raum war aber im kon­kre­ten Fall un­ver­schul­det im ent­gelt­fort­zah­lungs­recht­li­chen Sinn. Herr L. hat­te da­her ei­nen An­spruch auf Ent­gelt­fort­zah­lung ge­gen die Be­klag­te, der gemäß § 115 Abs. 1 SGB X in Höhe des von der Kläge­rin ge­zahl­ten Kran­ken­gel­des auf die­se über­ge­gan­gen ist. Die Ent­schei­dung des Lan­des­ar­beits­ge­richts er­weist sich da­mit im Er­geb­nis als zu­tref­fend (§ 563 Abs. 3 ZPO).

I. Der Ar­beit­neh­mer L. hat­te ge­gen die Be­klag­te An­spruch auf Ent­gelt­fort­zah­lung nach § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG für die Zeit von 29. No­vem­ber 2011 bis 30. De­zem­ber 2011. Er hat die zur Ar­beits­unfähig­keit führen­de Krank­heit nicht iSd. Be­stim­mun­gen des EFZG ver­schul­det.


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1. Das Ar­beits­verhält­nis der Par­tei­en en­de­te nicht durch die außer­or­dent­li­che Kündi­gung vom 28. No­vem­ber 2011, son­dern gemäß dem In­halt des im Kündi­gungs­schutz­ver­fah­ren ge­schlos­se­nen Ver­gleichs vom 21. Ju­ni 2012 erst mit dem 30. De­zem­ber 2011. Es konn­ten da­her - un­abhängig von § 8 EFZG - noch Ent­gelt­fort­zah­lungs­ansprüche für den streit­ge­genständ­li­chen Zeit­raum ent­ste­hen.

2. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG hat ein Ar­beit­neh­mer An­spruch auf Ent­gelt­fort­zah­lung im Krank­heits­fall durch den Ar­beit­ge­ber für die Zeit der Ar­beits­unfähig­keit bis zur Dau­er von sechs Wo­chen, wenn er durch Ar­beits­unfähig­keit in­fol­ge Krank­heit an sei­ner Ar­beits­leis­tung ver­hin­dert ist, oh­ne dass ihn ein Ver­schul­den trifft. Nach in­zwi­schen all­ge­mei­ner Auf­fas­sung han­delt es sich bei ei­ner Al­ko­hol­abhängig­keit und den dar­aus re­sul­tie­ren­den Fol­gen um ei­ne Krank­heit iSd. EFZG (grund­le­gend BAG 1. Ju­ni 1983 - 5 AZR 536/80 - zu I 2 und 4 der Gründe, BA­GE 43, 54; of­fen ge­las­sen noch von BAG 22. März 1973 - 5 AZR 567/72 - zu 1 der Gründe; Sch­mitt 7. Aufl. § 3 EFZG Rn. 51 mwN; vgl. auch zur erst­ma­li­gen An­er­ken­nung der „Trunk­sucht“ als Krank­heit iSd. RVO: BSG 18. Ju­ni 1968 - 3 RK 63/66 - BS­GE 28, 114). Durch die­se Krank­heit des Herrn L. ist Ar­beits­unfähig­keit ein­ge­tre­ten.

3. Schuld­haft iSv. § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG han­delt nur der Ar­beit­neh­mer, der in er­heb­li­chem Maße ge­gen die von ei­nem verständi­gen Men­schen im ei­ge­nen In­ter­es­se zu er­war­ten­de Ver­hal­tens­wei­se verstößt.

a) Bei dem Ver­schul­den iSv. § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG han­delt es sich nicht um ein Ver­schul­den iSv. § 276 BGB, der das Maß an Ver­hal­ten­s­an­for­de­run­gen des Schuld­ners ge­genüber Drit­ten be­stimmt. Da­ge­gen be­trifft das Ent­ste­hen ei­ner Krank­heit und/oder die dar­aus re­sul­tie­ren­de Ar­beits­unfähig­keit die Per­son des Ar­beit­neh­mers selbst. Es gilt des­halb fest­zu­stel­len, ob ein „Ver­schul­den ge­gen sich selbst“ vor­liegt. Schuld­haft im Sin­ne des Ent­gelt­fort­zah­lungs­rechts han­delt nach der zu den in­halts­glei­chen Vorgänger­re­ge­lun­gen (§ 1 Abs. 1 LohnFG, § 616 Satz 1 BGB, § 63 Abs. 1 Satz 1 HGB, § 133c Satz 1 Ge­wO) er­gan­ge­nen Recht­spre­chung des­halb nur der Ar­beit­neh­mer, der in er­heb­li­chem Maße ge­gen die von ei­nem verständi­gen Men­schen im ei­ge­nen In­ter­es­se zu


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er­war­ten­de Ver­hal­tens­wei­se verstößt (vgl. zu­letzt BAG 27. Mai 1992 - 5 AZR 297/91 - zu II 2 der Gründe; 11. No­vem­ber 1987 - 5 AZR 497/86 - zu I 1 der Gründe, BA­GE 56, 321). Da­bei ist - an­ders als bei der Haf­tung für Sorg­falt in ei­ge­nen An­ge­le­gen­hei­ten nach § 277 BGB (vgl. da­zu Pa­landt/Grüne­berg 74. Aufl. § 277 Rn. 3) - von ei­nem ob­jek­ti­ven Maßstab aus­zu­ge­hen. Er­for­der­lich ist ein gro­ber oder gröbli­cher Ver­s­toß ge­gen das Ei­gen­in­ter­es­se ei­nes verständi­gen Men­schen und da­mit ein be­son­ders leicht­fer­ti­ges oder vorsätz­li­ches Ver-hal­ten (ErfK/Rein­hard 15. Aufl. § 3 EFZG Rn. 23; MüKoBGB/Müller-Glöge 6. Aufl. § 3 EFZG Rn. 36; Sch­mitt § 3 EFZG Rn. 121; Vo­gel­sang Ent­gelt­fort­zah­lung Rn. 126 je­weils mwN). So­weit Tei­le des Schrift­tums - auch un­ter Hin­weis auf § 617 Abs. 1 Satz 1 BGB - di­rekt auf den Maßstab „Vor­satz und gro­be Fahrlässig­keit“ zurück­grei­fen (grund­le­gend Hof­mann ZfA 1979, 275, 310 ff.; wohl auch Stau­din­ger/Oet­ker Neu­be­ar­bei­tung 2011 § 616 Rn. 244 mwN; Braun Der Be­griff des Ver­schul­dens im Recht der Lohn­fort­zah­lung im Krank­heits­fall Diss. 1993 S. 64 f.), schlägt sich dies im Er­geb­nis nicht nie­der (so zu­tref­fend Stau­din­ger/Oet­ker aaO; Sch­mitt aaO). Viel­mehr un­ter­schei­det sich die in der Recht­spre­chung ent­wi­ckel­te For­mel, an der auch für das EFZG fest­zu­hal­ten ist, der Sa­che nach nicht vom Maßstab des § 617 BGB, durch den für be­stimm­te Dienst­verhält­nis­se kon­kre­ti­siert wird, wel­ches Ver­schul­den als er­heb­lich an­zu­se­hen ist.

b) Kein Tat­be­stands­merk­mal des § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG ist hin­ge­gen der Ge­dan­ke, dass es un­bil­lig wäre, dem Ar­beit­ge­ber vom Ar­beit­neh­mer selbst ver­schul­de­te Ent­gelt­fort­zah­lungs­kos­ten auf­zubürden (miss­verständ­lich BAG 1. Ju­ni 1983 - 5 AZR 536/80 - zu I 3 a der Gründe, BA­GE 43, 54). Es han­delt sich um ein bloßes Be­gründungs­ele­ment zur Recht­fer­ti­gung der Be­schränkung des grundsätz­lich be­ste­hen­den Ent­gelt­fort­zah­lungs­an­spruchs (ErfK/Rein­hard § 3 EFZG Rn. 23; MüKoBGB/Müller-Glöge § 3 EFZG Rn. 36; aA Sch­mitt § 3 EFZG Rn. 124 „ob­jek­ti­ves Ele­ment“). Da­bei ist zu berück­sich­ti­gen, dass die Ent­gelt­fort­zah­lung bei Ar­beits­unfähig­keit nicht nur den In­di­vi­dual­in­ter­es­sen des Ar­beit­neh­mers dient, son­dern § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG ei­ne ge­setz­lich an­ge­ord­ne­te Ri­si­ko­ver­tei­lung zwi­schen Ar­beit­ge­ber und Kran­ken­ver­si­che­rung fest­legt. Der Ar­beit­ge­ber hat grundsätz­lich für den Zeit­raum von bis zu sechs Wo­chen


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Ent­gelt­fort­zah­lung zu leis­ten. Oh­ne den ge­gen den Ar­beit­ge­ber ge­rich­te­ten Ent­gelt­fort­zah­lungs­an­spruch nach § 3 Abs. 1 EFZG könn­te der Ar­beit­neh­mer von der Kran­ken­kas­se die Zah­lung von Kran­ken­geld ver­lan­gen. Die Ver­pflich­tung zur Zah­lung ruht, so­lan­ge der Ver­si­cher­te Zah­lun­gen vom Ar­beit­ge­ber erhält (§ 49 Abs. 1 Nr. 1 SGB V). § 3 EFZG dient ganz we­sent­lich der Ent­las­tung der ge­setz­li­chen Kran­ken­kas­sen und da­mit mit­tel­bar al­ler Bei­trags­zah­ler (BAG 12. De­zem­ber 2001 - 5 AZR 255/00 - zu B II 2 b der Gründe, BA­GE 100, 130).

c) Aus der sprach­li­chen Fas­sung des § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG folgt, dass das Ri­si­ko der Un­aufklärbar­keit der Ur­sa­chen ei­ner Krank­heit oder Ar­beits­unfähig­keit und ei­nes mögli­chen Ver­schul­dens des Ar­beit­neh­mers dar­an beim Ar­beit­ge­ber liegt (st. Rspr., zB BAG 1. Ju­ni 1983 - 5 AZR 536/80 - zu II 1 der Gründe, BA­GE 43, 54); dies gilt auch im Fall des An­spruchsüber­gangs (BAG 7. Au­gust 1991 - 5 AZR 410/90 - zu II der Gründe, BA­GE 68, 196).

4. Nach die­sem Maßstab kann nach dem Stand der wis­sen­schaft­li­chen Er­kennt­nis­se we­der aus der Al­ko­hol­abhängig­keit selbst noch aus de­ren Ent­ste­hen ein Ver­schul­den iSv. § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG für da­mit un­mit­tel­bar in Zu­sam­men­hang ste­hen­de Ar­beits­unfähig­keits­zei­ten ab­ge­lei­tet wer­den.

a) Die Recht­spre­chung ging zunächst da­von aus, dass Trunk­sucht und de­ren Fol­gen nach der Le­bens­er­fah­rung je­den­falls in al­ler Re­gel selbst ver­schul­det sind (vgl. zu­letzt zB BAG 7. De­zem­ber 1972 - 5 AZR 350/72 - BA­GE 24, 477; 22. März 1973 - 5 AZR 567/72 -). Mit Ur­teil vom 1. Ju­ni 1983 (- 5 AZR 536/80 - BA­GE 43, 54) wur­de die­se Auf­fas­sung un­ter Hin­weis auf an­ders­lau­ten­de wis­sen­schaft­li­che For­schungs­er­geb­nis­se auf­ge­ge­ben und an­ge­nom­men, dass der Ar­beit­neh­mer nach Ein­tritt der Er­kran­kung nicht mehr schuld­haft im Sin­ne der Lohn­fort­zah­lungs­be­stim­mun­gen han­deln kann. Fest­ge­hal­ten wur­de al­ler­dings an der schon früher ver­tre­te­nen Auf­fas­sung, dass für die Be­ur­tei­lung der Ver­schul­dens­fra­ge in Fällen der Al­ko­hol­abhängig­keit auf das Ver­hal­ten des Ar­beit­neh­mers „zu Be­ginn des Al­ko­hol­miss­brauchs“ (BAG 7. De­zem­ber 1972 - 5 AZR 350/72 - aaO) bzw. - nach neu­er For­mu­lie­rung - auf das Ver­hal­ten vor dem Zeit­punkt ab­zu­stel­len ist, in dem die als Krank­heit zu wer­ten­de Al­ko­hol­abhängig­keit ein­ge­tre­ten ist (BAG 1. Ju­ni 1983 - 5 AZR
 

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536/80 - zu I 3 b der Gründe, aaO). Bei an­de­ren Er­kran­kun­gen las­sen sich für ei­ne Er­for­schung der Krank­heits­ur­sa­chen hin­ge­gen kei­ne Bei­spie­le fin­den (so die Kri­tik von Schäfer Al­ko­hol und Ar­beits­verhält­nis Diss. 1995 S. 135 ff.). Um ei­ne sol­che Über­prüfung über­haupt zu ermögli­chen, nahm die Recht­spre­chung ei­ne Mit­wir­kungs­pflicht des Ar­beit­neh­mers bei der Su­che nach den Gründen sei­ner Al­ko­hol­abhängig­keit an, ver­bun­den mit ei­ner ent­spre­chen­den Dar­le­gungs­last des Ar­beit­ge­bers (BAG 1. Ju­ni 1983 - 5 AZR 536/80 - zu II 2 der Gründe, aaO; 7. Au­gust 1991 - 5 AZR 410/90 - zu II der Gründe, BA­GE 68, 196).

b) Hier­an hält der Se­nat un­ter Berück­sich­ti­gung des ak­tu­el­len Stan­des der wis­sen­schaft­li­chen For­schung zur Ent­ste­hung ei­ner Al­ko­hol­abhängig­keit nicht mehr fest. Es kann nach die­sen Er­kennt­nis­sen nicht mit der für die An­nah­me ei­nes Ver­schul­dens iSv. § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG er­for­der­li­chen Deut­lich­keit fest­ge­stellt wer­den, was im Ein­zel­fall die Ur­sa­che für die Al­ko­hol­abhängig­keit ist und dass wil­lens­ge­steu­er­tes Ver­hal­ten des Ar­beit­neh­mers in re­le­van­tem Um­fang dar­an ei­nen An­teil hat.

aa) Der Aus­bruch ei­ner Al­ko­hol­krank­heit be­ruht auf ei­ner mul­ti­fak­t­o­ri­el­len Ge­ne­se. Dies be­deu­tet, dass we­der die abhängig­keits­er­zeu­gen­de Wir­kung des Al­ko­hols noch in der Per­son oder auf die­se ein­wir­ken­de Fak­to­ren je­weils für sich ge­nom­men zur Ent­ste­hung der Sucht führen. Viel­mehr han­delt es sich um ei­ne mul­tik­au­sa­le, in­ter­ak­ti­ve Ent­wick­lung. Zu die­ser tra­gen - ne­ben dem Fak­tor Al­ko­hol selbst - un­ter an­de­rem die ge­ne­ti­sche Prädis­po­si­ti­on, die in­di­vi­du­el­le psy­chi­sche Dis­po­si­ti­on, das psy­cho­so­zia­le Um­feld ein­sch­ließlich der Her­kunfts­fa­mi­lie und die so­zia­len Le­bens­be­zie­hun­gen bis hin zu re­li­giösen Ein­flüssen bei (vgl. zB Soy­ka/Küfner Al­ko­ho­lis­mus - Miss­brauch und Abhängig­keit 6. Aufl. S. 69 ff.; Tret­ter Sucht­me­di­zin kom­pakt 2. Aufl. S. 39 ff.). Hin­zu kom­men neu­ro-bio­lo­gi­sche und neu­ro­che­mi­sche Fol­gen des Al­ko­hol­kon­sums und da­mit ver­bun­de­ne ver­hal­tens­re­le­van­te Verände­run­gen der Zell­struk­tur (da­zu Tret­ter Sucht­me­di­zin kom­pakt S. 21 ff.).

bb) Zwar gibt es in­ner­halb der Wis­sen­schaft je nach Fach­ge­biet und 


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Schu­le ver­schie­de­ne Erklärungs­ansätze für das Ent­ste­hen von Al­ko­ho­lis­mus, die auch die Fak­to­ren un­ter­schied­lich ge­wich­ten (hier­zu Gast­par/Mann/ Rom­mel­s­pa­cher Lehr­buch der Such­ter­kran­kun­gen S. 28 ff.). Al­le Ansätze ha-en aber ge­mein, dass ei­ne sin­guläre - wil­lent­lich steu­er­ba­re - Ur­sa­che dafür, war­um bei ei­ner ein­zel­nen Per­son ei­ne Al­ko­hol­abhängig­keit ein­tritt, nicht fest­stell­bar ist. So wird heu­te in der Me­di­zin zur Erklärung der Ur­sa­chen des Al­ko­ho­lis­mus im All­ge­mei­nen auf ein Ur­sa­chend­rei­eck ver­wie­sen, in dem sich die Dro­ge Al­ko­hol, das be­trof­fe­ne In­di­vi­du­um und die so­zia­len Be­zie­hun­gen wech­sel­sei­tig be­din­gen (Soy­ka/Küfner S. 20 f.; Tret­ter Sucht­me­di­zin kom­pakt S. 12 ff.). Dies be­deu­tet in­des­sen nicht, dass nicht durch wil­lens­ge­steu­er­te Hand­lun­gen die Ent­ste­hung von Al­ko­hol­abhängig­keit auch bei Ri­si­ko­grup­pen be­ein­fluss­bar wäre. Doch kann den heu­ti­gen me­di­zi­ni­schen Er­kennt­nis­sen nicht ent­nom­men wer­den, dass der wil­lens­ge­steu­er­te An­teil am Ent­ste­hen der Al­ko­hol­sucht der­art im Vor­der­grund ste­hen kann, dass er als vorsätz­li­ches oder be­son­ders leicht­fer­ti­ges Ver­hal­ten iSv. § 3 Abs. 1 EFZG ge­wer­tet wer­den kann. Das In­ein­an­der­grei­fen der ganz un­ter­schied­li­chen phy­si­schen und psy­chi­schen Dis­po­si­tio­nen und die da­mit ein­her­ge­hen­den kom­ple­xen wech­sel­sei­ti­gen sti­mu­lie­ren­den und hem­men­den Wir­kungs­zu­sam­menhänge ste­hen in Be­zug auf Ar­beits­unfähig­keits­zei­ten, die un­mit­tel­bar aus der Al­ko­hol­abhängig­keit re­sul­tie­ren oder un­trenn­bar mit die­ser zu­sam­menhängen (vgl. zur Ab­gren­zung BAG 30. März 1988 - 5 AZR 42/87 - BA­GE 57, 380 zum Fall der Kfz-Nut­zung in noch steue­rungsfähi­gem Zu­stand), der An­nah­me ent­ge­gen, Al­ko­hol­sucht könne vorsätz­lich oder be­son­ders leicht­fer­tig wil­lens­ge­steu­ert her­bei­geführt wer­den.

c) Es be­darf vor die­sem Hin­ter­grund kei­ner Ent­schei­dung, ob oder ggf. in wel­chen Fällen es sich bei Al­ko­hol­abhängig­keit um ei­ne Be­hin­de­rung iSd. § 1 AGG und iSd. RL 2000/78/EG han­delt (vgl. zum Be­griff BAG 19. De­zem­ber 2013 - 6 AZR 190/12 - Rn. 57 ff. mwN), wo­bei in­so­weit an­er­kannt ist, dass es nicht auf die Ur­sa­che ei­ner Be­hin­de­rung, ins­be­son­de­re in­wie­weit der Be­tref­fen­de zu ih­rem Ent­ste­hen bei­ge­tra­gen hat, an­kommt (zu­letzt EuGH 18. De­zem­ber 2014 - C-354/13 - [FOA] Rn. 53 mwN, 55 f.). Eben­so we­nig ist zu ent­schei­den, wel­che Schluss­fol­ge­run­gen hier­aus ggf. für das Recht der Ent­gelt­fort­zah­lung zu zie­hen wären.



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5. An­ders als das Lan­des­ar­beits­ge­richt an­ge­nom­men hat, gibt es al­ler­dings kei­ne hin­rei­chend deut­li­chen wis­sen­schaft­li­chen Be­le­ge dafür, dass auch im Fall des Rück­falls nach ei­ner „er­folg­reich“ durch­geführ­ten Ent­zie­hungs­kur mit an­sch­ließen­der The­ra­pie in kei­nem Fall von ei­nem Ver­schul­den iSv. § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG aus­ge­gan­gen wer­den kann. In­so­weit er­weist sich die an­ge­grif­fe­ne Ent­schei­dung als rechts­feh­ler­haft. Zwar wird im Hin­blick auf die mul­tik­au­sa­len Ur­sa­chen der Al­ko­hol­abhängig­keit zu­meist ein sol­ches Ver­schul­den auch bei ei­nem Rück­fall nicht fest­stell­bar sein. Aus­zu­sch­ließen ist dies im Ein­zel­fall nach dem Stand der me­di­zi­ni­schen For­schung aber nicht, so dass die­ser Um­stand bei ent­spre­chen­dem Vor­trag und Be­strei­ten des Ar­beit­ge­bers der Aufklärung - re­gelmäßig durch Ein­ho­lung ei­nes Sach­verständi­gen­gut­ach­tens - be­darf.

a) Die Recht­spre­chung hat bis­her an­ge­nom­men, dass der Ar­beit­neh­mer, der ei­ne Ent­zie­hungs­kur mit an­sch­ließen­der The­ra­pie durch­geführt hat, auf die Ge­fah­ren des Al­ko­hol­ge­nus­ses hin­ge­wie­sen wur­de, die­se kennt und er­mahnt wor­den ist, in Zu­kunft je­den Al­ko­hol­ge­nuss zu ver­mei­den. Wer­de ein sol­cher Ar­beit­neh­mer nach er­folg­rei­cher Be­en­di­gung der Kur und ei­ner länge­ren Zeit der Ab­sti­nenz den­noch rückfällig, spre­che die Le­bens­er­fah­rung dafür, dass er die ihm er­teil­ten drin­gen­den Rat­schläge miss­ach­tet und sich wie­der dem Al­ko­hol zu­ge­wandt hat. Ein sol­ches Ver­hal­ten be­gründe im All­ge­mei­nen den Vor­wurf ei­nes Ver­schul­dens ge­gen sich selbst (BAG 11. No­vem­ber 1987 - 5 AZR 497/86 - zu II 2 der Gründe, BA­GE 56, 321; 11. Mai 1988 - 5 AZR 445/87 - zu II der Gründe; 27. Mai 1992 - 5 AZR 297/91 - zu II 2 und 3 der Gründe). In ähn­li­cher Wei­se geht das Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt da­von aus, dass der Rück­fall ei­nes al­ko­hol­abhängi­gen Be­am­ten in die Al­ko­hol­sucht ei­ne Dienst­pflicht­ver­let­zung dar­stel­len kann. Es nimmt ein vor­werf­ba­res Ver­hal­ten an, wenn der Be­am­te ei­ne sta­ti­onäre Ent­zie­hungs­be­hand­lung durch­geführt hat und über die Fol­gen ei­nes Rück­falls dienst­lich be­lehrt wur­de. Da­bei darf al­ler­dings kein vernünf­ti­ger Zwei­fel be­ste­hen, dass der Be­am­te durch die Be­hand­lung in die La­ge ver­setzt wor­den ist, dau­er­haft al­ko­hol­ab­sti­nent zu le­ben (vgl. zB BVerwG 10. Ja­nu­ar 1984 - 1 D 13.83 - BVerw­GE 76, 128; 15. März 1994 - 1 D 42.93 -; 16. Fe­bru­ar 2012 - 1 D 2.11 -).


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b) Die Auf­fas­sun­gen im Schrift­tum sind ge­spal­ten. Teil­wei­se wird aus ei­nem Rück­fall nach sta­ti­onärer Be­hand­lung und ent­spre­chen­der Aufklärung ei­ne Um­kehr der Be­weis­last ab­ge­lei­tet (MüKoBGB/Müller-Glöge § 3 EFZG Rn. 43), nach an­de­rer Auf­fas­sung kann in ei­nem Rück­fall je­den­falls ein wich­ti­ges In­diz für ein Ver­schul­den ge­se­hen wer­den (ErfK/Rein­hard § 3 EFZG Rn. 27; Feicht­in­ger/Malk­mus/P. Feicht­in­ger EFZG 2. Aufl. § 3 Rn. 150). Ei­ne ver­brei­te­te An­sicht sieht hin­ge­gen die Ge­fahr von Rückfällen als Teil des Krank­heits­bil­des. Da nach ei­ner er­folg­reich ver­lau­fen­den Heil­be­hand­lung zwar die phy­si­sche Abhängig­keit nicht wei­ter fort­be­ste­he, je­doch die psy­chi­sche Abhängig­keit un­verändert be­ste­hen blei­be (Künzl NZA 1998, 122, 123), sei auch un­ter Berück­sich­ti­gung der ho­hen Rück­fall­quo­te zwei­fel­haft, ob ei­ne auf ei­nem Al­ko­hol­miss­brauch be­ru­hen­de Ar­beits­unfähig­keit nach ei­nem Rück­fall schuld­haft iSd. § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG her­bei­geführt wor­den sei (Tre­ber EFZG 2. Aufl. § 3 Rn. 80; Vo­gel­sang Ent­gelt­fort­zah­lung Rn. 150; Lep­ke Kündi­gung bei Krank­heit 15. Aufl. Rn. 380; APS/Dörner/Vos­sen 4. Aufl. § 1 KSchG Rn. 230; ähn­lich Bro­se DB 2013, 1727, 1728 im Hin­blick auf die Not­wen­dig­keit ei­nes BEM; vgl. mit um­fas­sen­der Kri­tik an der bis­he­ri­gen Recht­spre­chung Schäfer Al­ko­hol und Ar­beits­verhält­nis S. 144 ff.).

c) Der Se­nat geht nach dem Stand der der­zei­ti­gen wis­sen­schaft­li­chen Er­kennt­nis­se nicht mehr da­von aus, dass bei ei­nem Rück­fall re­gelmäßig ein Ver­schul­den an­ge­nom­men wer­den kann, und hält auch in­so­weit an der bis­he­ri­gen Recht­spre­chung nicht mehr fest. Al­ler­dings kann nicht aus­ge­schlos­sen wer­den, dass im Ein­zel­fall ein Ver­schul­den iSd. § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG vor­liegt. Ei­nem ent­spre­chen­den Ein­wand des Ar­beit­ge­bers ist des­halb nach­zu­ge­hen.

aa) Der Al­ko­ho­lis­mus als Krank­heit ist nicht heil­bar in dem Sin­ne, dass die Krank­heit und ih­re Ur­sa­chen ein für al­le Mal be­sei­tigt wären. Auch nach durch­geführ­ter The­ra­pie be­steht wei­ter ein Rück­fall­ri­si­ko. Die Ge­fahr des Rück­falls und die ho­he An­zahl der Rückfälle sind Teil des Krank­heits­bil­des (Lep­ke Rn. 380 mwN). Die Be­ur­tei­lung des Be­hand­lungs­er­folgs hängt da­bei maßgeb­lich von Art und Dau­er der The­ra­pie so­wie von In­ter­ven­tio­nen zur Rück­fall­bewälti­gung ab. Die sta­tis­ti­schen Er­he­bun­gen va­ri­ie­ren dem­zu­fol­ge (ausführ­lich


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Lep­ke Rn. 380 ff.; zur Me­tho­den­kri­tik an der Eva­lu­ie­rung der The­ra­pi­en Soy­ka/Küfner S. 429 ff.). Als Faust­re­gel kann je­doch an­ge­nom­men wer­den, dass nach sta­ti­onärer Entwöhnungs­be­hand­lung ca. 50 % der Al­ko­hol­abhängi­gen ein Jahr nach der Be­hand­lung durch­ge­hend al­ko­hol­ab­sti­nent sind (Soy­ka/Küfner S. 444). Nach an­de­ren Un­ter­su­chun­gen sind et­wa 50 % der Per­so­nen, die an ei­ner Al­ko­hol­entwöhnungs­the­ra­pie teil­ge­nom­men ha­ben, nach 5 und 10 Jah­ren ab­sti­nent, et­wa die Hälf­te von ih­nen hat­te zwi­schen­zeit­lich je­doch ei­nen oder meh­re­re Rückfälle (Trie­big/Kent­ner/Schie­le/Kup­fer Ar­beits­me­di­zin 3. Aufl. S. 716 Ziff. 35.10). Bei der Be­wer­tung des Rück­fall­ri­si­kos ste­hen nach der­zei­ti­gem Stand der For­schung in­tra­per­so­na­le Ein­fluss­fak­to­ren und un­an­ge­neh­me Gefühls­zustände wie bei­spiels­wei­se Ängs­te und De­pres­si­vität an der Spit­ze der Rück­fall­be­din­gun­gen, während bei­spiels­wei­se Al­ko­hol­ver­lan­gen, das Aus­tes­ten der ei­ge­nen Kon­trollfähig­keit, die Trin­kauf­for­de­rung oder das Zu­sam­men­sein mit Men­schen, die trin­ken, ei­ne ver­gleichs­wei­se ge­rin­ge­re Rol­le spie­len (Soy­ka/Küfner S. 386).

bb) Da­nach kann nicht an­ge­nom­men wer­den, dass re­gelmäßig ei­ne der Ver­schul­dens­fest­stel­lung iSd. § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG zugäng­li­che wil­lent­li­che Ent­schei­dung des Al­ko­hol­abhängi­gen zu ei­nem Rück­fall führt oder für die­sen zu­min­dest mit­ursächlich ist. Hier­auf kann auch nicht oh­ne Wei­te­res aus ei­ner ent­spre­chen­den Be­leh­rung im Rah­men ei­ner The­ra­pie ge­schlos­sen wer­den. Eben­so we­nig gibt es aber im Ge­gen­satz zur An­nah­me des Lan­des­ar­beits­ge­richts ge­si­cher­te wis­sen­schaft­li­che Er­kennt­nis­se, die ein Ver­schul­den iSd. § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG ge­ne­rell aus­schlössen. Zwar wird die Mul­tik­au­sa­lität der Al­ko­hol­abhängig­keit sich häufig in den Ur­sa­chen ei­nes Rück­falls wi­der­spie­geln und des­halb ein schuld­haf­tes Ver­hal­ten im ent­gelt­fort­zah­lungs­recht­li­chen Sinn nicht fest­zu­stel­len sein. Ge­nau­en Auf­schluss über die Ver­schul­dens­fra­ge im Ein­zel­fall kann aber nur ei­ne fach­me­di­zi­ni­sche Be­gut­ach­tung ge­ben; de­ren Er­geb­nis darf nicht oh­ne ent­spre­chen­de all­ge­meingülti­ge Er­kennt­nis­se vor­weg­ge­nom­men wer­den. Nur durch ei­ne sol­che Be­gut­ach­tung ist es möglich, un­ter Berück­sich­ti­gung der Schwe­re der Al­ko­hol­abhängig­keit und al­ler zum Rück­fall führen­den Fak­to­ren hierüber ei­ne Aus­sa­ge zu tref­fen.
 

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cc) Be­haup­tet des­halb der Ar­beit­ge­ber un­ter Vor­trag ent­spre­chen­der An­halts­punk­te, dass ei­ne Ar­beits­unfähig­keit auf ei­nem ver­schul­de­ten Rück­fall nach durch­geführ­ter er­folg­rei­cher The­ra­pie be­ruht, muss sich der Ar­beit­neh­mer gemäß § 138 Abs. 2 ZPO hier­zu erklären. Bei ent­spre­chen­dem Be­weis­an­ge­bot hat er sich im Rah­men sei­ner Mit­wir­kungs­pflicht ei­ner ärzt­li­chen Be­gut­ach­tung zur Fra­ge der schuld­haf­ten Her­beiführung des Rück­falls zu un­ter­zie­hen und in­so­weit ei­ne Ent­bin­dung von der ärzt­li­chen Schwei­ge­pflicht vor­zu­neh­men. Lehnt er dies ab, gilt der Ein­wand des Ar­beit­ge­bers als zu­ge­stan­den und es ist von ei­ner ver­schul­de­ten Ar­beits­unfähig­keit iSv. § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG aus­zu­ge­hen. Kennt der Ar­beit­ge­ber - wie häufig - die Ur­sa­chen der Ar­beits­unfähig­keit nicht, hat sich der Ar­beit­neh­mer auf ei­ne ent­spre­chen­de Be­fra­gung des Ar­beit­ge­bers wahr­heits­gemäß auch zu der Fra­ge zu äußern, ob ein Rück­fall in die Al­ko­hol­abhängig­keit vor­liegt. Hin­ge­gen be­steht kein Fra­ge­recht des Ar­beit­ge­bers nach den Gründen des Rück­falls und kei­ne ent­spre­chen­de Aus­kunfts­pflicht des Ar­beit­neh­mers (so aber noch BAG 7. Au­gust 1991 - 5 AZR 410/90 - BA­GE 68, 196), da we­der Ar­beit­ge­ber noch Ge­richt im Hin­blick auf die Mul­tik­au­sa­lität der Rück­fall­ur­sa­chen oh­ne ent­spre­chen­den me­di­zi­ni­schen Sach­ver­stand ei­ne qua­li­fi­zier­te Aus­sa­ge zum Ver­schul­den des Ar­beit­neh­mers tref­fen könn­ten. Hat der Ar­beit­ge­ber nach die­sen Grundsätzen zum Vor­lie­gen ei­nes Rück­falls vor­ge­tra­gen und Be­weis durch Sach­verständi­gen­gut­ach­ten oder ggf. Ver­neh­mung ei­nes sach­verständi­gen Zeu­gen an­ge­bo­ten, ist dem nach­zu­ge­hen, so­weit nicht durch un­strei­ti­gen, me­di­zi­nisch fun­dier­ten Tat­sa­chen­vor­trag die Ver­schul­dens­fra­ge ein­deu­tig geklärt ist. Blei­ben nach der Be­gut­ach­tung Zwei­fel, geht dies zu­las­ten des Ar­beit­ge­bers (st. Rspr., zB BAG 1. Ju­ni 1983 - 5 AZR 536/80 - zu II 1 der Gründe, BA­GE 43, 54).

6. Aus­ge­hend von die­sen Grundsätzen sind nach den Fest­stel­lun­gen des Lan­des­ar­beits­ge­richts An­halts­punk­te für ein Ver­schul­den des Ar­beit­neh­mers L. an dem Rück­fall und der dar­aus fol­gen­den Ar­beits­unfähig­keit nicht er­kenn­bar. Dies gilt auch, wenn man zu­guns­ten der Be­klag­ten von ei­ner durch Herrn L. er­folg­reich durch­geführ­ten The­ra­pie aus­geht. Der Se­nat kann in­so­weit nach § 563 Abs. 3 ZPO selbst ent­schei­den, die Ent­schei­dung des Lan­des­ar­beits­ge­richts er­weist sich da­bei im Er­geb­nis als rich­tig.


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Die Kläge­rin hat das So­zi­al­me­di­zi­ni­sche Gut­ach­ten des MDK N vom 14. Mai 2013 vor­ge­legt und sich den In­halt als Sach­vor­trag zu ei­gen ge­macht. Die Be­klag­te hat die­sen Sach­vor­trag nicht be­strit­ten. Dass die im Gut­ach­ten ent­hal­te­nen Erklärun­gen von der be­gut­ach­ten­den Ärz­tin ab­ge­ge­ben wur­den, ist im Übri­gen gemäß § 416 ZPO nach­ge­wie­sen. Nach den ent­spre­chen­den Fest­stel­lun­gen des Lan­des­ar­beits­ge­richts, die auch im Re­vi­si­ons­ver­fah­ren nicht mit Ver­fah­rensrügen an­ge­grif­fen wur­den, war der Ar­beit­neh­mer L. zum maßgeb­li­chen Zeit­punkt schwerst al­ko­hol­abhängig und litt er­heb­lich un­ter den ver­schie­de­nen hier­aus re­sul­tie­ren­den körper­li­chen Be­ein­träch­ti­gun­gen. Er hat­te zwei sta­ti­onäre Ent­zugs­the­ra­pi­en hin­ter sich, wo­bei An­ga­ben zu de­ren „Er­folg“ und die Dau­er „tro­cke­ner“ Pha­sen feh­len. Je­den­falls kam es im­mer wie­der zu Rückfällen, zu­letzt durch den Al­ko­hol­ex­zess vom 23. No­vem­ber 2011, bei dem der Ar­beit­neh­mer L. mit 4,9 Pro­mil­le ins Ko­ma ge­fal­len ist. Die von der ärzt­li­chen Gut­ach­te­rin ge­zo­ge­ne Schluss­fol­ge­rung, dass bei die­ser Vor­ge­schich­te im Hin­blick auf den Sucht­druck ei­ne hin­rei­chen­de wil­lent­li­che Steue­rungsfähig­keit nicht an­ge­nom­men wer­den kann, er­scheint plau­si­bel und ist von der Be­klag­ten nicht in Fra­ge ge­stellt wor­den. Hin­rei­chen­de An­halts­punk­te für ei­nen wil­lent­lich steu­er­ba­ren Ver­hal­tens­an­teil des Ar­beit­neh­mers L. an dem Rück­fall und der dar­aus re­sul­tie­ren­den Ar­beits­unfähig­keit und da­mit für ein Ver­schul­den iSv. § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG be­ste­hen des­halb nicht. Auf den Um­stand, dass sich Herr L. auf die Fra­ge der Be­klag­ten nach den Ur­sa­chen sei­ner Al­ko­hol­abhängig­keit nicht geäußert hat, kommt es nicht an.

II. Der An­spruch des Ar­beit­neh­mers L. ge­gen die Be­klag­te ist nach § 115 Abs. 1 SGB X in Höhe des ge­leis­te­ten Kran­ken­gel­des auf die Kläge­rin über­ge­gan­gen. Die­se hat Kran­ken­geld ge­leis­tet, nach­dem die Be­klag­te nach der zunächst aus­ge­spro­che­nen außer­or­dent­li­chen Kündi­gung kei­ne Ent­gelt­fort­zah­lung er­bracht hat­te. Die Höhe des ge­zahl­ten Kran­ken­gel­des ist un­strei­tig.


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III. Die Be­klag­te hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kos­ten ih­rer er­folg­lo­sen Re­vi­si­on zu tra­gen.


Linck 

Bru­ne 

W. Rein­fel­der

A. Ef­fen­ber­ger 

D. Die­ner

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