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BAG, Ur­teil vom 20.01.2016, 6 AZR 601/14

   
Schlagworte: Kündigung: Betriebsbedingt, Massenentlassung, Massenentlassungsanzeige, Kündigung, Unwirksamkeit
   
Gericht: Bundesarbeitsgericht
Aktenzeichen: 6 AZR 601/14
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 20.01.2016
   
Leitsätze:

Die Pflicht zur Konsultation des Betriebsrats nach § 17 Abs. 2 KSchG und die in § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG geregelte Anzeigepflicht gegenüber der
Agentur für Arbeit sind zwei getrennt durchzuführende Verfahren, die in unterschiedlicher Weise der Erreichung des mit dem Massenentlassungsschutz nach § 17 KSchG verfolgten Ziels dienen und jeweils eigene Wirksamkeitsvoraussetzungen enthalten. Aus jedem dieser beiden Verfahren kann sich ein eigenständiger Unwirksamkeitsgrund für die im Zusammenhang mit einer Massenentlassung erfolgte Kündigung ergeben. Darum ist der Arbeitnehmer, der erstinstanzlich lediglich Mängel hinsichtlich des einen Verfahrens rügt, bei ordnungsgemäß erteiltem Hinweis in zweiter Instanz mit Rügen von Mängeln hinsichtlich des anderen Verfahrens präkludiert.

Vorinstanzen: Arbeitsgericht Stuttgart, Urteil vom 17.12.2013 - 25 Ca 3150/13
Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 13.8.2014 - 4 Sa 12/14
   

BUN­DES­AR­BEITS­GERICHT

6 AZR 601/14
4 Sa 12/14
Lan­des­ar­beits­ge­richt
Ba­den-Würt­tem­berg

Im Na­men des Vol­kes!

Verkündet am
20. Ja­nu­ar 2016

UR­TEIL

Gaßmann, Ur­kunds­be­am­tin
der Geschäfts­stel­le

In Sa­chen

Be­klag­ter, Be­ru­fungs­be­klag­ter und Re­vi­si­onskläger,

pp.

Kläger, Be­ru­fungskläger und Re­vi­si­ons­be­klag­ter,

hat der Sechs­te Se­nat des Bun­des­ar­beits­ge­richts auf­grund der münd­li­chen Ver­hand­lung vom 20. Ja­nu­ar 2016 durch den Vor­sit­zen­den Rich­ter am Bun­des­ar­beits­ge­richt Dr. Fi­scher­mei­er, die Rich­te­rin am Bun­des­ar­beits­ge­richt Spel­ge, den Rich­ter am Bun­des­ar­beits­ge­richt Krum­bie­gel so­wie den eh­ren­amt­li­chen Rich­ter Klap­proth und die eh­ren­amt­li­che Rich­te­rin Pe­ter für Recht er­kannt:

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1. Die Re­vi­si­on des Be­klag­ten ge­gen das Ur­teil des Lan­des­ar­beits­ge­richts Ba­den-Würt­tem­berg vom 13. Au­gust 2014 - 4 Sa 12/14 - wird zurück­ge­wie­sen.

2. Der Be­klag­te hat die Kos­ten der Re­vi­si­on zu tra­gen.

Von Rechts we­gen!

Tat­be­stand

Die Par­tei­en strei­ten über die Wirk­sam­keit ei­ner or­dent­li­chen be­triebs­be­ding­ten Kündi­gung.

Der Kläger war seit dem 29. Ok­to­ber 2007 als Ver­kehrs­flug­zeugführer bei der C GmbH & Co. KG beschäftigt. Bei die­ser war gemäß § 117 Abs. 2 Be­trVG auf der Grund­la­ge ei­nes zum 31. Ju­li 2007 gekündig­ten Ta­rif­ver­trags ei­ne Per­so­nal­ver­tre­tung ge­bil­det. Ein Nach­fol­ge­ta­rif­ver­trag wur­de nicht ge­schlos­sen.

Mit Wir­kung zum 1. Sep­tem­ber 2012 ging das Ar­beits­verhält­nis in­fol­ge ei­nes Be­triebsüber­gangs auf die späte­re Schuld­ne­rin, die O GmbH über. Der Be­klag­te ist In­sol­venz­ver­wal­ter in dem am 1. April 2013 eröff­ne­ten mas­seun­zuläng­li­chen In­sol­venz­ver­fah­ren über das Vermögen der Schuld­ne­rin. Er leg­te den Be­trieb still und er­stat­te­te am 8. April 2013 Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge für die 218 Ar­beit­neh­mer des sog. flie­gen­den Per­so­nals.

Der Be­klag­te kündig­te das Ar­beits­verhält­nis des Klägers mit Schrei­ben vom 9. April 2013, das die­sem am 11. April 2013 zu­ging, zum 30. Ju­ni 2013. Mit Schrei­ben vom 23. April 2013 teil­te er dem Kläger mit:

„...
ich ha­be Ih­nen mit Schrei­ben vom 09.04.2013 ei­ne Kündi­gung aus­ge­spro­chen. Lei­der wur­de da­bei die Kündi­gungs­frist falsch be­rech­net.

Bit­te be­trach­ten Sie die­ses Kündi­gungs­schrei­ben da­her als ge­gen­stands­los. Sie er­hal­ten in der An­la­ge ein neu­es Kündi­gungs­schrei­ben mit der rich­ti­gen Kündi­gungs­frist gemäß § 113 In­sO.“

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Die­sem Schrei­ben war ein auf den 22. April 2013 lau­ten­des Kündi­gungs­schrei­ben bei­gefügt, dem­zu­fol­ge das Ar­beits­verhält­nis am 31. Ju­li 2013 en­de­te.

Mit sei­ner am 30. April 2013 bei Ge­richt ein­ge­gan­ge­nen Kla­ge wen­det sich der Kläger noch ge­gen die Kündi­gung vom 22. April 2013. Er hält die Kündi­gung al­lein we­gen Mängeln im Ver­fah­ren nach § 17 KSchG für un­wirk­sam. Dies­bezüglich hat er erst­in­stanz­lich nur Mängel des An­zei­ge­ver­fah­rens gerügt. Ins­be­son­de­re hat er gel­tend ge­macht, die zwei­te Kündi­gung, bei der ei­ne neue Kündi­gungs­ab­sicht des Be­klag­ten vor­ge­le­gen ha­be, sei von der am 8. April 2013 er­stat­te­ten Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge nicht mehr ge­deckt. Nach­dem er in der Kla­ge­schrift vor­ge­tra­gen hat­te, sei­nes Wis­sens be­ste­he kein Be­triebs­rat, hat er erst­mals im zwei­ten Rechts­zug die Auf­fas­sung ver­tre­ten, die Kündi­gung sei auch des­halb un­wirk­sam, weil der An­zei­ge kei­ne Stel­lung­nah­me der Per­so­nal­ver­tre­tung bei­gefügt ge­we­sen sei. Die­ser ha­be ein Rest­man­dat ein­geräumt wer­den müssen, in des­sen Rah­men sie nach § 17 KSchG ha­be be­tei­ligt wer­den müssen.

Der Kläger hat zu­letzt be­an­tragt fest­zu­stel­len, dass das Ar­beits­verhält­nis zwi­schen den Par­tei­en nicht durch die Kündi­gung des Be­klag­ten vom 22. April 2013 auf­gelöst wor­den ist.

Der Be­klag­te hat sei­nen An­trag auf Ab­wei­sung der Kla­ge dar­auf gestützt, dass es ei­ner er­neu­ten Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge nicht be­durft ha­be. Die Kündi­gung vom 22. April 2013 sei kei­ne Nachkündi­gung oder ei­genständi­ge Wie­der­ho­lungskündi­gung. Es ha­be er­kenn­bar kei­ne neue Kündi­gungs­ab­sicht vor­ge­le­gen. Er hätte die er­for­der­li­che Kor­rek­tur der Kündi­gungs­frist auch durch die Erklärung, die Kündi­gung sol­le erst zum 31. Ju­li 2013 wirk­sam wer­den, in die We­ge lei­ten können. Das Ar­beits­verhält­nis wäre dar­um auch oh­ne die Kündi­gung vom 22. April 2013 zum 31. Ju­li 2013 be­en­det wor­den. Ei­ner er­neu­ten Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge hin­sicht­lich die­ser Kündi­gung ha­be es auch des­halb nicht be­durft, weil zu die­sem Zeit­punkt le­dig­lich das Ar­beits­verhält­nis des

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Klägers gekündigt wor­den sei, so dass der Schwel­len­wert des § 17 Abs. 1 KSchG nicht er­reicht wor­den sei.

Der Be­klag­te hat wei­ter die An­sicht ver­tre­ten, der Kläger sei auf­grund der Re­ge­lung in § 6 KSchG mit der Rüge, die Anhörung der Per­so­nal­ver­tre­tung sei un­ter­blie­ben, aus­ge­schlos­sen. Je­den­falls ha­be kei­ne Per­so­nal­ver­tre­tung be­stan­den, die er vor der Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge ha­be be­tei­li­gen können.

Das Ar­beits­ge­richt hat die Kla­ge ab­ge­wie­sen. Das Lan­des­ar­beits­ge­richt hat auf die Be­ru­fung des Klägers fest­ge­stellt, dass die Kündi­gung vom 22. April 2013 das Ar­beits­verhält­nis der Par­tei­en nicht auf­gelöst hat. Es hat an­ge­nom­men, hin­sicht­lich der Kündi­gung vom 22. April 2013 sei kei­ne er­neu­te Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge er­for­der­lich ge­we­sen. Die Kündi­gung sei je­doch gemäß § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG un­wirk­sam, weil ihr kei­ne Stel­lung­nah­me der Per­so­nal­ver­tre­tung bei­gefügt ge­we­sen sei.

Mit sei­ner vom Lan­des­ar­beits­ge­richt zu­ge­las­se­nen Re­vi­si­on be­gehrt der Be­klag­te wei­ter­hin die Ab­wei­sung der Kla­ge.

Ent­schei­dungs­gründe

Die Re­vi­si­on ist un­be­gründet. Das Lan­des­ar­beits­ge­richt hat im Er­geb­nis zu Recht er­kannt, dass die Kündi­gung des Be­klag­ten vom 22. April 2013 we­gen Mängeln im Ver­fah­ren nach § 17 KSchG un­wirk­sam ist. Dar­auf, ob im Vor­feld die­ser Kündi­gung noch ei­ne funk­ti­onsfähi­ge Per­so­nal­ver­tre­tung gemäß § 117 Abs. 2 Be­trVG be­stand, mit der das Kon­sul­ta­ti­ons­ver­fah­ren nach § 17 Abs. 2 KSchG durch­geführt wer­den konn­te und durch­zuführen war, kommt es eben­so we­nig an wie dar­auf, ob der Kläger mit der Rüge, die Kündi­gung sei un­wirk­sam, weil der Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge ent­ge­gen § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG kei­ne Stel­lung­nah­me die­ses Gre­mi­ums bei­gefügt ge­we­sen sei, nach § 6 Satz 1 KSchG präklu­diert ist. Die Kündi­gung des Be­klag­ten vom 22. April 2013 ist nämlich je­den­falls des­halb un­wirk­sam, weil sie im zeit­li­chen Zu­sam­men­hang mit ei­ner Mas­sen­ent­las­sung er­folg­te und des­halb ei­ner (er­neu­ten)

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Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge be­durf­te. Ei­ne sol­che An­zei­ge ist nicht er­folgt. Die Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge vom 8. April 2013 war durch die Kündi­gung vom 9. April 2013 ver­braucht.

I. Die Re­vi­si­on macht al­ler­dings mit Recht gel­tend, das Lan­des­ar­beits­ge­richt sei bei sei­ner An­nah­me, sein Prüfpro­gramm sei nicht nach § 6 Satz 1 KSchG be­schränkt, von un­zu­tref­fen­den recht­li­chen Vor­aus­set­zun­gen aus­ge­gan­gen. Bei sei­ner Auf­fas­sung, Mängel im Kon­sul­ta­ti­ons­ver­fah­ren könn­ten erst­mals im Be­ru­fungs­rechts­zug gerügt wer­den, so­fern erst­in­stanz­lich Rügen hin­sicht­lich des An­zei­ge­ver­fah­rens er­ho­ben wor­den sei­en, weil es nicht dar­auf an­kom­me, wel­cher kon­kre­te ein­zel­ne Man­gel letzt­lich durch­schla­ge, hat es nicht aus­rei­chend berück­sich­tigt, dass das Ver­fah­ren nach § 17 KSchG in zwei ge­trennt durch­zuführen­de Ver­fah­ren mit je­weils un­ter­schied­li­chen Wirk­sam­keits­vor­aus­set­zun­gen un­terfällt.

1. Der Ge­setz­ge­ber woll­te mit der Vor­schrift des § 6 Satz 1 KSchG dem Ar­beit­neh­mer die Möglich­keit eröff­nen, auch nach Ab­lauf der Frist des § 4 KSchG noch an­de­re Un­wirk­sam­keits­gründe in den Pro­zess ein­zuführen, auf die er sich zunächst nicht be­ru­fen hat. Die­se Rügemöglich­keit hat er je­doch auf die Zeit bis zum Schluss der münd­li­chen Ver­hand­lung in der ers­ten In­stanz be­schränkt, um dem Ar­beit­ge­ber als­bald Klar­heit über den Be­stand oder die Be­en­di­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses zu ver­schaf­fen. Die­ser soll sich nicht erst­mals in zwei­ter In­stanz auf ei­nen bis da­hin in das ge­richt­li­che Ver­fah­ren nicht ein­geführ­ten an­de­ren Un­wirk­sam­keits­grund ein­las­sen müssen und soll nicht die dafür er­heb­li­chen Tat­sa­chen er­mit­teln und die ent­spre­chen­den Be­wei­se bei­brin­gen müssen (vgl. BAG 24. Mai 2012 - 2 AZR 206/11 - Rn. 50). Der Ar­beit­neh­mer muss dar­um al­le wei­te­ren Un­wirk­sam­keits­gründe spätes­tens bis zum Schluss der münd­li­chen Ver­hand­lung ers­ter In­stanz in den Pro­zess einführen. Ge­schieht dies nicht, ist er mit die­sen Un­wirk­sam­keits­gründen grundsätz­lich aus­ge­schlos­sen (BAG 18. Ja­nu­ar 2012 - 6 AZR 407/10 - Rn. 13, BA­GE 140, 261). In­so­fern hat § 6 Satz 1 KSchG mit der zum 1. Ja­nu­ar 2004 er­folg­ten Neu­fas­sung durch Art. 1 Nr. 4 des Ge­set­zes zu Re­for­men am Ar­beits­markt vom 24. De­zem­ber 2003 (BGBl. I S. 3002) ei­nen Be­deu­tungs­wan­del er­fah­ren: Die

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Norm ermöglicht nicht mehr, wie § 6 KSchG aF, nur die Er­wei­te­rung der aus an­de­ren Gründen er­ho­be­nen Kla­ge auf die Fest­stel­lung der So­zi­al­wid­rig­keit der Kündi­gung (zum Be­deu­tungs­ge­halt des § 6 KSchG aF Zeu­ner NZA 2012, 1414, 1415), son­dern be­schränkt auch die Möglich­keit des Ar­beit­neh­mers, nach Ab¬lauf der Kla­ge­frist wei­te­re Un­wirk­sam­keits­gründe nach­zu­schie­ben (BAG 8. No­vem­ber 2007 - 2 AZR 314/06 - Rn. 16, BA­GE 124, 367; Ey­lert NZA 2012, 9, 10; aA Zeu­ner NZA 2012, 1414, 1416).

2. Der in § 17 KSchG ge­re­gel­te be­son­de­re Kündi­gungs­schutz bei Mas­sen­ent­las­sun­gen un­terfällt in zwei ge­trennt durch­zuführen­de Ver­fah­ren mit je­weils ei­ge­nen Wirk­sam­keits­vor­aus­set­zun­gen, nämlich die in § 17 Abs. 2 KSchG nor­mier­te Pflicht zur Kon­sul­ta­ti­on des Be­triebs­rats ei­ner­seits und die in § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG ge­re­gel­te An­zei­ge­pflicht ge­genüber der Agen­tur für Ar­beit an­de­rer­seits. Das Kon­sul­ta­ti­ons­ver­fah­ren steht selbständig ne­ben dem An-zei­ge­ver­fah­ren. Bei­de Ver­fah­ren die­nen in un­ter­schied­li­cher Wei­se der Er­rei­chung des mit dem Mas­sen­ent­las­sungs­schutz ver­folg­ten Ziels (BAG 21. März 2013 - 2 AZR 60/12 - Rn. 28, BA­GE 144, 366; 13. De­zem­ber 2012 - 6 AZR 752/11 - Rn. 62). Das bringt die Richt­li­nie 98/59/EG des Ra­tes vom 20. Ju­li 1998 zur An­glei­chung der Rechts­vor­schrif­ten der Mit­glied­staa­ten über Mas­sen­ent­las­sun­gen (Mas­sen­ent­las­sungs­richt­li­nie - MERL -, ABl. EG L 225 vom 12. Au­gust 1998 S. 16) deut­li­cher zum Aus­druck als § 17 KSchG, mit dem die­se Richt­li­nie um­ge­setzt wor­den ist. Dort ist das Kon­sul­ta­ti­ons­ver­fah­ren in Teil II (In­for­ma­ti­on und Kon­sul­ta­ti­on), die An­zei­ge­pflicht da­ge­gen in Teil III (Mas­sen-ent­las­sungs­ver­fah­ren) ge­re­gelt. Im Kon­sul­ta­ti­ons­ver­fah­ren soll der Be­triebs­rat kon­struk­ti­ve Vor­schläge un­ter­brei­ten können, um die Mas­sen­ent­las­sung zu ver­hin­dern oder je­den­falls zu be­schränken (BAG 20. Sep­tem­ber 2012 - 6 AZR 155/11 - Rn. 60, BA­GE 143, 150). Er­folgt gleich­wohl ei­ne Mas­sen­ent­las­sung, soll die Agen­tur für Ar­beit durch die An­zei­ge der Mas­sen­ent­las­sung in die La­ge ver­setzt wer­den, Maßnah­men zur Ver­mei­dung oder zum Auf­schub von Be­las­tun­gen des Ar­beits­markts ein­zu­lei­ten, die Fol­gen der Ent­las­sun­gen für die Be­trof­fe­nen zu mil­dern und für de­ren an­der­wei­ti­ge Beschäfti­gung zu sor­gen (BAG 21. März 2013 - 2 AZR 60/12 - Rn. 28, 44, aaO).

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3. Je­des die­ser bei­den Ver­fah­ren stellt ein ei­genständi­ges Wirk­sam­keits­er­for­der­nis für die im Zu­sam­men­hang mit ei­ner Mas­sen­ent­las­sung er­folg­te Kündi­gung dar. § 17 Abs. 2 KSchG ei­ner­seits und § 17 Abs. 1 iVm. Abs. 3 Satz 2 und Satz 3 KSchG an­de­rer­seits sind zwei un­ter­schied­li­che Ver­bots­ge­set­ze, die bei Verstößen ge­gen die ge­setz­li­chen An­for­de­run­gen je­weils un­abhängig von­ein­an­der zur Un­wirk­sam­keit der Kündi­gung führen (für das An­zei­ge­ver­fah­ren BAG 22. No­vem­ber 2012 - 2 AZR 371/11 - Rn. 39 ff., BA­GE 144, 47; für das Kon­sul­ta­ti­ons­ver­fah­ren BAG 21. März 2013 - 2 AZR 60/12 - Rn. 21 ff., BA­GE 144, 366). Dar­um reicht es ent­ge­gen der An­sicht des Lan­des­ar­beits­ge­richts zur Ver­mei­dung der Präklu­si­on nach § 6 Satz 1 KSchG nicht aus, ers­tin-stanz­lich Mängel aus dem ei­nen Ver­fah­ren zu rügen, um dem Ar­beit­neh­mer die Möglich­keit zu eröff­nen, auch Mängel des an­de­ren Ver­fah­rens und die dar­aus fol­gen­de Un­wirk­sam­keit der Kündi­gung erst­mals im Be­ru­fungs­ver­fah­ren gel­tend zu ma­chen. Er­for­der­lich ist viel­mehr, dass der Ar­beit­neh­mer be­reits in der ers­ten In­stanz Mängel rügt, die sich ein­deu­tig er­kenn­bar dem Ver­fah­ren hin­sicht­lich der An­zei­ge­pflicht und/oder dem Kon­sul­ta­ti­ons­ver­fah­ren zu­ord­nen las­sen. Hin­sicht­lich der Mängel, die bezüglich des nicht be­reits in ers­ter In­stanz an­ge­spro­che­nen Ver­fah­rens be­ste­hen, ist er in zwei­ter In­stanz bei ord­nungs­gemäß er­teil­tem Hin­weis durch § 6 Satz 1 KSchG präklu­diert (zur Möglich­keit der Präklu­si­on mit Rügen nach § 17 KSchG vgl. be­reits BAG 13. De­zem­ber 2012 - 6 AZR 5/12 - Rn. 57).

4. Die von § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG ver­lang­te Beifügung der Stel­lung­nah­me des Be­triebs­rats bzw. die Glaub­haft­ma­chung der Vor­aus­set­zun­gen des § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG ist Wirk­sam­keits­vor­aus­set­zung für die An­zei­ge (BAG 28. Ju­ni 2012 - 6 AZR 780/10 - Rn. 52, BA­GE 142, 202). Zum An­zei­ge­ver­fah­ren gehört dar­um auch die in der MERL nicht vor­ge­se­he­ne (vgl. da­zu EUArbR/ Spel­ge RL 98/59/EG Art. 3 Rn. 11) Pflicht des Ar­beit­ge­bers, der An­zei­ge die Stel­lung­nah­me des Be­triebs­rats bei­zufügen bzw. die­se nach den in § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG ge­re­gel­ten Grundsätzen zu er­set­zen. Die­se Pflicht ist Teil der na­tio­na­len Aus­ge­stal­tung des An­zei­ge­ver­fah­rens. Dar­um kann zB ein Ar­beit­neh­mer, der in der ers­ten In­stanz nur rügt, die vom Be­triebs­rat er­teil­te Stel­lung­nah­me sei der An­zei­ge nicht bei­gefügt wor­den, bei ord­nungs­gemäß er­teil­tem

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Hin­weis Mängel des Kon­sul­ta­ti­ons­ver­fah­rens in der Be­ru­fungs­in­stanz nicht mehr gel­tend ma­chen, weil sich die­se Rüge al­lein auf das An­zei­ge-, nicht aber auf das Kon­sul­ta­ti­ons­ver­fah­ren be­zieht.

II. Es kann da­hin­ste­hen, ob nach vor­ste­hen­den Grundsätzen der Kläger mit der Rüge des § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG präklu­diert ist, weil er in der Kla­ge­schrift aus­drück­lich vor­ge­tra­gen hat, sei­nes Wis­sens be­ste­he kein Be­triebs­rat, und so zu er­ken­nen ge­ge­ben hat, dass er ei­ne ord­nungs­gemäße Be­tei­li­gung des Be­triebs­rats bzw. der Per­so­nal­ver­tre­tung nach § 117 Abs. 2 Be­trVG nicht als Vor­aus­set­zung für die Wirk­sam­keit des An­zei­ge­ver­fah­rens an­se­he. Der vor­lie­gen­de Fall gibt kei­nen An­lass, die An­for­de­run­gen an ei­ne ord­nungs­gemäße Gel­tend­ma­chung iSd. § 6 Satz 1 KSchG zu klären (of­fen­ge­las­sen auch von BAG 4. Mai 2011 - 7 AZR 252/10 - Rn. 21, BA­GE 138, 9). Ins­be­son­de­re be­steht kein An­lass, sich mit der Fra­ge aus­ein­an­der­zu­set­zen, ob es in­so­weit genügt, ei­nen mögli­chen Un­wirk­sam­keits­grund erst­in­stanz­lich pau­schal an­zu­spre­chen und sich der Ar­beit­ge­ber be­reits des­we­gen um­fas­send dar­auf ein­stel­len muss, zu al­len in­so­weit in Be­tracht kom­men­den Ge­sichts­punk­ten vor­tra­gen zu müssen, oder ob er sich je­den­falls dann dar­auf ein­rich­ten darf, mit ei­nem erst­in­stanz­lich gerügten Un­wirk­sam­keits­grund in der Be­ru­fungs­in­stanz nicht mehr kon­fron­tiert zu wer­den, wenn er die­sem Grund mit schlüssi­gem Tat­sa­chen­vor­trag ent­ge­gen­ge­tre­ten ist, den der Ar­beit­neh­mer nicht be­strit­ten hat. Eben­so we­nig ist die vom Lan­des­ar­beits­ge­richt um­fang­reich erörter­te Fra­ge, ob über­haupt noch ein nach § 17 Abs. 2 KSchG zu be­tei­li­gen­des Gre­mi­um be­stand und des­halb die Beifügung ei­ner Stel­lung­nah­me der Per­so­nal­ver­tre­tung Wirk­sam­keits­er­for­der­nis der Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge war, ent­schei­dungs­er­heb­lich. Die Kündi­gung vom 22. April 2013 ist nämlich be­reits des­halb un­wirk­sam, weil die dafür er­for­der­li­che er­neu­te Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge nicht er­folgt ist.

1. Der Se­nat ist nicht ge­hin­dert, das Be­ru­fungs­ur­teil dar­auf zu über­prüfen, ob die Kündi­gung vom 22. April 2013 un­wirk­sam ist, weil es an der er­for­der­li­chen Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge fehlt. Ist die Re­vi­si­on zulässig und ord­nungs­gemäß be­gründet, hat das Re­vi­si­ons­ge­richt das an­ge­foch­te­ne Ur­teil in­ner­halb des­sel­ben Streit­ge­gen­stands oh­ne Bin­dung an die er­ho­be­nen Sachrügen un­ter

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al­len recht­li­chen Ge­sichts­punk­ten auf sei­ne ma­te­ri­el­le Rich­tig­keit und mögli­che Rechts­feh­ler hin zu prüfen (§ 557 Abs. 3 Satz 1 ZPO).

2. Das Lan­des­ar­beits­ge­richt hat fest­ge­stellt, dass es sich bei der Kündi­gung vom 22. April 2013 um ei­ne neue, ei­genständi­ge Kündi­gungs­erklärung han­del­te. Die­se Aus­le­gung der Kündi­gungs­erklärung, bei der es sich um ei­ne aty­pi­sche Wil­lens­erklärung han­delt, durch das Lan­des­ar­beits­ge­richt kann in der Re­vi­si­ons­in­stanz nur dar­auf über­prüft wer­den, ob das Be­ru­fungs­ge­richt Aus­le­gungs­re­geln ver­letzt hat oder ge­gen Denk­ge­set­ze und Er­fah­rungssätze ver­s­to¬ßen, we­sent­li­che Tat­sa­chen un­berück­sich­tigt ge­las­sen oder ei­ne ge­bo­te­ne Aus­le­gung un­ter­las­sen hat. Der­ar­ti­ge Feh­ler zei­gen die von der Re­vi­si­on mit Schrift­satz vom 18. Ja­nu­ar 2016 geführ­ten An­grif­fe nicht auf.

a) Die Re­vi­si­on berück­sich­tigt bei ih­rer Ar­gu­men­ta­ti­on, der Kündi­gung vom 22. April 2013 ha­be kei­ne neue Kündi­gungs­ab­sicht zu­grun­de ge­le­gen und auf­grund der vor­sorg­lich zum nächstmögli­chen Zeit­punkt erklärten Kündi­gung vom 9. April 2013 ha­be es im Grun­de ge­nom­men we­gen der un­zu­tref­fen­den Kündi­gungs­frist kei­ner Kor­rek­tur die­ser Kündi­gung be­durft, nicht, dass sich der Be­klag­te für die­sen Weg nicht ent­schie­den hat. Er hat viel­mehr im Schrei­ben vom 23. April 2013 aus­drück­lich dar­um ge­be­ten, das ers­te Kündi­gungs­schrei­ben als „ge­gen­stands­los“ zu be­trach­ten und erklärt, in der An­la­ge wer­de ein „neu­es“ Kündi­gungs­schrei­ben mit der rich­ti­gen Kündi­gungs­frist über­sandt. Das Lan­des­ar­beits­ge­richt hat oh­ne Rechts­feh­ler dar­in den Wil­len des Be­klag­ten er­kannt, ei­ne wei­te­re, ei­genständi­ge Kündi­gung zu erklären.

b) Das Lan­des­ar­beits­ge­richt hat fest­ge­stellt, dass sich aus dem pro­zes­sua­len Ver­hal­ten des Klägers die kon­klu­den­te An­nah­me des An­ge­bots des Be­klag­ten aus dem Schrei­ben vom 23. April 2013 er­gibt. Da­ge­gen rich­tet die Re­vi­si­on kei­ne An­grif­fe.

3. Für die Kündi­gung vom 22. April 2013 war ei­ne er­neu­te Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge er­for­der­lich.

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a) Das Lan­des­ar­beits­ge­richt hat fest­ge­stellt, dass al­le 218 Mit­ar­bei­ter des flie­gen­den Per­so­nals ent­las­sen wor­den sind und dass dies ei­ne Mas­sen­ent­las­sung iSv. § 17 KSchG dar­stell­te. Es hat da­bei in Übe­rein­stim­mung mit der Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts (st. Rspr. seit BAG 23. März 2006 - 2 AZR 343/05 - BA­GE 117, 281) den uni­ons­recht­li­chen Ent­las­sungs­be­griff zu­grun­de ge­legt und des­halb auf die Erklärung der Kündi­gun­gen ab­ge­stellt. Da­ge­gen er­hebt die Re­vi­si­on kei­ne Rügen. Aus der vom Lan­des­ar­beits­ge­richt in Be­zug ge­nom­me­nen Lis­te, die der Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge vom 8. April 2013 bei­gefügt war, er­gibt sich, dass sämt­li­che Kündi­gun­gen un­ter Be­ach­tung der Kündi­gungs­fris­ten des § 622 BGB bzw. der Höchst­frist des § 113 Satz 2 In­sO frühes­tens zum 15. Mai 2013 und spätes­tens zum 31. Ju­li 2013 er­fol­gen soll­ten. Dies setzt die Erklärung sämt­li­cher Kündi­gun­gen noch im April 2013 vor­aus.

b) Da­mit war nicht nur die ers­te, am 9. April 2013 erklärte Kündi­gung an­zei­ge­pflich­tig, son­dern auch die zwei­te Kündi­gung vom 22. April 2013. Nach dem un­zwei­deu­ti­gen Wort­laut des § 17 Abs. 1 KSchG, der dem des Art. 1 Abs. 1 Buchst. a lit i der MERL ent­spricht, sind al­le nach § 17 Abs. 1 KSchG maßgeb­li­chen Ent­las­sungs­tat­bestände, die in­ner­halb von 30 Ka­len­der­ta­gen er­fol­gen, zu­sam­men­zuzählen. Das gilt auch dann, wenn sie auf ei­nem neu­en, ei­genständi­gen Kündi­gungs­ent­schluss be­ru­hen (ErfK/Kiel 16. Aufl. § 17 KSchG Rn. 17; APS/Moll 4. Aufl. § 17 KSchG Rn. 49a; vgl. BAG 25. April 2013 - 6 AZR 49/12 - Rn. 154 f.; 22. April 2010 - 6 AZR 948/08 - Rn. 19, BA­GE 134, 176). Dar­um wa­ren al­le Kündi­gungs­erklärun­gen, die in­ner­halb von 30 Ta­gen vor oder nach der zwei­ten Kündi­gung er­folg­ten, mit die­ser zu­sam­men­zuzählen. We­gen der im April 2013 erklärten Kündi­gun­gen von wei­te­ren 217 Mit­ar­bei­tern des flie­gen­den Per­so­nals war auch die Kündi­gung des Klägers vom 22. April 2013 an­zei­ge­pflich­tig (vgl. BAG 25. April 2013 - 6 AZR 49/12 - Rn. 154 f.).

c) Der Be­klag­te hat zwar am 8. April 2013 ei­ne Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge er­stat­tet, die auch den Kläger er­fass­te. Die­se An­zei­ge war je­doch mit der Erklärung der Kündi­gung vom 9. April 2013 ver­braucht. Ent­ge­gen der An­sicht des Lan­des­ar­beits­ge­richts reich­te es zur Erfüllung der An­zei­ge­pflicht nicht aus,

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dass die späte­re Kündi­gung in ei­nem - vom Stand­punkt des Lan­des­ar­beits­ge­richts be­trach­tet, dem­sel­ben - „Mas­sen­ent­las­sungs­kon­text“ er­folg­te. Ein der­ar­ti­ges Verständ­nis wi­der­spricht Sinn und Zweck der An­zei­ge­pflicht.

aa) Haupt­ziel der MERL ist es, die so­zioöko­no­mi­schen Aus­wir­kun­gen von Mas­sen­ent­las­sun­gen auf­zu­fan­gen, in­dem vor sol­chen Ent­las­sun­gen Kon­sul­ta­tio­nen mit Ar­beit­neh­mer­ver­tre­tern er­fol­gen und die zuständi­ge Behörde un­ter­rich­tet wird (vgl. EuGH 15. Fe­bru­ar 2007 - C-270/05 - [Athi­naïki Char­to­poiïa] Rn. 28, Slg. 2007, I-1499; 10. De­zem­ber 2009 - C-323/08 - [Ro­dríguez Ma­yor ua.] Rn. 44, Slg. 2009, I-11621). Als ein selbständi­ger Teil die­ses Mas­sen­ent-las­sungs­schut­zes soll die An­zei­ge­pflicht, wie aus­geführt, die Ar­beits­ver­wal­tung in die La­ge ver­set­zen, Maßnah­men ein­zu­lei­ten, die die Be­las­tun­gen des Ar­beits­markts ver­mei­den oder zu­min­dest verzögern, die Fol­gen der Ent­las­sun­gen für die Be­trof­fe­nen zu mil­dern und für de­ren an­der­wei­ti­ge Beschäfti­gung zu sor­gen (BAG 21. März 2013 - 2 AZR 60/12 - Rn. 28, 44, BA­GE 144, 366; vgl. be­reits 28. Ju­ni 2012 - 6 AZR 780/10 - Rn. 44, BA­GE 142, 202).

bb) Aus­ge­hend von die­sem Zweck ist ent­ge­gen der An­nah­me des Lan­des­ar­beits­ge­richts ei­ne er­neu­te An­zei­ge nicht nur er­for­der­lich, wenn die Nachkündi­gung - wie es in dem der Ent­schei­dung des Se­nats vom 22. April 2010 (- 6 AZR 948/08 - BA­GE 134, 176) zu­grun­de lie­gen­den Rechts­streit der Fall war - im Zu­sam­men­hang mit ei­ner wei­te­ren Mas­sen­ent­las­sung, et­wa ei­ner zwei­ten Kündi­gungs­wel­le, er­folgt. § 17 Abs. 1 KSchG ver­pflich­tet den Ar­beit­ge­ber bei richt­li­ni­en­kon­for­mem Verständ­nis da­zu, die An­zei­ge vor der „be­ab­sich­tig­ten“ Ent­las­sung, dh. Kündi­gungs­erklärung, zu er­stat­ten. Die Kündi­gung kann da­her erst erklärt wer­den, wenn die Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge er­folgt ist (vgl. EuGH 27. Ja­nu­ar 2005 - C-188/03 - [Junk] Rn. 46 ff., Slg. 2005, I-885). Dar­um muss vor je­der Kündi­gungs­erklärung, die Teil ei­ner Mas­sen­ent­las­sung ist, für al­le von die­ser Ent­las­sung er­fass­ten Ar­beit­neh­mer ei­ne An­zei­ge bei der zuständi­gen Agen­tur für Ar­beit er­fol­gen (vgl. BAG 22. April 2010 - 6 AZR 948/08 - Rn. 14, 19 f., aaO). Ist die Kündi­gungs­erklärung ab­ge­ge­ben, kann kei­ne wirk­sa­me An­zei­ge mehr er­stat­tet wer­den. Er­folgt im sel­ben Be­trieb iSv. § 17 KSchG ei­ne wei­te­re Kündi­gung wie die des Ar­beits­verhält­nis­ses des Klägers

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vom 22. April 2013 in­ner­halb der 30-Ta­ges-Frist und da­mit in dem von der MERL und § 17 KSchG ge­for­der­ten zeit­li­chen Zu­sam­men­hang mit der Mas­sen­ent­las­sung, ist für sie vor Ab­ga­be der Kündi­gungs­erklärung ei­ne ei­genständi­ge Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge er­for­der­lich. In ei­nem sol­chen Fall stellt auch die (Nach-)Kündi­gung ei­nes ein­zel­nen Ar­beit­neh­mers ei­nen an­zei­ge­pflich­ti­gen Tat­be­stand dar. In der Pra­xis ist in­so­weit ei­ne Nach­mel­dung des später gekündig­ten Ar­beit­neh­mers an die zuständi­ge Agen­tur für Ar­beit er­for­der­lich. Es han­delt sich - an­ders als et­wa bei der Kündi­gung ei­nes ein­zel­nen Ar­beit­neh­mers in ei­nem an­de­ren, weit ent­fern­ten Be­trieb (vgl. da­zu EuGH 30. April 2015 - C-80/14 - [USDAW und Wil­son] Rn. 64) - um ei­nen Tat­be­stand, auf den die An­zei­ge­pflicht zu­ge­schnit­ten ist. Auch ei­ne sol­che Kündi­gung ei­nes ein­zel­nen Ar­beit­neh­mers löst we­gen des zeit­li­chen Zu­sam­men­hangs mit an­de­ren Ent­las­sun­gen, die den Schwel­len­wert über­schrei­ten, die so­zioöko­no­mi­schen Fol­gen aus, die die An­zei­ge­pflicht auf­fan­gen soll. Die­ses Verständ­nis liegt be­reits den Ausführun­gen des Se­nats zur - im kon­kre­ten Fall we­gen Ver­strei­chens der 30-Ta­ges-Frist dann ver­nein­ten - An­zei­ge­pflicht zur Nachkündi­gung von Ar­beit­neh­mern mit Son­derkündi­gungs­schutz zu­grun­de (BAG 25. April 2013 - 6 AZR 49/12 - Rn. 154 f.).

cc) Ent­ge­gen der An­sicht des Lan­des­ar­beits­ge­richts und der Re­vi­si­on gilt die An­zei­ge­pflicht für die Nachkündi­gung auch dann, wenn wie im vor­lie­gen­den Fall die be­ab­sich­tig­te Ent­las­sung des Ar­beit­neh­mers an­ge­zeigt und die durch die­se An­zei­ge ermöglich­te Kündi­gung erklärt wor­den, aber später im Ein­ver­neh­men mit dem Ar­beit­neh­mer zurück­ge­nom­men wor­den ist.

(1) Die ein­ver­nehm­li­che Rück­nah­me der Kündi­gung vom 9. April 2013 führ­te nicht da­zu, dass die­se Kündi­gung als nicht erklärt an­zu­se­hen war und dar­um die zwei­te Kündi­gung vom 22. April 2013 noch von der An­zei­ge vom 8. April 2013 er­fasst wur­de.

(a) Die Ge­stal­tungs­wir­kung der Kündi­gungs­erklärung als rechts­ver­nich­ten­des (ne­ga­ti­ves) Ge­stal­tungs­recht tritt zwar schon un­mit­tel­bar mit ih­rem Zu­gang ein. Das Ge­stal­tungs­recht wird durch sei­ne Ausübung ver­braucht. Die da­durch ein­ge­tre­te­ne Ände­rung des Rechts­verhält­nis­ses kann grundsätz­lich nicht ein- 

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sei­tig un­ge­sche­hen ge­macht, dh. nicht mit rück­wir­ken­der Kraft be­sei­tigt, son­dern nur durch rechts­geschäft­li­ches Zu­sam­men­wir­ken bei­der Par­tei­en rückgängig ge­macht oder ab­geändert wer­den (BAG 21. März 2013 - 6 AZR 618/11 - Rn. 15). Auch dann wird die Kündi­gung je­doch nicht „ge­gen­stands­los“ in dem Sin­ne, dass die Kündi­gung als von vorn­her­ein nicht erklärt gilt. Es wer­den le­dig¬lich ih­re Rechts­fol­gen - ge­ge­be­nen­falls mit rück­wir­ken­der Kraft - be­sei­tigt.

(b) Zu­dem muss nach den für das Verständ­nis des Ent­las­sungs­be­griffs des § 17 KSchG maßgeb­li­chen Art. 3 Abs. 1 iVm. Art. 4 Abs. 2 der MERL die An­zei­ge vor Ab­ga­be der an­zei­ge­pflich­ti­gen Kündi­gungs­erklärung er­stat­tet wer­den. Dar­an fehlt es bei Kündi­gun­gen der vor­lie­gen­den Art. Die Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge vom 8. April 2013 war für die am 9. April 2013 um­ge­setz­te Kündi­gungs­ent­schei­dung er­stat­tet. Die durch die­se An­zei­ge eröff­ne­te Kündi­gungsmöglich­keit war durch die tatsächlich erklärte Kündi­gung vom 9. April 2013 ver­braucht (vgl. BAG 22. April 2010 - 6 AZR 948/08 - Rn. 14, BA­GE 134, 176). Hin­sicht­lich der neu­en Kündi­gungs­ent­schei­dung war be­reits dar­um ei­ne er­neu­te An­zei­ge er­for­der­lich.

(2) Das Er­for­der­nis ei­ner er­neu­ten Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge (Nach­mel­dung) hin­sicht­lich des in­ner­halb von 30 Ta­gen nach­gekündig­ten Ar­beit­neh­mers ist auch dann kei­ne unnütze Förme­lei, wenn ei­ne frühe­re be­ab­sich­tig­te Kündi­gung der Ar­beits­ver­wal­tung an­ge­zeigt wor­den war. Ein Verständ­nis des § 17 Abs. 1 iVm. § 18 Abs. 4 KSchG, dass in ei­ner sol­chen Si­tua­ti­on ei­ne er­neu­te An­zei­ge bzw. Nach­mel­dung des Ar­beit­neh­mers nicht er­for­der­lich sei, ver­stieße ge­gen das Ge­bot der uni­ons­rechts­kon­for­men Aus­le­gung die­ser Vor­schrif­ten. Dann wären Vor­rats­mel­dun­gen und -kündi­gun­gen möglich, die die Pflich­ten des Ar­beit­ge­bers bei Mas­sen­ent­las­sun­gen ver­rin­ger­ten und ihm das Ri­si­ko von Feh­lern im Ver­fah­ren nach § 17 KSchG, die die Un­wirk­sam­keit der Kündi­gung nach sich zie­hen, weit­ge­hend abnähmen. Das wäre mit dem Ziel ei­nes ein­heit­li­chen Min­dest­schutz­ni­veaus bei Mas­sen­ent­las­sun­gen, das mit der MERL ver­folgt wird, nicht zu ver­ein­ba­ren. Die Un­ter­neh­men sol­len nicht von un­ter­schied-li­chen Schutz­stan­dards und sich dar­aus er­ge­ben­den nied­ri­ge­ren Be­las­tun­gen bei Mas­sen­ent­las­sun­gen pro­fi­tie­ren (vgl. EuGH 30. April 2015 - C-80/14 -

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[USDAW und Wil­son] Rn. 62 f.). Ge­nau sol­che Vor­rats­mel­dun­gen und -kündi­gun­gen soll im Übri­gen § 18 Abs. 4 KSchG ver­hin­dern (vgl. BAG 22. April 2010 - 6 AZR 948/08 - Rn. 18, 21, BA­GE 134, 176; Os­ter­mai­er EWiR 2010, 683, 684). Darüber hin­aus muss die Ar­beits­ver­wal­tung wis­sen, hin­sicht­lich wel­cher kon­kre­ten Kündi­gung sie ih­re Bemühun­gen zu ent­fal­ten hat.

4. Die Fik­ti­ons­wir­kung des § 4 iVm. § 7 KSchG steht ent­ge­gen der An­sicht der Re­vi­si­on ei­ner Ent­schei­dung zu­guns­ten des Klägers nicht ent­ge­gen. Die Kündi­gung vom 9. April 2013 ist nicht nach die­ser Be­stim­mung rechts­wirk­sam ge­wor­den, son­dern ent­fal­tet auf­grund ih­rer ein­ver­nehm­li­chen Rück­nah­me kei­ne Wir­kung mehr.

IV. Die Kos­ten­ent­schei­dung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. 

Fi­scher­mei­er 

Spel­ge 

Krum­bie­gel

Klap­proth 

Cl. Pe­ter

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