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ARBEITSRECHT AKTUELL // 09/121

Lohn­wu­cher: Ta­rif­lohn­er­hö­hun­gen kön­nen Lohn­wu­cher be­din­gen

Lohn­wu­cher auch dann, wenn sich ein Miss­ver­hält­nis von Leis­tung und Ge­gen­leis­tung erst im Lau­fe der Ver­trags­durch­füh­rung er­gibt: Bun­des­ar­beits­ge­richt, Ur­teil vom 22.04.2009, 5 AZR 436/08
Münzen, Münzhaufen Lohn­wu­cher "auf Ra­ten"?

13.07.2009. Vie­le Ar­beit­neh­mer kön­nen man­gels ver­trag­li­cher Be­zug­nah­me auf ei­nen Ta­rif­ver­trag kei­nen Ta­rif­lohn ver­lan­gen, da sie kei­ner Ge­werk­schaft an­ge­hö­ren oder ihr Ar­beit­ge­ber nicht ta­rif­ge­bun­den ist, d.h. we­der Mit­glied ei­nes Ar­beit­ge­ber­ver­ban­des ist noch selbst mit ei­ner Ge­werk­schaft ei­nen Ta­rif­ver­trag ab­ge­schlos­sen hat. Falls es un­ter sol­chen Um­stän­den kei­nen für all­ge­mein­ver­bind­lich er­klär­ten Ta­rif­ver­trag gibt, der fach­lich und räum­lich ein­schlä­gig ist, kön­nen Löh­ne zwi­schen Ar­beit­ge­ber und Ar­beit­neh­mer im Prin­zip „frei“ aus­ge­han­delt wer­den.

Wo je­doch ge­nau die Gren­zen für die­se Art von Ver­trags­frei­heit lie­gen und wann der so aus­ge­han­del­te Lohn als "Wu­cher" zu be­zeich­nene ist hat­te un­längst das Bun­des­ar­beits­ge­richt (BAG) zu ent­schei­den: BAG mit Ur­teil vom 22.042009, 5 AZR 436/08.

Über wel­che Rechts­fra­ge hat das Bun­des­ar­beits­ge­richt ent­schie­den?

Die­se Frei­heit hat al­ler­dings Gren­zen, und zwar nach un­ten hin. Un­ter­schrei­tet nämlich die von den Ar­beits­ver­trags­par­tei­en aus­ge­han­del­te Be­zah­lung ei­nen räum­lich und fach­lich ein­schlägi­gen Lohn­ta­rif­ver­trag um mehr als ein Drit­tel, liegt nach der Recht­spre­chung der Ar­beits­ge­rich­te ein An­halts­punkt für Lohn­wu­cher im Sin­ne von § 138 Abs.1 Bürger­li­ches Ge­setz­buch (BGB) vor. Der Ta­rif­lohn ist dann die Mess­lat­te für die Be­ant­wor­tung der Fra­ge, ob Leis­tung (Ar­beit) und Ge­gen­leis­tung (Lohn) mögli­cher­wei­se in ei­nem so un­an­ge­mes­se­nen Verhält­nis ste­hen, dass die Vergütungs­ver­ein­ba­rung als „sit­ten­wid­rig“ im Sin­ne von § 138 Abs. 1 BGB an­zu­se­hen ist.

Liegt Lohn­wu­cher vor, führt dies nicht et­wa zur Un­wirk­sam­keit des ge­sam­ten Ar­beits­ver­trags, son­dern nur zur Nich­tig­keit der „sit­ten­wid­ri­gen“ Lohn­ver­ein­ba­rung. Die­se wird, da es kei­ne gel­ten­de ver­trag­li­che Vergütungs­re­ge­lung mehr gibt, gemäß § 612 Abs.2 BGB durch den Ta­rif­lohn oder, falls ein ein­schlägi­ger Ta­rif­ver­trag nicht vor­han­den ist, durch die ortsübli­che Vergütung er­setzt.

Bis­lang nicht klar ent­schie­den war in der Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts (BAG), ob ei­ne Vergütungs­ver­ein­ba­rung, die zum Zeit­punkt ih­rer Ver­ein­ba­rung bzw. beim Ab­schluss des Ar­beits­ver­trags nicht als wu­che­risch zu be­wer­ten ist, auf­grund von Ta­rif­loh­nerhöhun­gen im Lau­fe der Zeit wu­che­risch wer­den kann. An­ders ge­sagt: Kommt es für die Be­ur­tei­lung, ob ei­ne Vergütung mehr als zwei Drit­tel un­ter dem Ta­rif­lohn liegt, (nur) auf den Zeit­punkt des Ver­trags­ab­schlus­ses an oder (auch) auf die wei­te­re Zeit des Leis­tungs­aus­tau­sches bzw. der Ver­trags­durchführung?

Zu die­ser Fra­ge hat das BAG mit Ur­teil vom 22.042009 (5 AZR 436/08) Stel­lung ge­nom­men.

Wel­cher Sach­ver­halt lag dem Ur­teil des Bun­des­ar­beits­ge­richts zu­grun­de?

Die aus Por­tu­gal stam­men­de und der deut­schen Spra­che nicht oder nicht gut mäch­ti­ge Kläge­rin war seit 1992 in dem Gar­ten­bau­be­trieb des be­klag­ten Ar­beit­ge­bers in Ham­burg Sta­pel­feld als un­ge­lern­te Hilfs­kraft beschäftigt. Der ver­ein­bar­te St­un­den­lohn der Kläge­rin be­trug 6,00 DM net­to, ab dem 01.01.2002 3,25 Eu­ro net­to. Bei­de Par­tei­en des Ar­beits­ver­trags sind nicht ta­rif­ge­bun­den. Die Kläge­rin hat­te je nach sai­so­na­lem Be­darf teil­wei­se er­heb­lich über den ge­setz­li­chen Gren­zen der zulässi­gen Ar­beits­zeit hin­aus­ge­hen­de Ar­beits­zei­ten zu bewälti­gen. Teil­wei­se ar­bei­te­te sie mo­nat­lich bis zu 352 St­un­den.

Sie und ihr eben­falls aus Por­tu­gal stam­men­der Mann und ih­re zwei min­derjähri­gen Kin­der leb­ten auf dem Grundstück der Gärt­ne­rei in ei­nem ab­ge­trenn­ten Teil ei­nes Gewächs­hau­ses, den sie un­ent­gelt­lich nut­zen konn­ten. Die Nut-zungsmöglich­keit er­streck­te sich auch auf ein Stück Gar­ten­fläche zum Ei­gen­an­bau von Gemüse.

Mit ih­rer vor dem Ar­beits­ge­richt Ham­burg er­ho­be­nen Kla­ge ver­langt die Kläge­rin für die Zeit von De­zem­ber 1999 bis Mai 2002 ei­ne Nach­zah­lung von knapp 37.000,00 EUR. Zur Be­gründung meint die Kläge­rin, die ihr gewähr­te Vergütung sei wu­che­risch ge­ring, wo­bei sie sich zum Ver­gleich auf die ta­rif­li­che Vergütung be­zieht. Das Ar­beits­ge­richt Ham­burg wies die Kla­ge ab (Ur­teil vom 04.05.2007, 26 Ca 241/02).

Auch das Lan­des­ar­beits­ge­richt (LAG) Ham­burg gab dem Ar­beit­ge­ber recht, d.h. es wies die Be­ru­fung der Kläge­rin ab (Ur­teil vom 17.04.2008, 1 Sa 10/07). Zur Be­gründung wer­tet das LAG die an die Kläge­rin ge­zahl­te Mo­nats­vergütung und die dafür ge­leis­te­ten Ar­beits­stun­den aus und er­rech­net so ei­nen St­un­den­lohn im Um­fang von et­wa 63 bis über 70 Pro­zent des Ta­rif­lohns. Zu der Vergütung kommt nach An­sicht des LAG der Wert der der Kläge­rin oh­ne Be­zah­lung zur Verfügung ge­stell­ten Woh­nung.

Da der ver­ein­bar­te Lohn nach An­sicht des LAG zum Zeit­punkt des Ver­trags­schlus­ses noch nicht sit­ten­wid­rig ge­ring war, prüft das Ge­richt im wei­te­ren, ob der be­klag­te Ar­beit­ge­ber im wei­te­ren Ver­lauf ge­gen ei­ne et­wai­ge Pflicht zur Lohn­an­pas­sung ent­spre­chend der Ta­rif­lohn­ent­wick­lung ver­s­toßen ha­ben könn­te.

Hin­ter­grund die­ser Fra­ge­stel­lung ist die Rechts­auf­fas­sung des LAG, dass es für die Be­ur­tei­lung der Sit­ten­wid­rig­keit al­lein auf den Zeit­punkt des Ver­trags­schlus­ses an­kom­me. In der nach­fol­gen­den Zeit der Ver­trags­durchführung muss die Sit­ten­wid­rig­keits­gren­ze da­her nach An­sicht des LAG of­fen­sicht­lich un­ter­schrit­ten wer­den, da der Ar­beit­ge­ber ja nur in ei­nem sol­chen Fall ei­nen aus­rei­chen­den An­halts­punkt für ei­ne Pflicht zur Ver­trags­an­pas­sung hat.

Im Er­geb­nis wies das LAG die Kla­ge da­her un­ter Berück­sich­ti­gung der der Kläge­rin ein­geräum­ten Sach­leis­tun­gen, ins­be­son­de­re ei­ner Wohn­ge­le­gen­heit auf dem Be­triebs­gelände, ab.

Wie hat das Bun­des­ar­beits­ge­richt ent­schie­den?

Das BAG hob das Ur­teil des LAG Ham­burg auf und ver­wies den Rechts­streit zur wei­te­ren Aufklärung des Sach­ver­hal­tes an das LAG zurück.

Auch un­ter Ein­be­zie­hung der Sach­bezüge be­trug die der Kläge­rin ge­zahl­te St­un­den­vergütung im Kla­ge­zeit­raum nach An­sicht des BAG we­ni­ger als 2/3 der ta­rif­li­chen St­un­den­vergütung. Da die Ur­teils­gründe noch nicht vor­lie­gen, sind die vom BAG hier­zu an­ge­stell­ten Über­le­gun­gen bzw. Be­rech­nung des BAG, die von de­nen des LAG Ham­burg ab­wei­chen, der­zeit nicht recht nach­voll­zieh­bar. Nach An­sicht des BAG ver­deut­lich­ten die „Ge­samt­umstände“ des vor­lie­gen­den Falls, na­ment­lich die ge­setz­wid­rig ho­hen und un­re­gelmäßigen Ar­beits­zei­ten die Aus­beu­tung der Kläge­rin.

Maßge­bend für die Fest­stel­lung der Sit­ten­wid­rig­keit der Vergütung ist nach An­sicht des BAG der Ver­gleich mit der ta­rif­li­chen St­un­den- oder Mo­nats­vergütung oh­ne Zu­la­gen und Zu­schläge, wo­bei die be­son­de­ren Umstände des Fal­les zu berück­sich­ti­gen sind. Ei­ne bei Ab­schluss des Ar­beits­ver­trags auf die­ser Be­wer­tungs­grund­la­ge nicht zu be­an­stan­den­de Vergütung kann, so das BAG, durch die Ent­wick­lung des Ta­rif­lohns wu­che­risch wer­den. In­fol­ge­des­sen trifft den Ar­beit­ge­ber die Ob­lie­gen­heit, die Ta­ri­fent­wick­lung bzw. die Ent­wick­lung des ortsübli­chen Ver­gleichs­lohns zu be­ob­ach­ten.

Fest­zu­hal­ten ist da­mit, dass es nach An­sicht des BAG nicht nur auf die Verhält­nis­se zum Zeit­punkt des Ver­trags­ab­schlus­ses an­kommt, son­dern auch die nach­fol­gen­de Zeit der Ver­trags­durchführung.

Für die er­neu­te Ver­hand­lung der An­ge­le­gen­heit gab das BAG dem LAG mit auf den Weg, die Üblich­keit des Lohns in den Gar­ten­bau­be­trie­ben der Re­gi­on zu er­mit­teln und fest­zu­stel­len, ob der Be­klag­te das Miss­verhält­nis von Leis­tung und Ge­gen­leis­tung ge­kannt hat­te.

Fa­zit: Auf das Ar­gu­ment der Sit­ten­wid­rig­keit gestütz­te Lohn­dif­fe­renz­kla­gen sind auch künf­tig aus Ar­beit­neh­mer­sicht kei­ne leich­te Auf­ga­be, da der Ver­gleich zwi­schen der ge­zahl­ten Vergütung und dem Ta­rif­lohn, wie das BAG noch­mals be­tont hat, al­lein nicht aus­reicht, son­dern zusätz­lich dar­zu­le­gen ist, dass der Ta­rif­lohn in der je­wei­li­gen Bran­che und Re­gi­on auch ge­zahlt wird, d.h. ei­ne tatsächli­che „ge­leb­te“ Be­deu­tung hat und da­her als Ver­gleichs­maßstab her­an­ge­zo­gen wer­den kann. Mit ei­ner bloßen Ta­rif­re­cher­che und an­sch­ließen­der Betäti­gung ei­nes Ta­schen­rech­ners ist es al­so nicht ge­tan.

Im­mer­hin ist künf­tig klar, dass es auf den Leis­tungs­aus­tausch während der ge­sam­ten Zeit ei­ner sit­ten­wid­rig ge­rin­gen Vergütung des Ar­beit­neh­mers an­kommt und nicht et­wa nur auf den mögli­cher­wei­se schon Jahr und Tag zurück­lie­gen­den Zeit­punkt der Vergütungs­ver­ein­ba­rung.

In recht­li­cher Hin­sicht ist in­ter­es­sant, wie das BAG die­se Auf­fas­sung be­gründen wird. Die Ar­gu­men­te, die das LAG Ham­burg für die Maßgeb­lich­keit des Ver­trags­ab­schlus­ses anführt, sind nicht ganz von der Hand zu wei­sen. Im­mer­hin geht es bei § 138 BGB um die Sit­ten­wid­rig­keit ei­nes Rechts­geschäfts, d.h. im Fal­le des Lohn­wu­chers um die Sit­ten­wid­rig­keit der Vergütungs­ver­ein­ba­rung.

Nähe­re In­for­ma­tio­nen fin­den Sie hier:

Hin­weis: In der Zwi­schen­zeit, d.h. nach Er­stel­lung die­ses Ar­ti­kels, hat das Ge­richt sei­ne Ent­schei­dungs­gründe schrift­lich ab­ge­fasst und veröffent­licht. Die Ent­schei­dungs­gründe im Voll­text fin­den Sie hier:

Letzte Überarbeitung: 6. Mai 2014

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