HENSCHE RECHTSANWÄLTE, FACHANWALTSKANZLEI FÜR ARBEITSRECHT

ARBEITSRECHT AKTUELL // 09/066

Ur­teils­grün­de im Fall "Em­me­ly" - frist­lo­se Kün­di­gung we­gen 1,30 EUR

Be­ru­fungs­ge­richt geht von er­wie­se­ner vor­sätz­li­cher Tat­be­ge­hung aus: Lan­des­ar­beits­ge­richt Ber­lin-Bran­den­burg, Ur­teil vom 24.02.2009, 7 Sa 2017/08
Lebensmittelverkauf am Tresen mit Kasse Wer an der Kas­se ar­bei­tet, muss ehr­lich sein

22.04.2009. Der Fall der Ber­li­ner Kai­ser´s-Kas­sie­re­rin Bar­ba­ra ("Em­me­ly") Em­me hat­te im Fe­bru­ar und März 2009 bun­des­weit für Auf­se­hen ge­sorgt.

Ihr Ar­beit­ge­ber hat­te ihr we­gen ei­nes an­geb­li­chen Dieb­stahls bzw. der Un­ter­schla­gung zwei­er Leer­gut­bons im Wert von 1,30 EUR frist­los ge­kün­digt, ob­wohl sie be­reits mehr als 30 Jah­re lang be­schäf­tigt war. Und so­wohl das Ar­beits­ge­richt Ber­lin als auch das Lan­des­ar­beits­ge­richt (LAG) Ber­lin-Bran­den­burg hat­ten ge­gen Frau Em­me ge­ur­teilt, d.h. die Kün­di­gung als rech­tens be­wer­tet.

Die mitt­ler­wei­le vor­lie­gen­de schrift­li­che Ur­teils­be­grün­dung des LAG zeigt al­ler­dings, dass der Fall bzw. das Ver­hal­ten Frau Em­mes Be­son­der­hei­ten auf­weist, die - trotz der teil­wei­se hef­ti­gen Ur­teils­kri­tik - ei­ne frist­lo­se Kün­di­gung al­les an­de­re als ab­we­gig er­schei­nen las­sen: LAG Ber­lin-Bran­den­burg, Ur­teil vom 24.02.2009, 7 Sa 2017/08.

Der Streit­fall: Frist­lo­se Kündi­gung nach 30 Jah­ren we­gen 1,30 EUR, aber auch we­gen be­harr­li­chen Lügens und des An­schwärzens ei­ner Kol­le­gin

Die seit 1977 bei Kai­ser´s beschäftig­te Kas­sie­re­rin Bar­ba­ra Em­me, von ih­ren Kol­le­gin­nen und Freun­den Em­me­ly ge­nannt, hat­te im Jah­re 2008 auf­grund ei­nes vom Ar­beit­ge­ber be­haup­te­ten Vermögens­de­likts ih­ren Job ver­lo­ren. Kai­ser´s be­haup­te­te nämlich, die Kas­sie­re­rin ha­be zwei von Kun­den im La­den ver­lo­re­ne Leer­gut­bons im Wert von zu­sam­men 1,30 EUR (!) wi­der­recht­lich an sich ge­nom­men und an der Kas­se ein­gelöst, um die 1,30 EUR für sich zu be­hal­ten.

Dar­auf­hin sprach Kai­ser´s nach vor­he­ri­ger mehr­fa­cher Anhörung der Kas­sie­re­rin ei­ne außer­or­dent­li­che Kündi­gung, hilfs­wei­se ei­ne or­dent­li­che Kündi­gung aus, wo­bei man sich in ers­ter Li­nie auf den (an­geb­lich er­wie­se­nen) Dieb­stahl und in zwei­ter Li­nie bzw. hilfs­wei­se auf den drin­gen­den Tat­ver­dacht be­rief, d.h. Kai­ser´s sprach ei­ne ver­hal­tens­be­ding­te Tat- und ei­ne Ver­dachtskündi­gung aus.

Die Ein­zel­hei­ten des Vor­gangs, der zur Kündi­gung führ­te, fin­den Sie in un­se­rem Bei­trag Ar­beits­recht ak­tu­ell: 09/028 Frist­lo­se Kündi­gung we­gen 1,30 EUR bestätigt.

Das Ar­beits­ge­richt wies die ge­gen die Kündi­gung vom 22.02.2008 er­ho­be­ne Kündi­gungs­schutz­kla­ge ab. Die Kündi­gung sei als Ver­dachtskündi­gung ge­recht­fer­tigt. Auch das LAG Ber­lin-Bran­den­burg ent­schied ge­gen die kla­gen­de Kas­sie­re­rin, d.h. es erklärte die Kündi­gung für rech­tens.

Die­se bei­den Ent­schei­dun­gen, vor al­lem die in der zwei­ten In­stanz er­gan­ge­ne Ent­schei­dung des LAG, lösten ei­ne bun­des­wei­te Dis­kus­si­on über die Be­rech­ti­gung von Kündi­gun­gen auf­grund ge­ringfügi­ger Vermögens­de­lik­te aus (wir be­rich­te­te darüber in Ar­beits­recht ak­tu­ell: 09/031 Der Fall „Em­me­ly“ als Po­li­ti­kum).

LAG Ber­lin-Bran­den­burg: Frau Em­me hat die bei­den Kun­den-Pfand­bons ent­wen­det, um sie für sich ein­zulösen

Das LAG geht zunächst in Übe­rein­stim­mung mit der Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts (BAG) da­von aus, dass ein vom Ar­beit­neh­mer zu Las­ten des Ar­beit­ge­bers be­gan­ge­nes Vermögens­de­likt in der Re­gel Grund ge­nug für ei­ne außer­or­dent­li­che Kündi­gung aus „wich­ti­gem Grund“ nach § 626 Bürger­li­ches Ge­setz­buch (BGB) sei. Ein Ar­beit­neh­mer, der straf­ba­re Hand­lun­gen zu­las­ten des Vermögens sei­nes Ar­beit­ge­bers be­ge­he, ver­let­ze sei­ne ar­beits­ver­trag­li­chen Pflich­ten schwer­wie­gend und miss­brau­che das in ihn ge­setz­te Ver­trau­en er­heb­lich.

An­ders als dies in der öffent­li­che Mei­nung und in der Kri­tik an den bei­den Ur­tei­len im Fall Em­me­ly teil­wei­se ge­se­hen wird, ist das LAG der Mei­nung, dass der Wert ei­ner dem Ar­beit­ge­ber ge­stoh­le­nen Sa­che bei der Prüfung der Wirk­sam­keit ei­ner außer­or­dent­li­chen Kündi­gung kei­ne Rol­le spie­le. Auch dann, wenn ein zu­las­ten des Ar­beit­ge­bers be­gan­ge­nes Vermögens­de­likt ge­ring­wer­ti­ge Din­ge be­tref­fe, sei das Ver­hal­ten des Ar­beit­neh­mers „an sich“ als ein wich­ti­ger Grund zur außer­or­dent­li­chen Kündi­gung ge­eig­net.

Das LAG setzt sich so­dann mit der ju­ris­ti­schen Kri­tik der Kläge­rin bzw. ih­rer ge­werk­schaft­li­chen Pro­zeßbe­vollmäch­tig­ten an der Rechts­fi­gur der Ver­dachtskündi­gung aus­ein­an­der. Die Be­son­der­heit die­ser Va­ri­an­te ei­ner (meist außer­or­dent­li­chen) Kündi­gung be­steht dar­in, dass schon der gra­vie­ren­de Ver­dacht ei­ner straf­ba­ren Hand­lung zur Kündi­gung be­rech­ti­gen soll.

Hier meint das Ge­richt in Übe­rein­stim­mung der mit der prak­tisch all­ge­mei­nen Auf­fas­sung un­ter Ju­ris­ten, dass die ge­gen die Möglich­keit ei­ner Ver­dachtskündi­gung ge­rich­te­ten Einwände nicht über­zeu­gen könn­ten (Ein­zel­hei­ten hier­zu fin­den Sie in: Hand­buch Ar­beits­recht, Stich­wort Ver­dachtskündi­gung).

Im vor­lie­gen­den Fall muss­te sich das LAG aber im Er­geb­nis gar nicht zu der Fra­ge po­si­tio­nie­ren, ob die ge­gen das Rechts­in­sti­tut der Ver­dachtskündi­gung ge­rich­te­ten Einwände rich­tig oder falsch sind, da es - an­ders als die ers­te In­stanz - der Über­zeu­gung war, die Kas­sie­re­rin ha­be die ihr vor­ge­wor­fe­ne straf­ba­re Un­ter­schla­gung tatsächlich be­gan­gen.

Ob ei­ne Kündi­gung we­gen des bloßen Ver­dachts, zwei Leer­gut­bons im Wert von zu­sam­men 1,30 EUR un­ter­schla­gen oder ge­stoh­len zu ha­ben, als Kündi­gungs­grund aus­rei­chend sein kann oder nicht, muss­te das LAG da­her nicht ent­schei­den, da es die Kündi­gung als sog. Tatkündi­gung, d.h. we­gen des zur Über­zeu­gung des Ge­richts fest­ste­hen­den Tat­vor­wurfs für rech­tens hielt.

Das LAG nahm da­bei ei­ne um­fang­rei­che Würdi­gung der Zeu­gen­aus­sa­ge ei­ner Kol­le­gin der gekündig­ten Kas­sie­re­rin vor.

Die­se Ar­beits­kol­le­gin hat­te die ihr von der Kläge­rin über­reich­ten Pfand­bons am 22.01.2008 über den Scan­ner an der Kas­se ge­zo­gen. Die die Kläge­rin be­las­ten­den Aus­sa­gen die­ser Ar­beits­kol­le­gin be­ur­teil­te das LAG als glaub­haft.

Da­bei wur­de der Kläge­rin an­ge­krei­det, dass sie sich wech­sel­haft ein­ge­las­sen hat­te. So hat­te sie in der ers­ten In­stanz den Vor­trag der Be­klag­ten zum Auf­fin­den der Leer­gut­bons zunächst be­strit­ten und be­haup­tet, dass sich die­ser Vor­gang im Sep­tem­ber/Ok­to­ber 2007 er­eig­net ha­be.

Vor dem LAG hielt sie die­sen Vor­trag aber nicht mehr auf­recht und erklärte, es sei zwi­schen ihr und ih­rem Pro­zess­be­vollmäch­tig­ten zu ei­nem Miss­verständ­nis ge­kom­men. Das LAG hielt der Kläge­rin an die­sem Punkt vor, ih­re pro­zes­sua­le Wahr­heits­pflicht ver­letzt zu ha­ben, d.h. den Vor­trag der Be­klag­ten der Wahr­heit zu­wi­der so­lan­ge be­strit­ten zu ha­ben, wie sie sich da­von ei­nen Vor­teil er­hofft hätte.

Das LAG sah in dem aus sei­ner Sicht fest­ste­hen­den straf­ba­ren Ver­hal­ten der Kläge­rin ei­nen wich­ti­gen Grund im Sin­ne von § 626 Abs. 1 BGB, da sie die Leer­gut­bons an sich ge­nom­men und durch de­ren Einlösen ver­sucht ha­be, sich zu Las­ten ih­res Ar­beit­ge­bers ei­nen rechts­wid­ri­gen Vermögens­vor­teil zu ver­schaf­fen.

Ei­ne vor­he­ri­ge Ab­mah­nung sei im vor­lie­gen­den Fall nicht nötig ge­we­sen. Zwar sein ei­ne Ab­mah­nung nach dem Verhält­nismäßig­keits­prin­zip in der Re­gel vor Aus­spruch ei­ner Kündi­gung ge­bo­ten. Sie sei al­ler­dings aus­nahms­wei­se dann nicht er­for­der­lich, wenn die Pflicht­ver­let­zung so gra­vie­rend sei, dass die Rechts­wid­rig­keit für den Ar­beit­neh­mer oh­ne wei­te­res er­kenn­bar und ei­ne Hin­nah­me durch den Ar­beit­ge­ber of­fen­sicht­lich aus­ge­schlos­sen sei.

Aus­ge­hend von die­sen Grundsätzen war ei­ne Ab­mah­nung nach An­sicht des LAG im vor­lie­gen­den Fall nicht nötig. Die Kläge­rin ha­be als Kas­sie­re­rin ih­re ar­beits­ver­trag­li­chen Pflich­ten „auf das Schwers­te ver­letzt“, in­dem sie durch die Weg­nah­me und das Einlösen der Pfand­bons ein Vermögens­de­likt ge­genüber dem Ar­beit­ge­ber be­gan­gen ha­be.

Es sei für die Kläge­rin klar ge­we­sen, dass sie nicht be­fugt ge­we­sen sei, die ihr an­ver­trau­ten Pfand­bons an sich neh­men und für ei­nen ei­ge­nen Ein­kauf ein­zulösen. Sie sei seit vie­len Jah­ren bei der Be­klag­ten beschäftigt und ha­be sich da­her mit dem Um­gang von Pfand­bons aus­ge­kannt.

Auf et­wai­ge Un­klar­hei­ten der Or­ga­ni­sa­ti­ons­an­wei­sun­gen zum Um­gang mit Fund­geld ha­be sie sich nicht be­ru­fen können. Die Or­ga­ni­sa­ti­ons­an­wei­sung se­he vor, dass auch Pfand­bons mit Beträgen un­ter 1,00 EUR ab­zu­ge­ben sei­en. Außer­dem ha­be der Markt­lei­ter ein­deu­ti­ge An­wei­sun­gen zum Um­gang mit Pfand­bons er­teilt.

In­fol­ge der Schwe­re der Pflicht­ver­let­zung ha­be die Kläge­rin nicht da­von aus­ge­hen können, dass die Be­klag­te die­ses Ver­hal­ten auch nur ein­ma­lig hin­neh­men oder dul­den wer­de.

Auch bei Abwägung der bei­der­sei­ti­gen In­ter­es­sen be­ur­teil­te das Ge­richt das In­ter­es­se von Kai­ser´s an ei­ner Be­en­di­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses als vor­ran­gig.

Zwar sei zu Guns­ten der Kläge­rin ei­ne Be­triebs­zu­gehörig­keit von 31 Jah­ren, ei­ne aus­sch­ließli­che Tätig­keit für die Be­klag­te und auch de­ren Al­ter zur Be­ur­tei­lung der (schlech­ten) Chan­cen auf dem Ar­beits­markt an­zuführen. Auch sei der Be­klag­ten mit 1,30 EUR kein nen­nens­wer­ter Scha­den ent­stan­den.

Auf der an­de­ren Sei­te sei zu Guns­ten von Kai­ser´s zu berück­sich­ti­gen, dass nicht al­lein oder in ers­ter Li­nie der Um­fang der vom Ar­beit­neh­mer ver­ur­sach­ten Schädi­gung ent­schei­dend sei, son­dern der durch die Straf­tat ein­ge­tre­te­ne Ver­trau­ens­ver­lust. Auch müsse und dürfe ein Ar­beit­ge­ber ge­ra­de im Ein­zel­han­del präven­ti­ve Ge­sichts­punk­te be­ach­ten.

Die Abwägung ge­he da­her zu Guns­ten der Be­klag­ten aus, d.h. de­ren In­ter­es­se an der so­for­ti­gen Be­en­di­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses wie­ge schwe­rer. Ins­be­son­de­re die Tätig­keit der Kläge­rin als Kas­sie­re­rin er­for­de­re ei­ne „ab­so­lu­te Zu­verlässig­keit und Kor­rekt­heit im Um­gang mit der Kas­se“. Die Ar­beit­ge­be­rin müsse sich dar­auf ver­las­sen können, dass sich die bei ihr beschäftig­ten Kas­sie­re­rin­nen stets kor­rekt ver­hal­ten.

Er­schwe­rend sei beim The­ma Ver­trau­ens­ver­lust zu berück­sich­ti­gen, dass die Kläge­rin das Einlösen der Pfand­bons ent­ge­gen ih­rer im Pro­zess be­ste­hen­den Wahr­heits­pflicht be­harr­lich ab­ge­strit­ten, un­be­tei­lig­te Per­so­nen als mögli­che „Quel­le“ der Leer­gut­bons ge­nannt und so­gar ver­sucht ha­be, den Ver­dacht auf Kol­le­gen zu len­ken.

Die Kündi­gung ver­s­toße auch nicht ge­gen das Maßre­ge­lungs­ver­bot, da die Kas­sie­re­rin nicht we­gen ei­ner Streik­teil­nah­me gekündigt wor­den sei. Die Be­klag­te ha­be viel­mehr so re­agiert, wie dies je­des Ein­zel­han­dels­un­ter­neh­men un­abhängig von ei­ner et­wai­gen Streik­be­tei­li­gung ge­tan hätte.

Fa­zit: Ba­ga­tell­de­lik­te können auch künf­tig ei­ne frist­lo­se Kündi­gung nach sich zie­hen, aber die Ge­rich­te soll­ten die bei­der­sei­ti­gen In­ter­es­sen im Ein­zel­fall er­geb­nis­of­fen abwägen

Die oben erwähn­te öffent­li­che De­bat­te über die Be­rech­ti­gung frist­lo­ser ver­hal­tens­be­ding­ter Kündi­gun­gen bei Vermögens­de­lik­ten im Ba­ga­tell­be­reich wird mitt­ler­wei­le auch un­ter Ar­beits­recht­lern geführt. Ver­ein­zelt wird vor­ge­schla­gen, die bei der Straf­ver­fol­gung gel­ten­den Ba­ga­tell­gren­zen auch im Ar­beits­recht an­zu­wen­den.

In die­se Rich­tung ge­hen­de Vor­schläge wer­den sich al­ler­dings al­ler Wahr­schein­lich­keit nach nicht durch­set­zen, da ein Ar­beit­ge­ber nun ein­mal nicht der Staat ist. Was dem Staat bei der Straf­ver­fol­gung sinn­voll er­scheint, nämlich die fak­ti­sche Sank­ti­ons­lo­sig­keit bei erst­ma­lig be­gan­ge­nen Ba­ga­tell­de­lik­ten, ist ei­nem (oft „klei­nen“) Ar­beit­ge­ber nicht zu­zu­mu­ten.

Rich­tig ist al­ler­dings, dass die Recht­spre­chung der Ar­beits­ge­rich­te in Strei­tig­kei­ten von der Art des Fal­les „Em­me­ly“ nicht im­mer an­ge­mes­sen ist. Kor­rek­tur­be­darf be­steht aus un­se­rer Sicht vor al­lem in zwei Hin­sich­ten:

Ers­tens wäre zu wünschen, dass Ar­beits- und Lan­des­ar­beits­ge­rich­te in Zu­kunft kri­ti­scher als bis­lang die vom Ar­beit­ge­ber vor­ge­brach­ten In­di­zi­en für an­geb­li­che kri­mi­nel­le Ab­sich­ten des gekündig­ten Ar­beit­neh­mers über­prüfen. Ein Bei­spiel: Wer als Außen­dienst­mit­ar­bei­ter sehr gut ver­dient, wäre schon mehr als „doof“, wenn er es im Rah­men ei­ner Rei­se­kos­ten­ab­rech­nung dar­auf an­le­gen würde, sei­nen Ar­beit­ge­ber um 5,00 EUR Park­gebühren zu betrügen.

Sol­che Vorgänge, die von Ar­beit­ge­bern oft mit er­heb­li­chem „de­tek­ti­vi­schem“ Auf­wand dem Ge­richt un­ter­brei­tet wer­den, genügen lei­der bis­her in al­ler Re­gel, um auch lang­ge­dien­te, gut ver­die­nen­de und bis­lang völlig „ho­no­ri­ge“ Ar­beit­neh­mer vor Ge­richt mit Er­folg als (Klein-)Kri­mi­nel­le hin­zu­stel­len. Hier soll­ten sich Ar­beits­rich­ter ein­mal über­le­gen, ob sie der­ar­ti­ge „Vorfälle“ auch als aus­rei­chen­den An­halts­punkt für die kri­mi­nel­le Ab­sicht ei­nes ih­rer Rich­ter­kol­le­gen an­se­hen würden.

Zwei­tens soll­te man die In­ter­es­sen­abwägung viel erns­ter neh­men als dies bis­lang ge­schieht. Der Fall „Em­me­ly“ macht deut­lich, dass die lan­ge Dau­er des Ar­beits­verhält­nis­ses ei­nem Ar­beit­neh­mer prak­tisch nichts nützt, wenn ihm ein (klein-)kri­mi­nel­les De­likt vor­ge­hal­ten wird. In er Pra­xis ver­kommt die „Abwägung“ des Ar­beit­neh­mer­inter­es­ses am Fort­be­stand sei­nes Ar­beits­verhält­nis­ses mit dem Ar­beit­ge­ber­in­ter­es­se an ei­ner Ver­trags­auflösung oft zu ei­nem „Ge­hu­be­re“ mit be­reits vor­ab fest­ste­hen­dem, nämlich zu­las­ten des Ar­beit­neh­mers ge­hen­dem Er­geb­nis.

Auch hier soll­te die Ar­gu­men­ta­ti­on der Ar­beit­ge­ber­sei­te, durch das be­haup­te­te Vermögens­de­likt sei ein ir­re­pa­ra­bler Ver­trau­ens­ver­lust ein­ge­tre­ten, kri­ti­scher als bis­her über­prüft wor­den. Vor­aus­set­zung für ei­ne zu­guns­ten des Ar­beit­neh­mers ge­hen­de In­ter­es­sen­abwägung ist da­bei al­ler­dings auch in Zu­kunft, dass sich der gekündig­te Ar­beit­neh­mer ab­so­lut of­fen und da­her über­zeu­gend zu sei­nen mögli­cher­wei­se wirk­lich be­gan­ge­nen, „klei­nen“ Ver­feh­lun­gen verhält.

Im Fall „Em­me­ly“ ha­ben das Ar­beits­ge­richt und das Lan­des­ar­beits­ge­richt un­se­rer Mei­nung nach letzt­lich rich­tig ent­schie­den.

Denn ers­tens konn­te die Kas­sie­re­rin die ge­gen sie be­ste­hen­den Ver­dachts­mo­men­te nicht ent­kräften, d.h. hier be­stand ei­ne über­wie­gen­de Wahr­schein­lich­keit, dass sie das ihr vor­ge­hal­te­ne De­likt tatsächlich be­gan­gen hat­te.

Und zwei­tens hat­te sie sich nach Be­kannt­wer­den des Vor­falls nicht of­fen und ehr­lich ver­hal­ten, son­dern sich mit ver­schie­de­nen, teil­wei­se wi­dersprüchli­chen An­ga­ben im­mer un­glaubwürdi­ger ge­macht. Hätte sie an­ders ge­han­delt, d.h. den Vor­fall of­fen ein­geräumt, hätte die In­ter­es­sen­abwägung wohl zu ih­ren Guns­ten aus­ge­hen müssen.

Denn die Un­ter­schla­gung zwei­er von ei­nem Kun­den ver­lo­re­nen Leer­gut­bons im Wert von 1,30 EUR, die zu­dem in sol­chen Fällen prak­tisch nie vom Be­rech­tig­ten zurück­ver­langt wer­den, ist ein Vor­fall, der ge­genüber an­de­ren denk­ba­ren Pflicht­verstößen ei­ner Kas­sie­re­rin so vie­le „er­leich­tern­de“ Be­son­der­hei­ten auf­weist, dass ei­ne dar­auf gestütz­te Kündi­gung bei ei­nem über 30 Jah­re lang be­ste­hen­den Ar­beits­verhält­nis kaum an­ge­mes­sen er­scheint.

Es bleibt ab­zu­war­ten, was die gekündig­te Kas­sie­re­rin ge­gen die Ent­schei­dung des LAG Ber­lin-Bran­den­burg un­ter­neh­men wird. Da das Ge­richt die Re­vi­si­on zum BAG nicht zu­ge­las­sen hat, bleibt zunächst nur die Möglich­keit, ei­ne Nicht­zu­las­sungs­be­schwer­de beim BAG zu er­he­ben mit dem Ziel, dass das BAG die Re­vi­si­on zulässt.

Da die we­sent­li­chen, d.h. ur­teilstra­gen­den Über­le­gun­gen des LAG al­ler­dings in ei­ner Be­wer­tung der in die­sem kon­kre­ten Fall maßgeb­li­chen Be­wei­se be­ste­hen und die vom Ge­richt im übri­gen zi­tier­ten all­ge­mei­nen Rechts­grundsätze nicht wirk­lich um­strit­ten sind, dürf­te ei­ne Nicht­zu­las­sungs­be­schwer­de nur ge­rin­ge Er­folgs­aus­sich­ten ha­ben.

Nähe­re In­for­ma­tio­nen zu die­sem Vor­gang fin­den Sie hier:

Hin­weis: In der Zwi­schen­zeit, d.h. nach Er­stel­lung die­ses Ar­ti­kels, hat das Bun­des­ar­beits­ge­richt über den Fall ent­schie­den und zunächst die Re­vi­si­on zu­ge­las­sen, die das LAG Frau Em­me ver­wehrt hat­te, und so­dann das LAG-Ur­teil auf­ge­ho­ben und der Kläge­rin Bar­ba­ra Em­me Recht ge­ge­ben. Die Ent­schei­dun­gen des BAG und ei­ne Be­spre­chung fin­den Sie hier:

Letzte Überarbeitung: 24. August 2016

Weitere Auskünfte erteilen Ihnen gern:

Dr. Martin Hensche
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Kontakt:
030 / 26 39 620
hensche@hensche.de
Christoph Hildebrandt
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Kontakt:
030 / 26 39 620
hildebrandt@hensche.de
Nina Wesemann
Rechtsanwältin
Fachanwältin für Arbeitsrecht

Kontakt:
040 / 69 20 68 04
wesemann@hensche.de
Bewertung: 5.0 von 5 Sternen (1 Bewertung)

Auf Facebook teilen Auf Google+ teilen Ihren XING-Kontakten zeigen Beitrag twittern

 

Für Personaler, betriebliche Arbeitnehmervertretungen und andere Arbeitsrechtsprofis: "Update Arbeitsrecht" bringt Sie regelmäßig auf den neusten Stand der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung. Informationen zu den Abo-Bedingungen und ein kostenloses Ansichtsexemplar finden Sie hier:

Alle vierzehn Tage alles Wichtige
verständlich / aktuell / praxisnah

HINWEIS: Sämtliche Texte dieser Internetpräsenz mit Ausnahme der Gesetzestexte und Gerichtsentscheidungen sind urheberrechtlich geschützt. Urheber im Sinne des Gesetzes über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte (UrhG) ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht Dr. Martin Hensche, Lützowstraße 32, 10785 Berlin.

Wörtliche oder sinngemäße Zitate sind nur mit vorheriger schriftlicher Genehmigung des Urhebers bzw. bei ausdrücklichem Hinweis auf die fremde Urheberschaft (Quellenangabe iSv. § 63 UrhG) rechtlich zulässig. Verstöße hiergegen werden gerichtlich verfolgt.

© 1997 - 2024:
Rechtsanwalt Dr. Martin Hensche, Berlin
Fachanwalt für Arbeitsrecht
Lützowstraße 32, 10785 Berlin
Telefon: 030 - 26 39 62 0
Telefax: 030 - 26 39 62 499
E-mail: hensche@hensche.de