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ARBEITSRECHT AKTUELL // 10/065

Zu­satz­ur­laub für Schwer­be­hin­der­te nach dem SGB IX

Kein Ver­fall bei lan­ger Krank­heit: Bun­des­ar­beits­ge­richt, Ur­teil vom 23.03.2010, 9 AZR 128/09 (Schultz-Hoff)
Urlaub am Meer, Palme, Luftmatratze, Sonnenhut und Badestrand Schick­sal des Ur­laubs­an­spru­ches bei Lang­zeit­er­kran­kung
06.04.2010. Seit der Ent­schei­dung des Eu­ro­päi­schen Ge­richts­hofs (EuGH) in der Sa­che Schultz-Hoff (EuGH, Ur­teil vom 20.01.2009, C-350/06) darf der vier­wö­chi­ge Min­des­t­ur­laub, wenn der Ar­beit­neh­mer ihn in­fol­ge ei­ner län­ge­ren Ar­beits­un­fä­hig­keit nicht neh­men kann, nicht ver­fal­len.

Das Bun­des­ar­beits­ge­richt (BAG) war jetzt eben­falls mit dem Rechts­streit Schultz-Hoff be­fasst und hat mit sei­nem in die­ser Rechts­sa­che er­gan­ge­nen Ur­teil vom 23.03.2010 klar­ge­stellt, dass dies auch für den ge­setz­li­chen Zu­satz­ur­laub schwer­be­hin­der­ter Ar­beit­neh­mer gilt, zu des­sen Ver­fall sich der EuGH nicht ge­äu­ßert hat­te.

Zu­dem nahm das BAG zu der Fra­ge Stel­lung, wie ta­rif­li­cher Mehr­ur­laub zu be­han­deln ist, wenn er in­fol­ge ei­ner län­ge­ren Krank­heit nicht ge­nom­men wer­den kann: BAG, Ur­teil vom 23.03.2010, 9 AZR 128/09 (Schultz-Hoff) - Pres­se­mit­tei­lung.

Die Fol­gen des Fal­les Schultz-Hoff: Kein Ver­fall von Ur­laub bei lan­ger Krank­heit

Lan­ge Zeit ver­trat das Bun­des­ar­beits­ge­richt (BAG) die Auf­fas­sung, dass der nicht ge­nom­me­ne Ur­laub auch dann ver­fal­le, wenn der Ar­beit­neh­mer ihn we­gen ei­ner lan­gen Er­kran­kung nicht hat neh­men können. Zwar ging das BAG da­von aus, dass der im lau­fen­den Ka­len­der­jahr nicht ge­nom­me­ne Ur­laub noch auf das nächs­te Jahr über­trag­bar war, al­ler­dings nur bis zum 31. März des Fol­ge­jah­res. Da­nach, d.h. mit dem En­de des Über­tra­gungs­zeit­raums, war der Ur­laub je­den­falls endgültig ver­fal­len.

Der Eu­ropäische Ge­richts­hof (EuGH) ent­schied an­hand ei­nes Fal­les, den das Lan­des­ar­beits­ge­richt (LAG) Düssel­dorf vor­ge­legt hat­te (Ur­teil vom 20.01.2009, C-350/06 - Schultz-Hoff gg. Deut­sche Ren­ten­ver­si­che­rung Bund) al­ler­dings, dass die­se Pra­xis eu­ro­pa­rechts­wid­rig ist. Denn Art.7 der Richt­li­nie 2003/88/EG über be­stimm­te As­pek­te der Ar­beits­zeit­ge­stal­tung (Richt­li­nie 2003/88/EG) ga­ran­tiert al­len, al­so auch ar­beits­unfähig er­krank­ten Ar­beit­neh­mern ei­nen vierwöchi­gen Min­des­t­ur­laubs­an­spruch, so dass die­ser nach An­sicht des EuGH bei ei­ner lan­gen Er­kran­kung des Ar­beit­neh­mer nicht ver­fal­len darf (wir be­rich­te­ten u.a. in Ar­beits­recht ak­tu­ell 09/023: „Bei dau­er­haf­ter Krank­heit kein Ver­fall von Rest­ur­laubs­ansprüchen“).

We­ni­ge Mo­na­te nach die­ser Ent­schei­dung des EuGH ent­schied das BAG, dass das Bun­des­ur­laubs­ge­setz (BUrlG) auch oh­ne Ände­rung durch den Ge­setz­ge­ber künf­tig im Sin­ne des EuGH an­zu­wen­den sei (BAG, Ur­teil vom 24.03.2009, 9 AZR 983/07). Der vierwöch­ti­ge Min­des­t­ur­laubs­an­spruch nach dem BUrlG bleibt seit­dem länger er­krank­ten Ar­beit­neh­mern er­hal­ten (wir be­rich­te­ten u.a. in Ar­beits­recht ak­tu­ell 09/057: „Aus­le­gung des Bun­des­ur­laubs­ge­set­zes ent­spre­chend dem Schultz-Hoff-Ur­teil des EuGH“).

Nicht geklärt ist durch die­se Ent­schei­dung je­doch, ob auch Ur­laubs­ansprüche, die über den vierwöchi­gen Min­des­t­ur­laubs­an­spruch hin­aus­ge­hen, bei lan­ger Er­kran­kung des Ar­beit­neh­mers er­hal­teb blei­ben.

Dies be­trifft et­wa den Zu­satz­ur­laub für schwer­be­hin­der­te Men­schen nach § 125 Abs. 1 Neun­tes Buch So­zi­al­ge­setz­buch (SGB IX). Das LAG Ber­lin-Bran­den­burg (Ur­teil vom 02.10.2009, 6 Sa 1215/09) war hier der An­sicht, dass der Zu­satz­ur­laub für Schwer­be­hin­der­te im Ge­gen­satz zum Min­des­t­ur­laubs­an­spruch bei lan­ger Er­kran­kung wei­ter­hin verfällt (wir be­rich­te­ten in Ar­beits­recht ak­tu­ell 10/043: „Zu­satz­ur­laub schwer­be­hin­der­ter Ar­beit­neh­mer: Ver­fall bei lan­ger Krank­heit?“).

Für die An­sicht des LAG Ber­lin-Bran­den­burg spricht da­bei, dass der EuGH nur über den vierwöchi­gen Min­des­t­ur­laub ent­schie­den hat, d.h. zu dem Ver­fall zusätz­li­cher Ur­laubs­ansprüche hat sich der EuGH nicht geäußert. An­de­rer­seits wäre es we­nig kon­se­quent, im deut­schen Ar­beits­recht den ge­setz­li­chen vierwöchi­gen Min­des­t­ur­laub an­ders zu be­han­deln als den Zu­satz­ur­laub für schwer­be­hin­der­te Men­schen nach dem SGB IX.

Über die­se strit­ti­ge Fra­ge hat jetzt das BAG ent­schie­den (Ur­teil vom 23.03.2010, 9 AZR 128/09 - Pres­se­mit­tei­lung).

Der Fall Schultz-Hoff: Streit um die Ab­gel­tung von Min­des­t­ur­laub nach dem BUrlG, von Zu­satz­ur­laub nach dem SGB IX und von ta­rif­li­chem Mehr­ur­laub

Der Kläger, Herr Schultz-Hoff, war seit An­fang der sieb­zi­ger Jah­re bei der Deut­schen Ren­ten­ver­si­che­rung Bund (früher: BfA) als Außen­dienst­mit­ar­bei­ter beschäftigt. Er muss­te sich we­gen ei­nes Band­schei­ben­lei­dens seit 1995 sech­zehn Ope­ra­tio­nen un­ter­zie­hen und war in­fol­ge die­ses Lei­dens schwer­be­hin­dert.

So­wohl 2004 als auch 2005 war er durch­ge­hend - bis auf we­ni­ge Ta­ge im Jahr 2004 - ar­beits­unfähig krank. Ei­nen An­trag auf Gewährung sei­nes rest­li­chen Ur­laubs für das Jahr 2004 hat­te der Ar­beit­ge­ber be­rech­tig­ter­wei­se ab­ge­wie­sen, weil ei­ne Gewährung von Ur­laub we­gen der wei­ter­hin be­ste­hen­den Ar­beits­unfähig­keit des Klägers nicht möglich war. Zum 30.09.2005 en­de­te das Ar­beits­verhält­nis.

Herr Schultz-Hoff ver­lang­te nun vor dem Ar­beits­ge­richt Düssel­dorf die Ab­gel­tung sei­nes Ur­laubs, und zwar von je 35 Ur­laubs­ta­gen für 2004 und für 2005. Von die­sen 35 Ta­gen wa­ren je 20 Ta­ge ge­setz­li­cher Min­des­t­ur­laub, je fünf Ta­ge Zu­satz­ur­laub für Schwer­be­hin­der­te und je 10 Ta­ge ta­rif­li­cher Zu­satz­ur­laub.

Vor dem Ar­beits­ge­richt Düssel­dorf ver­lor Herr Schultz-Hoff (Ur­teil vom 07.03.2006, 3 Ca 7906/05). Das mit der Be­ru­fung be­fass­te LAG Düssel­dorf leg­te den Fall dem EuGH vor (Be­schluss vom 02.08.2006, 12 Sa 486/06), der den Ver­fall des Min­des­t­ur­laubs­an­spruchs für eu­ro­pa­rechts­wid­rig erklärte (EuGH, Ur­teil vom 20.01.2009, C-350/06).

Dar­auf­hin wie­der gab das LAG Düssel­dorf Herrn Schultz-Hoff im we­sent­li­chen recht (Ur­teil vom 02.02.2009, 12 Sa 486/06). Nur den ta­rif­li­chen Zu­satz­ur­laub für das Jahr 2004 hielt das LAG für ver­fal­len, da nach dem ein­schlägi­gen Ta­rif­ver­trag der rest­li­chen Ur­laub aus dem Vor­jahr bis spätes­tens zum 01. Ju­ni des nächs­ten Jah­res an­ge­tre­ten wer­den muss­te und des­halb nach den Re­ge­lun­gen des Ta­rif­ver­trags ver­fal­len war. Ins­ge­samt sprach das LAG Düssel­dorf dem Kläger da­mit die Ab­gel­tung von 60 Ur­laubs­ta­gen zu und wies die Kla­ge im Um­fang von zehn Ur­laubs­ta­gen ab. Auf­grund der vie­len zum Ent­schei­dungs­zeit­punkt vom BAG noch nicht ent­schie­de­nen Fra­gen ließ das LAG die Re­vi­si­on zu.

Bun­des­ar­beits­ge­richt: Zu­satz­ur­laub Schwer­be­hin­der­ter verfällt bei lan­ger Krank­heit nicht.

Vor dem BAG ging es nur noch um die Fra­ge, ob Herr Schultz-Hoff An­spruch auf die Ab­gel­tung des Zu­satz­ur­laubs für Schwer­be­hin­der­te so­wie des ta­rif­li­chen Zu­satz­ur­laubs hat­te. Aus der bis­her al­lein vor­lie­gen­den Pres­se­mit­tei­lung des BAG lässt sich ent­neh­men, dass das BAG die glei­che Auf­fas­sung ver­tritt wie die Vor­in­stanz und dem Kläger den ge­sam­ten Zu­satz­ur­laub für Schwer­be­hin­der­te so­wie den ta­rif­li­chen Zu­satz­ur­laub für das Jahr 2005 zu­sprach, nicht je­doch den ta­rif­li­chen Zu­satz­ur­laub für das Jahr 2004.

Die Be­gründung hierfür wird sich erst nach Veröffent­li­chung der Ent­schei­dungs­gründe er­se­hen las­sen. Klar ist je­doch, dass die Ent­schei­dung des LAG Ber­lin-Bran­den­burg vom 02.10.2009 (6 Sa 1215/09) nun von der höchst­rich­ter­li­chen Recht­spre­chung über­holt wur­de. Zu­satz­ur­laub für Schwer­be­hin­der­te darf jetzt bei ei­ner lang­wie­ri­gen Er­kran­kung des Ar­beit­neh­mers ge­nau­so we­nig ver­fal­len wie der ge­setz­li­che Min­des­t­ur­laub nach dem Bun­des­ur­laubs­ge­setz.

Bei der Fra­ge, ob der ta­rif­li­che Zu­satz­ur­laub verfällt oder nicht, soll es laut BAG dar­auf an­kom­men, ob der Zu­satz­ur­laub nach dem „er­kenn­ba­ren Wil­len der Ta­rif­ver­trags­par­tei­en“ ge­nau­so be­han­delt wer­den soll, wie der ge­setz­li­che Min­des­t­ur­laub (und dem­ent­spre­chend nicht durch Krank­heit verfällt) oder am En­de des ta­rif­li­chen Über­tra­gungs­zeit­raums un­ter­ge­hen soll, wie es of­fen­bar vor­lie­gend der Fall war.

Fa­zit: Nach ei­ner lang­wie­ri­gen Krank­heit, die der Ur­laubs­gewährung ent­ge­gen­stand, kann jetzt al­so ne­ben der Ab­gel­tung des Min­des­t­ur­laubs­an­spru­ches auch die Ab­gel­tung des Zu­satz­ur­laubs für Schwer­be­hin­der­te ver­langt wer­den, oh­ne dass dem ein mögli­cher Ver­fall des Ur­laubs ent­ge­gen­steht. Bei zusätz­li­chen ta­rif­li­chen oder ar­beits­ver­trag­li­chen Ur­laubs­ansprüchen kommt es auf die For­mu­lie­rung im Ein­zel­fall an.

Nähe­re In­for­ma­tio­nen fin­den Sie hier:

Hin­weis: In der Zwi­schen­zeit, d.h. nach Er­stel­lung die­ses Ar­ti­kels, hat das Ge­richt sei­ne Ent­schei­dungs­gründe schrift­lich ab­ge­fasst und veröffent­licht. Die Ent­schei­dungs­gründe fin­den Sie im Voll­text hier:

Letzte Überarbeitung: 28. April 2019

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