HENSCHE RECHTSANWÄLTE, FACHANWALTSKANZLEI FÜR ARBEITSRECHT

 

LAG Köln, Be­schluss vom 26.01.2012, 9 Ta 272/11

   
Schlagworte: Diskriminierung: Behinderung
   
Gericht: Landesarbeitsgericht Köln
Aktenzeichen: 9 Ta 272/11
Typ: Beschluss
Entscheidungsdatum: 26.01.2012
   
Leitsätze:

1. Das Arbeitsgericht hat vor der Entscheidung über das PKH-Gesuch den Gegner nach § 118 Abs. 1 S. 1 ZPO anzuhören, wenn die Erfolgsaussicht der Klage von der Auslegung eines Begriffs (hier: Kommunikationsstärke) abhängt, den der Gegner als Grund für die Ablehnung der Bewerbung des behinderten Menschen, der Entschädigung und Schmerzensgeld verlangt, verwandt hat.

2. Wird die Bewerbung eines Menschen mit Sprechstörung wegen fehlender "Kommunikationsstärke" und "großer Kommunikationsprobleme" abgelehnt, so kann die Vermutung gerechtfertigt sein, es liege eine Benachteiligung wegen seiner Behinderung vor. Der einstellende Arbeitgeber hat diesen Vermutungstatbestand nach § 22 AGG zu entkräften.

3. Sofern der Arbeitgeber nachweist, dass der Arbeitsplatz auch bei benachteiligungsfreier Auswahl mit einem anderen besseren Bewerber besetzt worden wäre, und im Zusammenhang mit der Ablehnung auch nicht eine besonders schwere Persönlichkeitsverletzung erfolgt ist, kann der behinderte Mensch nur eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG von maximal 3 Monatsgehältern verlangen.

Vorinstanzen: Arbeitsgericht Bonn, Beschluss vom 20.07.2011, 5 Ca 1722/11
   

9 Ta 272/11

5 Ca 17227/11

Ar­beits­ge­richt Bonn

 

LAN­DES­AR­BEITS­GERICHT KÖLN

 

BESCHLUSS

In dem Rechts­streit

 

- Kläger und Be­schwer­deführer -

Pro­zess­be­vollmäch­tig­te:

g e g e n

- Be­klag­te -

Pro­zess­be­vollmäch­tig­te:

hat die 9. Kam­mer des Lan­des­ar­beits­ge­richts Köln am 26.01.2012 – oh­ne vor­he­ri­ge münd­li­che Ver­hand­lung – durch den Vor­sit­zen­den Rich­ter am Lan­des­ar­beits­ge­richt S als Vor­sit­zen­den

b e s c h l o s s e n :

Auf die so­for­ti­ge Be­schwer­de des Klägers wird der Be­schluss des Ar­beits­ge­richts Bonn vom 20. Ju­li 2011 – 5 Ca 1722/11 EU – ab­geändert:

1. Dem Kläger wird Pro­zess­kos­ten­bei­hil­fe un­ter Bei­ord­nung von Rechts­an­walt J aus K für die Kla­ge auf Zah­lung ei­ner Entschädi­gung in Höhe von 3 Mo­nats­gehältern nach der Ent­gelt­grup­pe 9 TVöD be­wil­ligt.

2. Im Übri­gen wird der An­trag auf Pro­zess­kos­ten­hil­fe zurück­ge­wie­sen.

Gründe


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I. Der Kläger hat Pro­zess­kos­ten­hil­fe für ei­ne Kla­ge auf Entschädi­gung und Schmer­zens­geld we­gen ei­ner Be­nach­tei­li­gung bei der Be­gründung ei­nes Ar­beits­verhält­nis­ses auf­grund sei­ner Sprech­be­hin­de­rung be­an­tragt.

Der Kläger, ge­bo­ren am . 1960, hat ei­nen Be­scheid des Ver­sor­gungs­am­tes T vom 7. Mai 1979 vor­ge­legt, wor­in ei­ne Min­de­rung sei­ner Er­werbsfähig­keit mit ei­nem Grad von 30 „we­gen Sprechstörun­gen bei psy­cho-ve­ge­ta­ti­ver La­bi­lität“ an­er­kannt wor­den ist.

Er be­warb sich mit Schrei­ben vom 8. Fe­bru­ar 2011 auf die von der Be­klag­ten aus­ge­schrie­be­ne Stel­le ei­nes Ar­beits­ver­mitt­lers, der voll­zei­tig be­fris­tet bis zum 31. De­zem­ber 2015 mit ei­ner Vergütung nach der Ent­gelt­grup­pe 9 TVöD beschäftigt wer­den soll­te. Nach ei­nem Be­wer­bungs­gespräch am 23. Fe­bru­ar 2011 teil­te die Be­klag­te dem Kläger mit Mail­schrei­ben vom glei­chen Tag mit, „an­de­re Be­wer­ber/in­nen hätten sie mehr über­zeugt, ins­be­son­de­re sei­en die­se bes­ser über ihr Job­cen­ter in­for­miert und kom­mu­ni­ka­ti­onsstärker“.

Nach­dem der Kläger mit Schrei­ben vom 18. April 2011 von der Be­klag­ten ver­ge­bens Scha­dens­er­satz und Entschädi­gung we­gen Dis­kri­mi­nie­rung in Höhe von EUR 30.298,92 zum Aus­gleich im­ma­te­ri­el­ler Schäden und in Höhe von EUR 2.524,91 zum Aus­gleich ma­te­ri­el­ler Schäden (Lohn­aus­fall) so­wie Er­satz von Rechts­an­walts­kos­ten in Höhe von EUR 2.493,05 ge­for­dert hat­te, ver­langt er mit Kla­ge vom 13. Ju­li 2011 von der Be­klag­ten Zah­lung von EUR 30.298,92 als Schmer­zens­geld, von je­weils EUR 2.524,91 als Gehälter für die Mo­na­te März 2011 bis ein­sch­ließlich Ju­ni 2011 abzüglich er­hal­te­nem Ar­beits­lo­sen­geld in Höhe von mo­nat­lich EUR 793,02 so­wie Er­satz der außer­ge­richt­lich ent­stan­de­nen Rechts­an­walts­kos­ten in Höhe von EUR 2.493,05 und der ge­richt­lich ent­ste­hen­den Kos­ten der Rechts­ver­fol­gung ein­sch­ließlich An­walts­ho­no­ra­ren. Er


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be­haup­tet, er ha­be seit rund 45 Jah­ren ei­ne Be­hin­de­rung im Re­de­fluss (Stot­tern).

Das Ar­beits­ge­richt Bonn hat den An­trag auf Pro­zess­kos­ten­be­wil­li­gung durch Be­schluss vom 20. Ju­li 2011 man­gels hin­rei­chen­der Aus­sicht für die Kla­ge zurück­ge­wie­sen mit der Be­gründung, so­weit die Be­klag­te an­de­re Be­wer­ber als kom­mu­ni­ka­ti­onsstärker be­zeich­net ha­be, stel­le dies ei­ne bei der Ab­leh­nung von Be­wer­bern gebräuch­li­che und übli­che Flos­kel dar. Kom­mu­ni­ka­ti­onsstärke ha­be nichts mit ei­ner Sprech­be­hin­de­rung zu tun. Es ge­he da­bei nicht um Re­de­fluss und Aus­spra­che, son­dern ins­be­son­de­re um Wort­wahl und Satz­bau.

Der da­ge­gen frist­ge­recht ein­ge­leg­ten so­for­ti­gen Be­schwer­de hat das Ar­beits­ge­richt Bonn nicht ab­ge­hol­fen, son­dern sie dem Be­schwer­de­ge­richt zur Ent­schei­dung vor­ge­legt. Zur Be­gründung hat es aus­geführt, das Vor­brin­gen des Klägers in sei­ner Be­schwer­de­schrift darüber, wie der Be­griff „Kom­mu­ni­ka­ti­onsstärke“ zu ver­ste­hen sei und in­wie­fern die Be­klag­te den durch die Be­hin­de­rung ein­ge­schränk­ten Re­de­fluss als Grund für die Ab­leh­nung sei­ner Be­wer­bung ge­nom­men ha­be, führe zu kei­ner an­de­ren Be­ur­tei­lung der feh­len­den Er­folgs­aus­sicht. Selbst die Vor­aus­set­zun­gen ei­ner Bei­ord­nung nach § 11 a ArbGG lägen nicht vor, da die Kla­ge aus den Gründen des vor­he­ri­gen Be­schlus­ses vom 20. Ju­li 2011 sich als of­fen­sicht­lich mut­wil­lig dar­stel­le.

Der Kläger trägt vor, während ei­nem an­de­ren Be­wer­ber nur „De­fi­zi­te im Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ver­hal­ten“ be­schei­nigt wor­den sei­en, ha­be die Be­klag­te ihm feh­len­de „Kom­mu­ni­ka­ti­onsstärke“ als Ab­leh­nungs­grund mit­ge­teilt. Da­mit ha­be sie die Über­zeu­gungs­kraft ge­meint, für die der Re­de­fluss ei­ne wich­ti­ge Be­deu­tung ha­be. In dem Vor­stel­lungs­gespräch ha­be er die zum Nach­weis der Kennt­nis­se über Job­cen­ter ge­stell­te Fra­ge über Träger der Leis­tun­gen nach dem SGB II zu­tref­fend be­ant­wor­tet. Auf die Fra­ge, was er als Bun­des­ar­beits­mi­nis­ter ändern wer­de, ha­be er ge­ant­wor­tet, er ver­zich­te auf ei­ne Äußerung, weil er die Par­tei­zu­gehörig­keit der An­we­sen­den nicht ken­ne. Ihm sei


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in dem Vor­stel­lungs­gespräch aus­drück­lich von ei­nem Ver­tre­ter der Be­klag­ten, und zwar dem Team­ko­or­di­na­tor Per­so­nal Herrn S, be­schei­nigt wor­den, dass er fach­lich ge­eig­net sei, und bei ei­ner An­stel­lung in die Ent­gelt­grup­pe 9 Stu­fe 2 TVöD ein­grup­piert wer­de. Da er im Zeit­raum Au­gust 2009 bis De­zem­ber 2009 Men­schen, die Ar­beits­lo­sen­geld be­zo­gen hätten, be­treut und be­ra­ten ha­be, verfüge er über die vor­aus­ge­setz­te Fähig­keit, mit Kun­den zu kom­mu­ni­zie­ren und sich auch in ih­re Si­tua­ti­on ein­zufühlen. Er ha­be auch bei den Fall­bei­spie­len Lösungs­vor­schläge ge­nannt.

Das Be­schwer­de­ge­richt hat die Be­klag­te im Pro­zess­kos­ten­hil­fe-Ver­fah­ren be­tei­ligt. Sie ver­tei­digt die erst­in­stanz­li­che Ab­leh­nung der Pro­zess­kos­ten­hil­fe und ei­ner Bei­ord­nung nach § 11 a ArbGG. Sie be­strei­tet, dass der Kläger sprech­be­hin­dert ist und dass die An­er­ken­nung durch das Ver­sor­gungs­amt T noch heu­te Gültig­keit hat. Je­den­falls sei ih­ren Ver­tre­tern bei dem mit dem Kläger geführ­ten Ein­stel­lungs­gespräch kei­ne Störung des Re­de­flus­ses auf­ge­fal­len. Erst­mals ha­be sie durch das an­walt­li­che Schrei­ben vom 18. April 2011 von der be­haup­te­ten Sprech­be­hin­de­rung er­fah­ren. Ge­gen ei­ne Sprech­be­hin­de­rung des Klägers spre­che, dass er gemäß sei­nem Le­bens­lauf seit dem Ja­nu­ar 2010 als Do­zent bei ver­schie­de­nen Bil­dungs­trägern ge­ar­bei­tet ha­be. Sie ha­be mit dem Be­griff „Kom­mu­ni­ka­ti­onsstärke“ die Fähig­keit ge­meint, gut zuhören, sich in das Ge­genüber ein­fin­den, die rich­ti­gen Wor­te wählen und über­zeu­gen zu können. Es ge­he ihr dar­um, leicht gu­ten Kon­takt zu Drit­ten her­stel­len und schnell ein Ver­trau­ens­verhält­nis auf­bau­en zu können, wo­bei nicht nur die ver­ba­len Fähig­kei­ten, son­dern auch Ges­ten und Mi­mik ent­schei­dend sei­en. Da­ge­gen spie­le der Re­de­fluss kei­ne Rol­le. Sie ha­be auch ei­nem wei­te­ren ab­ge­lehn­ten Be­wer­ber feh­len­de Kom­mu­ni­ka­ti­onsstärke at­tes­tiert, oh­ne dass bei die­sem ei­ne Sprech­be­hin­de­rung vor­ge­le­gen ha­be. Sie ver­weist auf die an­ony­mi­sier­te Ein­zel­be­wer­tung der Be­wer­ber, die sich am 23. Fe­bru­ar 2011 bei ihr vor­ge­stellt ha­ben (Bl. 98 d. A.). Dar­in heißt es zur Be­gründung der Nich­t­eig­nung des Klägers: „große Dis­kre­panz zwi­schen Un­ter­la­gen und Auf­tre­ten, große Kom­mu­ni­ka­ti­ons­pro­ble­me, schlech­te Vor­be­rei­tung“. Zur Erläute­rung trägt sie


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vor, der Kläger ha­be im Ge­gen­satz zu an­de­ren Be­wer­bern schon bei der persönli­chen Vor­stel­lung nicht über­zeu­gen können. Eben­falls ha­be er nicht dar­ge­stellt, dass er sou­verän mit Stress­si­tua­tio­nen und dem be­ruf­li­chen All­tag um­ge­hen können. Kennt­nis­se über die Ar­beit im Job­cen­ter, ins­be­son­de­re das Job­cen­ter EU-ak­tiv, hätten ihm ge­fehlt. Die da­durch auf­ge­zeig­te man­geln­de Vor­be­rei­tung auf das Vor­stel­lungs­gespräch ha­be sie da­hin be­wer­ten dürfen, dass ihm Leis­tungs­be­reit­schaft und Mo­ti­va­ti­on fehl­ten. Kom­mu­ni­ka­ti­onsstärke in der von ihr auf­ge­zeig­ten Be­deu­tung sei un­erläss­lich für die Auf­ga­be des Ar­beits­ver­mitt­lers, Kun­den zu be­ra­ten und zu be­treu­en. Über Vor­er­fah­run­gen ha­be der Kläger auch nicht verfügt. Bei der Lösung von zwei Fall­bei­spie­len (Zu­wei­sung in Ar­beits­ge­le­gen­heit und Um­gang mit al­ko­ho­li­sier­tem Kun­den) ha­be der Kläger eben­so ver­sagt wie bei der Fra­ge, wel­che ge­setz­li­chen Re­ge­lun­gen er als Bun­des­ar­beits­mi­nis­ter ändern wer­de. Da­ge­gen sei der bes­ten Be­wer­be­rin Fol­gen­des be­schei­nigt wor­den: „kom­mu­ni­ka­ti­ons­stark, be­ra­tungs­kom­pe­tent, sehr gu­te Vor­er­fah­run­gen, kein Ein­ar­bei­tungs­be­darf.“

We­gen des wei­te­ren Vor­brin­gens wird auf den Ak­ten­in­halt ver­wie­sen.

II. Die zulässi­ge so­for­ti­ge Be­schwer­de ist nur im er­kann­ten Um­fang be­gründet.

Hin­rei­chen­de Er­folgs­aus­sicht be­steht nur, so­weit der nach sei­nen persönli­chen und wirt­schaft­li­chen Verhält­nis­sen bedürf­ti­ge Kläger ei­ne Entschädi­gung nach § 15 Abs. 2 AGG ver­langt, wo­bei die­se Entschädi­gung im vor­lie­gen­den Fall 3 Mo­nats­gehälter nicht über­stei­gen darf (§ 15 Abs. 2 S. 2 AGG).

1. Hin­rei­chen­de Er­folgs­aus­sicht für Rechts­ver­fol­gung oder – ver­tei­di­gung liegt vor, wenn das Ge­richt den Rechts­stand­punkt des Klägers auf­grund sei­ner Sach­dar­stel­lung und der vor­han­de­nen Un­ter­la­gen für zu­tref­fend oder zu­min­dest ver­tret­bar hält und in tatsäch­li­cher Hin­sicht min­des­tens von der Möglich­keit der Be­weisführung über­zeugt ist (vgl. Zöller-Ge­i­mer, ZPO, 29. Auf­la­ge,


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§ 114 Rdn. 19). Die­se Er­folgs­aus­sicht muss bei Ent­schei­dungs­rei­fe des An­trags vor­lie­gen. Ent­schei­dungs­reif ist das PKH-Be­geh­ren, wenn die Par­tei es schlüssig be­gründet, die Erklärung über die persönli­chen und wirt­schaft­li­chen Verhält­nis­se vor­ge­legt hat und wenn der Geg­ner Ge­le­gen­heit ge­habt hat, sich in­ner­halb an­ge­mes­se­ner Frist zum PKH-Ge­such zu äußern (vgl. Zöller-Ge­i­mer, a.a.O., § 119 Rdn. 44). Ge­gen­stand der Anhörung des Geg­ners nach § 118 Abs. 1 S. 1 ZPO sind die Er­folgs­aus­sicht der Rechts­ver­fol­gung bzw. – ver­tei­di­gung und die Fra­ge, ob die­se mut­wil­lig ist (vgl. Zöller-Ge­i­mer, a.a.O., § 118 Rdn. 2).

2. Das Ar­beits­ge­richt hat die­se Grundsätze nicht be­ach­tet, als es oh­ne vor­he­ri­ge Anhörung der Be­klag­ten über das PKH-Ge­such des Klägers ent­schied und da­bei den von der Be­klag­ten in der Ab­leh­nung ver­wand­ten Be­griff „Kom­mu­ni­ka­ti­onsstärke“ aus­leg­te, oh­ne sich zu­vor zu ver­ge­wis­sern, dass die­se Be­griffs­be­stim­mung auch tatsächlich dem Par­tei­wil­len der Be­klag­ten ent­spricht. Nicht nach­voll­zieh­bar ist, wie es mit der in dem Be­schluss vom 20. Ju­li 2011 ge­ge­be­nen Be­gründung für die feh­len­de hin­rei­chen­de Er­folgs­aus­sicht in dem späte­ren Nicht­ab­hil­fe­be­schluss vom 18. Au­gust 2011 so­gar ge­ne­rell zu dem Schluss kom­men konn­te, die Kla­ge sei of­fen­sicht­lich mut­wil­lig, und da­mit auch ei­ne Bei­ord­nung nach § 11 a ArbGG ab­lehn­te.

3. Nach dem Vor­brin­gen des Klägers hat die Be­klag­te bei der Be­set­zung der Stel­le ei­nes Ar­beits­ver­mitt­lers im Fe­bru­ar 2011 ge­gen das Ver­bot ver­s­toßen, schwer­be­hin­der­te Beschäftig­te we­gen ih­rer Be­hin­de­rung bei der Be­wer­bung um ei­ne Stel­le zu be­nach­tei­li­gen.

a. Das AGG fin­det An­wen­dung, da die Be­wer­be­r­aus­wahl nach dem In­kraft­tre­ten des AGG am 18. Au­gust 2006 statt­fand. Die Par­tei­en fal­len auch un­ter den persönli­chen An­wen­dungs­be­reich des AGG. Nach § 7 Abs. 1 AGG dürfen Ar­beit­ge­ber Beschäftig­te nicht we­gen ei­ner Be­hin­de­rung oder we­gen ei­nes an­de­ren in § 1 AGG ge­nann­ten Grun­des be­nach­tei­li­gen. Auch Be­wer­be­rin­nen und Be­wer­ber für ein Beschäfti­gungs­verhält­nis gel­ten als

 

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Beschäftig­te, § 6 Abs. 1 S. 1 AGG. Zwei­fel an der Ernst­haf­tig­keit der Be­wer­bung des Klägers hat auch die Be­klag­te nicht vor­ge­tra­gen. Die Be­klag­te ist Ar­beit­ge­be­rin nach § 6 Abs. 2 S. 1 AGG, da sie als ju­ris­ti­sche Per­son um Be­wer­bun­gen ge­be­ten hat und so­mit Per­so­nen nach § 6 Abs. 1 S. 2 AGG beschäftigt. Der Kläger hat auch sei­nen Entschädi­gungs­an­spruch in­ner­halb von zwei Mo­na­ten, be­gin­nend mit dem Zu­gang der Ab­leh­nung, durch das Schrei­ben vom 18. April 2011 gel­tend ge­macht (§ 15 Abs. 4 AGG). Die am 15. Ju­li 2011 beim Ar­beits­ge­richt ein­ge­gan­ge­ne und am 22. Ju­li 2011 der Be­klag­ten zu­ge­stell­te Kla­ge wahr­te die Frist des § 61 b Abs. 1 ArbGG, da sie in­ner­halb von drei Mo­na­ten nach schrift­li­cher Gel­tend­ma­chung des An­spruchs er­ho­ben wor­den ist, § 253 Abs. 1 ZPO.

b. Nach § 3 Abs. 1 AGG liegt ei­ne un­mit­tel­ba­re Be­nach­tei­li­gung dann vor, wenn ein Beschäftig­ter we­gen ei­nes in § 1 AGG ge­nann­ten Grun­des, al­so auch we­gen ei­ner Be­hin­de­rung, ei­ne we­ni­ger güns­ti­ge Be­hand­lung erfährt als ei­ne an­de­re Per­son in ei­ner ver­gleich­ba­ren Si­tua­ti­on. Da die we­ni­ger güns­ti­ge Be­hand­lung we­gen ei­ner Be­hin­de­rung er­fol­gen muss, ist ein Kau­sal­zu­sam­men­hang er­for­der­lich. Die­ser ist be­reits dann ge­ge­ben, wenn die Be­nach­tei­li­gung an die Be­hin­de­rung an­knüpft oder durch sie mo­ti­viert ist. Aus­rei­chend ist, dass die Be­hin­de­rung Be­stand­teil ei­nes Mo­tivbündels ist, das die Ent­schei­dung be­ein­flusst hat. Auf ein schuld­haf­tes Han­deln oder gar ei­ne Be­nach­tei­li­gungs­ab­sicht kommt es nicht an.

Hin­sicht­lich der Kau­sa­lität zwi­schen Nach­teil und dem verpönten Merk­mal ist in § 22 AGG ei­ne Be­weis­last­re­ge­lung ge­trof­fen, die sich auch auf die Dar­le­gungs­last aus­wirkt. Der Beschäftig­te genügt da­nach sei­ner Dar­le­gungs­last, wenn er In­di­zi­en vorträgt, die sei­ne Be­nach­tei­li­gung we­gen ei­nes ver­bo­te­nen Merk­mals ver­mu­ten las­sen. Dies ist der Fall, wenn die vor­ge­tra­ge­nen Tat­sa­chen aus ob­jek­ti­ver Sicht mit über­wie­gen­der Wahr­schein­lich­keit dar­auf schließen las­sen, dass die Be­nach­tei­li­gung we­gen die­ses Merk­mals er­folgt ist. Liegt ei­ne Ver­mu­tung für die Be­nach­tei­li­gung vor, trägt nach § 22 AGG die an­de­re Par­tei die Be­weis­last dafür, dass kein Ver­s­toß

 

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ge­gen die Be­stim­mun­gen zum Schutz vor Be­nach­tei­li­gung vor­ge­le­gen hat (vgl. BAG, Ur­teil vom 27. Ja­nu­ar 2011 – 8 AZR 580/09 - ).

Da­bei ist zu be­ach­ten, dass seit In­kraft­tre­ten des AGG zum 18. Au­gust 2006 ein­fach be­hin­der­te Men­schen sich nicht im Sin­ne von Ver­mu­tungs­tat­sa­chen auf Verstöße des Ar­beit­ge­bers im Be­wer­bungs­ver­fah­ren ge­gen die §§ 81 ff. SGB IX be­ru­fen können. Da aber der Be­griff Be­hin­de­rung im AGG wei­ter­rei­chend ist als der Be­hin­der­ten­be­griff im SGB IX, schützt dass AGG gleich­wohl auch die ein­fach-be­hin­der­ten Men­schen vor Dis­kri­mi­nie­rung, al­so die­je­ni­gen, de­ren Grad der Be­hin­de­rung un­ter 50 liegt und die nicht gleich­ge­stellt wur­den (vgl. BAG, Ur­teil vom 27. Ja­nu­ar 2011 – 8 AZR 580/09 - ). Zu die­ser Grup­pe gehört nach ei­ge­nem Vor­brin­gen auch der Kläger.

c. Aus­ge­hend von den vom Kläger vor­ge­tra­ge­nen oder un­strei­ti­gen Tat­sa­chen, ist der Stand­punkt des Klägers ver­tret­bar, es lägen Ver­mu­tungs­tat­sa­chen vor, die sei­ne Be­nach­tei­li­gung we­gen sei­ner Be­hin­de­rung in­di­zier­ten.

Die Be­klag­te hat sei­ne Ab­leh­nung u. a. da­mit be­gründet, an­de­re Be­wer­ber sei­en „kom­mu­ni­ka­ti­onsstärker“ ge­we­sen. In dem von der Be­klag­ten vor­ge­leg­ten Bo­gen zur Be­wer­tung al­ler Be­wer­be­rin­nen und Be­wer­ber heißt es so­gar „große Kom­mu­ni­ka­ti­ons­pro­ble­me“ hätten vor­ge­le­gen, wo­hin­ge­gen die Ne­ga­tiv­be­wer­tung bei ei­nem an­de­ren Be­wer­ber mit „De­fi­zi­ten im Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ver­hal­ten“ be­gründet wur­de. Die­se Be­wer­tun­gen las­sen durch­aus den Schluss zu, dass ei­ne beim Kläger vor­han­de­ne Sprechstörung (Stot­tern) mit da­zu führ­te, sei­ne Be­wer­bung ab­zu­leh­nen. Dass bei ei­ner münd­li­chen Kom­mu­ni­ka­ti­on der Re­de­fluss per se kei­ne Rol­le spielt, kann nicht ernst­haft ver­tre­ten wer­den (vgl. da­zu nur den Film „King‘s Speech“). Bei nach­ge­wie­se­ner Sprechstörung wird die Be­klag­te die­sen Ver­mu­tungs­tat­be­stand nach § 22 AGG zu ent­kräften ha­ben, wo­bei das Ar­beits­ge­richt Bonn ih­ren Anträgen auf Ver­neh­mung der von ihr be­nann­ten Zeu­gen, die am Be­wer­bungs­gespräch teil­ge­nom­men ha­ben, nach­zu­ge­hen hat.


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Auch wird es dem Kläger Ge­le­gen­heit ge­ben müssen, sei­ne Sprech­be­hin­de­rung zu de­mons­trie­ren und sich persönlich zu dem Ab­lauf des Be­wer­bungs­gesprächs zu­min­dest im Rah­men ei­ner Anhörung nach § 141 ZPO zu äußern.

4. Nach dem der­zei­ti­gen Sach­stand be­steht al­ler­dings hin­rei­chen­de Er­folgs­aus­sicht nur für ei­nen Entschädi­gungs­an­spruch nach § 15 Abs. 2 AGG, be­grenzt auf ma­xi­mal 3 Mo­nats­gehälter.

a. Nach § 15 Abs. 2 AGG kann der Beschäftig­te we­gen ei­nes Scha­dens, der nicht Vermögens­scha­den ist, ei­ne an­ge­mes­se­ne Entschädi­gung in Geld ver­lan­gen, die bei ei­ner Nicht­ein­stel­lung 3 Mo­nats­gehälter nicht über­stei­gen darf, wenn der Beschäftig­te auch bei be­nach­tei­li­gungs­frei­er Aus­wahl nicht ein­ge­stellt wor­den wäre.

Auch die­ser Entschädi­gungs­an­spruch setzt ei­nen Ver­s­toß ge­gen das Be­nach­tei­li­gungs­ver­bot vor­aus, d. h. ei­ne we­ni­ger güns­ti­ge Be­hand­lung we­gen ei­nes in § 1 AGG ge­nann­ten Grun­des als sie ei­ne an­de­re Per­son in ver­gleich­ba­rer Si­tua­ti­on er­fah­ren hat. Ei­ne ver­gleich­ba­re Si­tua­ti­on setzt vor­aus, dass der Kläger nicht aus­gewählt wur­de, ob­wohl er für die Stel­le ob­jek­tiv ge­eig­net war. Maßgeb­lich sind die An­for­de­run­gen, die der Ar­beit­ge­ber an die Stel­len­be­wer­ber stel­len durf­te. Die ob­jek­ti­ve Eig­nung ist zu tren­nen von der in­di­vi­du­el­len fach­li­chen und persönli­chen Qua­li­fi­ka­ti­on des Be­wer­bers, die nur als Kri­te­ri­um der Aus­wah­l­ent­schei­dung auf der Ebe­ne der Kau­sa­lität zwi­schen Be­nach­tei­li­gung und ver­bo­te­nem Merk­mal ei­ne Rol­le spielt. Bei öffent­li­chen Ar­beit­ge­bern sind die in Art. 33 Abs. 2 GG ge­nann­ten Ge­sichts­punk­te der Eig­nung, Befähi­gung und fach­li­chen Leis­tung die al­lein maßgeb­li­chen Kri­te­ri­en für die Be­wer­be­r­aus­wahl. Mit der Aus­schrei­bung legt der öffent­li­che Ar­beit­ge­ber ver­bind­lich das An­for­de­rungs­pro­fil fest (vgl. BAG, Ur­teil vom 7. April 2011 – 8 AZR 679/09 - ).

 

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Die Be­klag­te be­haup­tet nicht, dass der Kläger nach dem von ihr in der Aus­schrei­bung vor­ge­ge­be­nen An­for­de­rungs­pro­fil be­reits ob­jek­tiv nicht für die Tätig­keit ge­eig­net war. Sie trägt viel­mehr vor, sei­ne in­di­vi­du­el­le fach­li­che und persönli­che Qua­li­fi­ka­ti­on („große Dis­kre­panz zwi­schen Un­ter­la­gen und Auf­tre­ten, große Kom­mu­ni­ka­ti­ons­pro­ble­me, schlech­te Vor­be­rei­tung“) ha­be zu der Ne­ga­tiv­ent­schei­dung geführt.

Da­nach be­steht hin­rei­chen­de Er­folgs­aus­sicht für den Entschädi­gungs­an­spruch nach § 15 Abs. 2 S. 2 AGG.

b. Für darüber­hin­aus­ge­hen­de Ansprüche auf Er­satz von ma­te­ri­el­len und/oder im­ma­te­ri­el­len Schäden we­gen Ver­s­toßes ge­gen das Be­nach­tei­li­gungs­ver­bot be­steht da­ge­gen kei­ne hin­rei­chen­de Er­folgs­aus­sicht. Sie set­zen vor­aus, dass die Be­klag­te bei be­nach­tei­li­gungs­frei­er Aus­wahl den aus­ge­schrie­be­nen Ar­beits­platz mit dem Kläger als dem am bes­ten ge­eig­ne­ten Be­wer­ber hätte be­set­zen müssen. Dies gilt ins­be­son­de­re auch für Ansprüche auf Er­satz von ma­te­ri­el­len Schäden nach § 15 Abs. 1 AGG und auf ei­ne nicht nach § 15 Abs. 2 S. 2 AGG ein­ge­schränk­te Entschädi­gung we­gen im­ma­te­ri­el­ler Schäden (vgl. da­zu: BAG, Ur­teil vom 17. Au­gust 2010 – 9 AZR 839/08 - ).

Die Be­klag­te, die auch in­so­weit die Be­weis­last hat (vgl. BAG, Ur­teil vom 17. Au­gust 2010 – 9 AZR 839/08 -), hat vor­ge­tra­gen, dass sie mit ei­ner Be­wer­be­rin die Stel­le be­setzt hat, die nicht nur „kom­mu­ni­ka­ti­onsstärker“ als der Kläger war, son­dern - bis auf die Fra­ge nach Kennt­nis­sen über das Job­cen­ter/Job­cen­ter EU-ak­tiv - bei al­len Be­wer­tungs­punk­ten po­si­tiv ab­ge­schnit­ten hat­te und die über sehr gu­te Vor­er­fah­run­gen verfügte und da­mit kei­ner Ein­ar­bei­tung be­durf­te. Der Kläger hat kei­ne be­gründe­ten Umstände vor­ge­tra­gen, die be­rech­tig­te Zwei­fel an der Rich­tig­keit die­ses Vor­brin­gens auf­kom­men las­sen. So­fern ihm in dem Be­wer­bungs­gespräch von ei­nem Ver­tre­ter der Be­klag­ten erklärt wor­den ist, er sei fach­lich ge­eig­net, be­deu­te­te dies nicht, dass nicht an­de­re Be­wer­ber oder Be­wer­be­rin­nen fach­lich noch


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bes­ser als er ge­eig­net wa­ren. Die Be­klag­te durf­te auch die Ver­wei­ge­rung der Ant­wort auf die Fra­ge, was er als Bun­des­ar­beits­mi­nis­ter ändern würde, ne­ga­tiv be­wer­ten. Es ging er­kenn­bar nicht um die po­li­ti­sche Ein­stel­lung des Klägers, son­dern dar­um, ob er sich in der auch in der Öffent­lich­keit geführ­ten Dis­kus­si­on um die Rah­men­be­din­gun­gen der Ar­beits­ver­mitt­lung aus­kann­te.

c. Ei­ne be­son­ders schwe­re Persönlich­keits­ver­let­zung des Klägers durch die Be­klag­te, die ei­nen höhe­ren Schmer­zens­geld­an­spruch des Klägers nach § 823 BGB recht­fer­ti­gen könn­te, er­gibt sich auch nicht aus dem Vor­brin­gen des Klägers. Al­lein ein sach­lich ge­hal­te­ner Hin­weis auf ei­ne – nach Vor­brin­gen des Klägers of­fen­kun­di­ge – Be­hin­de­rung stellt kei­ne Persönlich­keits­ver­let­zung dar.

5. Ansprüche auf Er­satz von außer­ge­richt­lich be­reits ent­stan­de­nen und
durch das Kla­ge­ver­fah­ren ent­ste­hen­den Rechts­an­walts­kos­ten schei­den nach §12 a ArbGG aus. Die Vor­schrift be­trifft ne­ben dem pro­zess­recht­li­chen Kos­ten­er­stat­tungs­an­spruch auch ma­te­ri­ell-recht­li­che Kos­ten­er­stat­tungs­ansprüche (vgl. Schwab/Weth/Vollstädt, Ar­beits­ge­richts­ge­setz, 3. Aufl., § 12 a ArbGG Rdn. 27 m.w.N.).

Ge­gen die­sen Be­schluss ist ein Rechts­mit­tel nicht zulässig.

 

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