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BAG, Ur­teil vom 16.02.2012, 6 AZR 553/10

   
Schlagworte: Schwerbehinderung, Diskriminierung: Behinderung, Fragerecht
   
Gericht: Bundesarbeitsgericht
Aktenzeichen: 6 AZR 553/10
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 16.02.2012
   
Leitsätze: Die Frage des Arbeitgebers nach der Schwerbehinderung bzw. einem diesbezüglich gestellten Antrag ist im bestehenden Arbeitsverhältnis jedenfalls nach sechs Monaten, dh. ggf. nach Erwerb des Behindertenschutzes gemäß §§ 85 ff. SGB IX, zulässig. Das gilt insbesondere zur Vorbereitung von beabsichtigten Kündigungen.
Vorinstanzen: Arbeitsgericht Iserlohn, Urteil vom 26.11.2009, 4 Ca 2001/09
Landesarbeitsgericht Hamm, Urteil vom 30.06.2010, 2 Sa 49/10
   


BUN­DES­AR­BEITS­GERICHT


6 AZR 553/10
2 Sa 49/10
Lan­des­ar­beits­ge­richt

Hamm

 

Im Na­men des Vol­kes!

Verkündet am

16. Fe­bru­ar 2012

UR­TEIL

Gaßmann, Ur­kunds­be­am­tin

der Geschäfts­stel­le

In Sa­chen

Kläger, Be­ru­fungs­be­klag­ter und Re­vi­si­onskläger,

pp.

Be­klag­ter, Be­ru­fungskläger und Re­vi­si­ons­be­klag­ter,

hat der Sechs­te Se­nat des Bun­des­ar­beits­ge­richts auf­grund der münd­li­chen Ver­hand­lung vom 16. Fe­bru­ar 2012 durch den Vor­sit­zen­den Rich­ter am Bun­des­ar­beits­ge­richt Dr. Fi­scher­mei­er als Vor­sit­zen­den, den Vor­sit­zen­den Rich­ter am Bun­des­ar­beits­ge­richt Dr. Brühler, die Rich­te­rin am Bun­des­ar­beits­ge­richt
 


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Spel­ge so­wie den eh­ren­amt­li­chen Rich­ter Schäfer­kord und die eh­ren­amt­li­che Rich­te­rin Ben­der für Recht er­kannt:

1. Die Re­vi­si­on des Klägers ge­gen das Ur­teil des Lan­des­ar­beits­ge­richts Hamm vom 30. Ju­ni 2010 - 2 Sa 49/10 - wird zurück­ge­wie­sen.

2. Der Kläger hat die Kos­ten der Re­vi­si­on zu tra­gen.

Von Rechts we­gen!

Tat­be­stand

Die Par­tei­en strei­ten über die Wirk­sam­keit ei­ner or­dent­li­chen be­triebs­be­ding­ten Kündi­gung.

Der mit ei­nem GdB von 60 schwer­be­hin­der­te Kläger stand seit dem 1. No­vem­ber 2007 in ei­nem bis zum 31. Ok­to­ber 2009 be­fris­te­ten Ar­beits­verhält­nis mit der Schuld­ne­rin. Am 8. Ja­nu­ar 2009 ord­ne­te das Amts­ge­richt Arns­berg (- 21 IN 21/09 -) das vorläufi­ge In­sol­venz­ver­fah­ren über de­ren Vermögen an und be­stell­te den Be­klag­ten zum vorläufi­gen In­sol­venz­ver­wal­ter. Zu­gleich über­trug es ihm das Recht zur Ausübung der Ar­beit­ge­ber­be­fug­nis­se ein­sch­ließlich der Ermäch­ti­gung, Kündi­gun­gen aus­zu­spre­chen. Am 1. März 2009 wur­de das In­sol­venz­ver­fah­ren über das Vermögen der Schuld­ne­rin eröff­net und der Be­klag­te zum In­sol­venz­ver­wal­ter be­stellt.


In sei­ner Ei­gen­schaft als vorläufi­ger In­sol­venz­ver­wal­ter gab der Be­klag­te zur Ver­vollständi­gung bzw. Über­prüfung der So­zi­al­da­ten an sämt­li­che Ar­beit­neh­mer Fra­gebögen aus. Er­fragt wur­den das Ge­burts­da­tum, der Fa­mi­li­en­stand, die An­zahl der un­ter­halts­pflich­ti­gen Kin­der so­wie das Vor­lie­gen ei­ner Schwer­be­hin­de­rung bzw. die Gleich­stel­lung mit ei­nem Schwer­be­hin­der­ten. Der Kläger ant­wor­te­te in den Fel­dern „Schwer­be­hin­de­rung“ und „Gleich­stel­lung“ je­weils mit „Nein“.
 


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Auf der Grund­la­ge ei­nes am 20. Mai 2009 ge­schlos­se­nen In­ter­es­sen­aus­gleichs mit Na­mens­lis­te kündig­te der Be­klag­te das Ar­beits­verhält­nis am 26. Mai 2009 or­dent­lich zum 30. Ju­ni 2009. Das Kündi­gungs­schrei­ben ging dem Kläger am fol­gen­den Tag zu.

Der Kläger, der in der Kla­ge­schrift vom 9. Ju­ni 2009 sei­ne Schwer­be­hin­de­rung mit­ge­teilt hat, hat - so­weit für die Re­vi­si­on noch von Be­deu­tung - die An­sicht ver­tre­ten, die oh­ne Be­tei­li­gung des In­te­gra­ti­ons­am­tes erklärte Kündi­gung sei un­wirk­sam. Die Fra­ge nach der Schwer­be­hin­de­rung stel­le ei­ne ver­bo­te­ne Be­nach­tei­li­gung iSd. §§ 1, 7 AGG dar. Ein Ar­beit­neh­mer ha­be des­halb während des ge­sam­ten Ar­beits­verhält­nis­ses ein Recht zur wahr­heits­wid­ri­gen Be­ant­wor­tung der Fra­ge nach sei­ner Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft. Vor Ab­lauf der Re­gel­frist für die Ver­wir­kung des Son­derkündi­gungs­schut­zes drei Wo­chen nach Zu­gang der Kündi­gung sei der Ar­beit­neh­mer auch nicht ver­pflich­tet, sei­ne Schwer­be­hin­de­rung zu of­fen­ba­ren.

Der Kläger hat zu­letzt be­an­tragt 


fest­zu­stel­len, dass das zwi­schen den Par­tei­en be­ste­hen­de Ar­beits­verhält­nis nicht durch die Kündi­gung des Be­klag­ten vom 26. Mai 2009 auf­gelöst wird, son­dern über den 30. Ju­ni 2009 hin­aus un­gekündigt fort­be­steht.

Der Be­klag­te hat sei­nen Kla­ge­ab­wei­sungs­an­trag da­mit be­gründet, dass der Kläger sich wi­dersprüchlich ver­hal­ten ha­be und sich des­halb nach der wahr­heits­wid­ri­gen Be­ant­wor­tung der Fra­ge nach sei­ner Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft auf die­se nicht mehr be­ru­fen könne.


Das Ar­beits­ge­richt hat der Kündi­gungs­schutz­kla­ge statt­ge­ge­ben, das Lan­des­ar­beits­ge­richt hat auf die Be­ru­fung des Be­klag­ten die Kla­ge ab­ge­wie­sen. Mit der vom Lan­des­ar­beits­ge­richt zu­ge­las­se­nen Re­vi­si­on ver­folgt der Kläger sein Kla­ge­ziel wei­ter. Er rügt, die Fra­ge nach der Schwer­be­hin­de­rung ver­s­toße ge­gen da­ten­schutz­recht­li­che Be­stim­mun­gen. Er macht wei­ter gel­tend, das Lan­des­ar­beits­ge­richt ha­be nicht berück­sich­tigt, dass der Be­klag­te die Fra­ge nach der Schwer­be­hin­de­rung im In­sol­ven­zeröff­nungs­ver­fah­ren oh­ne An­ga­be von Gründen ge­stellt ha­be. Für den Kläger sei des­halb die In­ten­ti­on der
 


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Fra­ge nicht er­kenn­bar ge­we­sen, so dass er sich durch die wahr­heits­wid­ri­ge Be­ant­wor­tung die­ser Fra­ge nicht treu­wid­rig ver­hal­ten ha­be.

Ent­schei­dungs­gründe


Die Re­vi­si­on des Klägers ist un­be­gründet. Die Kündi­gung des Be­klag­ten vom 26. Mai 2009 hat das Ar­beits­verhält­nis zum 30. Ju­ni 2009 be­en­det. Das hat das Lan­des­ar­beits­ge­richt rechts­feh­ler­frei fest­ge­stellt.


A. Die Kündi­gung ist nicht nach § 134 BGB nich­tig. Sie be­durf­te zwar an sich der vor­he­ri­gen Zu­stim­mung des In­te­gra­ti­ons­am­tes gemäß § 85 SGB IX, an der es hier fehlt. Der Kläger hat sich auch in­ner­halb von drei Wo­chen und da­mit in­ner­halb ei­ner an­ge­mes­se­nen Frist auf den im Zeit­punkt der Kündi­gungs­erklärung be­reits be­ste­hen­den Schwer­be­hin­der­ten­schutz be­ru­fen, so dass die­ser Schutz nicht ver­wirkt ist (st. Rspr. zu­letzt BAG 9. Ju­ni 2011 - 2 AZR 703/09 - Rn. 22, EzA SGB IX § 85 Nr. 7). Dem Kläger ist es den­noch un­ter dem Ge­sichts­punkt von Treu und Glau­ben (§ 242 BGB) ver­wehrt, sich auf den Son­derkündi­gungs­schutz als Schwer­be­hin­der­ter zu be­ru­fen. Das Be­ru­fen des Klägers auf die­sen Schutz nach Erklärung der Kündi­gung trotz Ver­nei­nung der ihm im Vor­feld eben die­ser Kündi­gung rechtmäßig ge­stell­ten Fra­ge nach der Schwer­be­hin­de­rung ist als wi­dersprüchli­ches Ver­hal­ten un­be­acht­lich.


I. Die Fra­ge des Ar­beit­ge­bers nach der Schwer­be­hin­de­rung bzw. ei­nem dies­bezüglich ge­stell­ten An­trag ist im be­ste­hen­den Ar­beits­verhält­nis je­den­falls nach sechs Mo­na­ten, dh. ggf. nach Er­werb des Be­hin­der­ten­schut­zes gemäß §§ 85 ff. SGB IX, zulässig. Das gilt ins­be­son­de­re zur Vor­be­rei­tung von be­ab­sich­tig­ten Kündi­gun­gen. Der Ar­beit­neh­mer hat die Fra­ge auf­grund sei­ner Rück­sicht­nah­me­pflicht gemäß § 241 Abs. 2 BGB wahr­heits­gemäß zu be­ant­wor­ten.

1. Aus ei­nem Schuld­verhält­nis erwächst ei­ner Ver­trags­par­tei auch die Pflicht zur Rück­sicht­nah­me auf die Rech­te, Rechtsgüter und In­ter­es­sen des an­de­ren Ver­trags­teils. Dies dient dem Schutz und der Förde­rung des Ver­trags-

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zwecks. Die Ver­trags­part­ner sind ver­pflich­tet, ih­re Pflich­ten aus dem Ar­beits­verhält­nis so zu erfüllen, ih­re Rech­te so aus­zuüben und die im Zu­sam­men­hang mit dem Ar­beits­verhält­nis ste­hen­den In­ter­es­sen des Ver­trags­part­ners so zu wah­ren, wie dies un­ter Berück­sich­ti­gung der wech­sel­sei­ti­gen Be­lan­ge ver­langt wer­den kann. Wel­che kon­kre­ten Fol­gen sich aus der Rück­sicht­nah­me­pflicht er­ge­ben, hängt von der Art des Schuld­verhält­nis­ses und den Umständen des Ein­zel­falls ab (BAG 13. Au­gust 2009 - 6 AZR 330/08 - Rn. 31, BA­GE 131, 325; 19. Mai 2010 - 5 AZR 162/09 - Rn. 26, BA­GE 134, 296).


2. Un­ter Berück­sich­ti­gung die­ser Grundsätze durf­te der Be­klag­te den Kläger, der im be­ste­hen­den Ar­beits­verhält­nis den Son­derkündi­gungs­schutz nach §§ 85 ff. SGB IX be­reits er­wor­ben hat­te, zur Vor­be­rei­tung von Kündi­gun­gen nach ei­ner Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft fra­gen. Für die­se Fra­ge be­stand ein be­rech­tig­tes, bil­li­gens­wer­tes und schutzwürdi­ges In­ter­es­se des Be­klag­ten. Sie stand im Zu­sam­men­hang mit sei­ner Pflich­ten­bin­dung durch das Er­for­der­nis, bei der So­zi­al­aus­wahl gemäß § 1 Abs. 3 KSchG die Schwer­be­hin­de­rung zu berück­sich­ti­gen so­wie den Son­derkündi­gungs­schutz nach §§ 85 ff. SGB IX zu be­ach­ten. Die ver­lang­te Aus­kunft be­las­te­te den Kläger in die­ser Si­tua­ti­on nicht übermäßig. Sie be­nach­tei­lig­te ihn auch nicht iSv. §§ 1, 7 AGG we­gen sei­ner Be­hin­de­rung. Sch­ließlich wur­den auch da­ten­schutz­recht­li­che Be­lan­ge des Klägers da­durch nicht ver­letzt (vgl. zu die­sen An­for­de­run­gen grund­le­gend be­reits BAG 7. Sep­tem­ber 1995 - 8 AZR 828/93 - BA­GE 81, 15, 22).


a) Die Fra­ge nach der Schwer­be­hin­de­rung ist im be­ste­hen­den Ar­beits­verhält­nis je­den­falls nach Ab­lauf der Frist des § 90 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX zu­zu­las­sen, um dem Ar­beit­ge­ber ein rechtstreu­es Ver­hal­ten zu ermögli­chen, et­wa im Zu­sam­men­hang mit sei­nen Pflich­ten zur be­hin­de­rungs­ge­rech­ten Beschäfti­gung (§ 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX), Zah­lung ei­ner Aus­gleichs­ab­ga­be (§ 77 SGB IX) und Gewährung von Zu­satz­ur­laub (§ 125 SGB IX) (vgl. Schaub/Koch ArbR-Hdb. 14. Aufl. § 179 Rn. 18c; Grie­be­ling in Hauck/Noftz SGB IX K § 85 Rn. 27a; un­klar Münch­KommBGB/Thüsing 6. Aufl. § 11 AGG Rn. 24, der ei­ne Of­fen­ba­rungs­pflicht des Ar­beit­neh­mers nach Ein­stel­lung be­jaht). Ins­be­son­de­re im Vor­feld ei­ner be­ab­sich­tig­ten Kündi­gung zeigt der Ar­beit­ge­ber mit die­ser
 


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Fra­ge, dass er sei­ne zum Schutz des Schwer­be­hin­der­ten bei ei­ner Kündi­gung be­ste­hen­den Pflich­ten nach § 1 Abs. 3 KSchG und §§ 85 ff. SGB IX erfüllen will (vgl. v. Ho­y­nin­gen-Hue­ne/Linck KSchG 14. Aufl. § 1 Rn. 950; Schaub/Koch aaO; Müller-Wen­ner in Müller-Wen­ner/Wink­ler SGB IX Teil 2 2. Aufl. § 85 Rn. 63).


b) An­de­re, gleich ge­eig­ne­te und gleich zu­verlässi­ge Möglich­kei­ten des Ar­beit­ge­bers, sich die zur Erfüllung die­ser Pflich­ten er­for­der­li­che Kennt­nis von der Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft rechts­si­cher zu ver­schaf­fen, be­ste­hen nicht.

aa) Ins­be­son­de­re kann der Ar­beit­ge­ber ent­ge­gen der vom Kläger in der Ver­hand­lung vor dem Se­nat ver­tre­te­nen An­sicht nicht auf die Ein­ho­lung ei­nes sog. Ne­ga­ti­vat­tests ver­wie­sen wer­den. Mit ei­nem sol­chen Be­scheid weist das In­te­gra­ti­ons­amt den form- und frist­ge­recht ge­stell­ten An­trag des Ar­beit­ge­bers auf Er­tei­lung zur Zu­stim­mung zu ei­ner be­ab­sich­tig­ten Kündi­gung als un­zulässig ab, weil ei­ne Zu­stim­mung zur Kündi­gung nicht er­for­der­lich ist. Ob­wohl die­ses In­sti­tut im SGB IX nicht vor­ge­se­hen ist und ob­wohl es nicht die Auf­ga­be des In­te­gra­ti­ons­am­tes, son­dern gemäß § 69 SGB IX iVm. §§ 1, 6 KOVVfG die des Ver­sor­gungs­am­tes ist, die Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft ei­nes be­stimm­ten Ar­beit­neh­mers zu klären (BAG 7. März 2002 - 2 AZR 612/00 - BA­GE 100, 355, 358; BVerwG 15. De­zem­ber 1988 - 5 C 67.85 - BVerw­GE 81, 84), wird es all­ge­mein für zulässig ge­hal­ten (KR/Et­zel 9. Aufl. §§ 85 - 90 SGB IX Rn. 54; Schaub/Koch ArbR-Hdb. 14. Aufl. § 179 Rn. 28; Trenk-Hin­ter­ber­ger in HK-SGB IX 3. Aufl. § 88 Rn. 55; Düwell in LPG-SGB IX 3. Aufl. § 85 Rn. 37; Müller-Wen­ner in Müller-Wen­ner/Wink­ler SGB IX Teil 2 2. Aufl. § 85 Rn. 69). Liegt ein sol­cher be­stands­kräfti­ger Be­scheid vor der Erklärung der Kündi­gung vor, ent­fal­tet er Bin­dungs­wir­kung auch ge­genüber den Ar­beits­ge­rich­ten und be­sei­tigt eben­so wie die Zu­stim­mung des In­te­gra­ti­ons­am­tes die Kündi­gungs­sper­re des § 85 SGB IX (BAG 6. Sep­tem­ber 2007 - 2 AZR 324/06 - Rn. 15, BA­GE 124, 43; grund­le­gend 27. Mai 1983 - 7 AZR 482/81 - BA­GE 42, 169, 174).

Folg­te man der An­sicht des Klägers, müss­te der Ar­beit­ge­ber vor je­der von ihm be­ab­sich­tig­ten Kündi­gung ein Ne­ga­ti­vat­test ein­ho­len. Al­lein das würde, ins­be­son­de­re bei Mas­sen­ent­las­sun­gen, selbst dann zu er­heb­li­chen, dem

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Ar­beit­ge­ber un­zu­mut­ba­ren Verzöge­run­gen bei der Um­set­zung des Kündi­gungs­ent­schlus­ses führen, wenn ein be­stands­kräfti­ger Be­scheid des In­te­gra­ti­ons­am­tes er­gin­ge (vgl. BAG 7. März 2002 - 2 AZR 612/00 - BA­GE 100, 355, 358). Der Ar­beit­neh­mer kann zu­dem als Be­tei­lig­ter des Ver­wal­tungs­ver­fah­rens, das zum Ne­ga­ti­vat­test führt, ge­gen die­ses Wi­der­spruch und bei Nicht­ab­hil­fe An­fech­tungs­kla­ge er­he­ben (KR/Et­zel 9. Aufl. §§ 85 - 90 SGB IX Rn. 56; Trenk-Hin­ter­ber­ger in HK-SGB IX 3. Aufl. § 88 Rn. 66 f.; Müller-Wen­ner in Müller-Wen­ner/Wink­ler SGB IX Teil 2 2. Aufl. § 85 Rn. 69). Der Ar­beit­neh­mer kann al­so ei­ner­seits durch die bloße Er­he­bung von Rechts­be­hel­fen bzw. Rechts­mit­teln die Möglich­keit des Ar­beit­ge­bers, rechts­si­cher ei­ne Kündi­gung oh­ne Ver­let­zung sei­ner ihm ge­genüber Schwer­be­hin­der­ten ob­lie­gen­den Pflich­ten zu erklären, er­heb­lich hin­auszögern. Bis zur Un­an­fecht­bar­keit der Ent­schei­dung des In­te­gra­ti­ons­am­tes trägt der Ar­beit­ge­ber an­de­rer­seits das Ri­si­ko, dass sich im Lau­fe des ge­richt­li­chen Ver­fah­rens doch noch die Zu­stim­mungs­bedürf­tig­keit der Kündi­gung her­aus­stellt (Müller-Wen­ner in Müller-Wen­ner/Wink­ler aaO Rn. 70). Die Ein­ho­lung ei­nes Ne­ga­ti­vat­tests ist da­her für den Ar­beit­ge­ber kei­ne gleich ge­eig­ne­te Al­ter­na­ti­ve zur Fra­ge nach der Schwer­be­hin­de­rung, um ihm die Kennt­nis zu ver­schaf­fen, die er zur Erfüllung der ihm ge­setz­lich ge­genüber Schwer­be­hin­der­ten ob­lie­gen­den Pflich­ten benötigt.

bb) Die Ver­pflich­tung des Ar­beit­neh­mers, den Ar­beit­ge­ber nach Erklärung ei­ner Kündi­gung zum Er­halt des Son­derkündi­gungs­schut­zes bin­nen an­ge­mes­se­ner Frist auf die Schwer­be­hin­de­rung hin­zu­wei­sen, schützt ent­ge­gen der Auf­fas­sung von Dei­nert/Neu­mann (Re­ha­bi­li­ta­ti­on und Teil­ha­be be­hin­der­ter Men­schen 2. Aufl. § 17 Rn. 29) den Ar­beit­ge­ber nicht hin­rei­chend, weil dies die Ein­hal­tung der dem Ar­beit­ge­ber be­reits vor Erklärung der Kündi­gung ob­lie­gen­den Pflich­ten nicht si­cher­stel­len kann.

c) Die Fra­ge nach der Schwer­be­hin­de­rung im Vor­feld ei­ner Kündi­gung dis­kri­mi­niert den Ar­beit­neh­mer nicht we­gen sei­ner Be­hin­de­rung un­mit­tel­bar iSd. § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG.

aa) Al­ler­dings kann die Fra­ge nach der Schwer­be­hin­de­rung nur von Trägern die­ses Merk­mals wahr­heits­wid­rig be­ant­wor­tet wer­den. We­der die Fra­ge

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selbst noch de­ren wahr­heits­gemäße Be­ant­wor­tung führen je­doch zu dem vom Kläger an­ge­nom­me­nen Nach­teil für den be­hin­der­ten Men­schen, al­so zu ei­ner „we­ni­ger güns­ti­gen Be­hand­lung“ iSd. § 3 Abs. 1 AGG. Ob ein sol­cher Nach­teil vor­liegt, ist ob­jek­tiv aus der Sicht ei­nes verständi­gen Drit­ten zu be­ur­tei­len (vgl. BAG 25. Fe­bru­ar 2010 - 6 AZR 911/08 - Rn. 33, BA­GE 133, 265).

(1) Durch die Fra­ge nach der Schwer­be­hin­de­rung und de­ren wahr­heits­gemäße Be­ant­wor­tung wer­den be­hin­der­te Ar­beit­neh­mer ge­genüber Nicht­be­hin­der­ten nicht zurück­ge­setzt (zu die­ser De­fi­ni­ti­on des Nach­teils iSd. § 3 Abs. 1 AGG für das Merk­mal „Al­ter“ sie­he BAG 25. Fe­bru­ar 2010 - 6 AZR 911/08 - Rn. 25, BA­GE 133, 265). Die Fra­ge nach der Schwer­be­hin­de­rung soll es bei ob­jek­ti­ver Be­trach­tung dem Ar­beit­ge­ber ermögli­chen, den be­son­de­ren Schutz des Schwer­be­hin­der­ten zu ver­wirk­li­chen, ins­be­son­de­re den Son­derkündi­gungs­schutz des Schwer­be­hin­der­ten­ge­set­zes zu be­ach­ten. Die­ser öffent­lich-recht­li­che Son­derkündi­gungs­schutz ist präven­ti­ver Art. Er un­ter­wirft die Ausübung des ar­beit­ge­ber­sei­ti­gen Kündi­gungs­rechts ei­ner vor­he­ri­gen Kon­trol­le durch das In­te­gra­ti­ons­amt, in­dem er die Kündi­gung ei­nem Ver­bot mit Er­laub­nis­vor­be­halt un­ter­stellt, um so be­reits im Vor­feld der Kündi­gung die spe­zi­fi­schen Schutz­in­ter­es­sen schwer­be­hin­der­ter Ar­beit­neh­mer zur Gel­tung zu brin­gen und ei­ne mit den Schutz­zwe­cken des SGB IX un­ver­ein­ba­re Kündi­gung zu ver­hin­dern. Dem In­te­gra­ti­ons­amt ob­liegt im Rah­men des Son­derkündi­gungs­schut­zes die In­schutz­nah­me des Schwer­be­hin­der­ten mit dem Ziel, die aus sei­ner Be­hin­de­rung re­sul­tie­ren­den Be­nach­tei­li­gun­gen auf dem Ar­beits­markt aus­zu­glei­chen, da­durch sei­ne Wett­be­werbsfähig­keit mit Nicht­be­hin­der­ten her­zu­stel­len und si­cher­zu­stel­len, dass er ge­genüber Letz­te­ren nicht ins Hin­ter­tref­fen gerät (vgl. BVerwG 2. Ju­li 1992 - 5 C 39.90 - BVerw­GE 90, 275; 2. Ju­li 1992 - 5 C 51.90 - BVerw­GE 90, 287; 31. Ju­li 2007 - 5 B 81.06 - Rn. 5). Die Fra­ge dient al­so der Wah­rung der Rech­te und In­ter­es­sen des Schwer­be­hin­der­ten, nicht aber da­zu, ihn ge­genüber nicht be­hin­der­ten Ar­beit­neh­mern zurück­zu­set­zen. Die Be­lan­ge des schwer­be­hin­der­ten Men­schen sol­len durch § 1 Abs. 3 KSchG so­wie in dem nach §§ 85 ff. SGB IX ein­zu­hal­ten­den Ver­fah­ren ge­ra­de ge­wahrt wer­den. Das setzt aber vor­aus, dass der Ar­beit­ge­ber von der Schwer-
 


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be­hin­der­ten­ei­gen­schaft Kennt­nis hat oder zu­min­dest die Möglich­keit hat, sich die­se durch Nach­fra­ge zu ver­schaf­fen.

Dies steht auch im Ein­klang mit den Zie­len der Richt­li­nie 2000/78/EG des Ra­tes vom 27. No­vem­ber 2000 zur Fest­le­gung ei­nes all­ge­mei­nen Rah­mens für die Ver­wirk­li­chung der Gleich­be­hand­lung in Beschäfti­gung und Be­ruf (RL 2000/78/EG). Nach ih­rem Erwägungs­grund Nr. 16 strebt die­se durch das AGG um­ge­setz­te Richt­li­nie Maßnah­men an, die dar­auf ab­stel­len, den Bedürf­nis­sen von Men­schen mit Be­hin­de­rung am Ar­beits­platz Rech­nung zu tra­gen. Aus­weis­lich des Erwägungs­grun­des Nr. 27 will sie der Auf­recht­er­hal­tung des Beschäfti­gungs­verhält­nis­ses von Men­schen mit Be­hin­de­rung be­son­de­re Auf­merk­sam­keit wid­men. Die­sen Zwe­cken die­nen ua. § 1 Abs. 3 KSchG und der in §§ 85 ff. SGB IX ge­re­gel­te Son­derkündi­gungs­schutz.


(2) Der Hin­weis des Klägers in der münd­li­chen Ver­hand­lung vor dem Se­nat, er wer­de ge­genüber ei­nem Be­hin­der­ten, der durch den Fra­ge­bo­gen „vor­ge­warnt“ den An­trag auf An­er­ken­nung als Schwer­be­hin­der­ter erst nach Ausfüllen des Fra­gen­bo­gens ge­stellt und sich erst dann den ge­setz­li­chen Son­derkündi­gungs­schutz ver­schafft ha­be, zurück­ge­setzt, verfängt nicht. Deckt die Fra­ge nach der Schwer­be­hin­de­rung nicht al­le denk­ba­ren Kon­stel­la­tio­nen des noch zu er­wer­ben­den Schut­zes als Schwer­be­hin­der­ter ab, folgt dar­aus nicht, dass die Fra­ge nach ei­nem be­reits be­ste­hen­den Schutz un­zulässig ist. Es ist Sa­che des Ar­beit­ge­bers, die Fra­ge nach ei­nem be­ste­hen­den Son­derkündi­gungs­schutz zu for­mu­lie­ren und da­durch ih­re Reich­wei­te fest­zu­le­gen. Fragt er, wie im vor­lie­gen­den Fall, nicht nach ei­nem be­reits ge­stell­ten An­trag auf An­er­ken­nung als Schwer­be­hin­der­ter, for­dert er auch nicht da­zu auf, erst später ge­stell­te Anträge mit­zu­tei­len und lässt ei­ni­ge Zeit zwi­schen der Be­ant­wor­tung der Fra­ge und Kündi­gungs­erklärung ver­strei­chen, hat er die sich aus ei­ner solch un­zu­rei­chen­den Fra­ge­stel­lung für ihn even­tu­ell er­ge­ben­den nach­tei­li­gen Fol­gen zu tra­gen, setzt aber nicht den Ar­beit­neh­mer, der iSd. § 2 Abs. 2 SGB IX als schwer­be­hin­dert an­er­kannt ist, ge­genüber dem im Zeit­punkt der Fra­ge­bo­gen­ak­ti­on le­dig­lich iSd. § 2 Abs. 1 SGB IX be­hin­der­ten Ar­beit­neh­mer zurück.

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bb) Sch­ließlich über­zeugt auch das Ar­gu­ment der Re­vi­si­on, ein wirk­sa­mer Dis­kri­mi­nie­rungs­schutz sei nur gewähr­leis­tet, wenn be­reits die Vor­be­rei­tung ei­ner mögli­chen Dis­kri­mi­nie­rung aus­ge­schlos­sen wer­de, nicht. Im Un­ter­schied zur Si­tua­ti­on der Ver­trags­an­bah­nung (zum Streit­stand hin­sicht­lich der Fra­ge nach der Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft des Stel­len­be­wer­bers vgl. BAG 7. Ju­li 2011 - 2 AZR 396/10 - Rn. 17, NZA 2012, 34) be­fin­det sich der be­hin­der­te Ar­beit­neh­mer in der hier vor­lie­gen­den Si­tua­ti­on be­reits in ei­ner ge­setz­lich be­son­ders geschütz­ten Rechts­stel­lung, die ge­ra­de zum Ziel hat, Dis­kri­mi­nie­run­gen des Be­hin­der­ten zu ver­mei­den. Meint der Ar­beit­neh­mer, dass es nach Kennt­nis­er­lan­gung des Ar­beit­ge­bers von ei­ner Schwer­be­hin­de­rung zu ei­ner sol­chen Dis­kri­mi­nie­rung ge­kom­men ist, ist er auf den ge­setz­li­chen Dis­kri­mi­nie­rungs­schutz zu ver­wei­sen.

d) Auch da­ten­schutz­recht­li­che Be­lan­ge ste­hen der Zulässig­keit der Fra­ge nicht ent­ge­gen.

aa) § 28 Abs. 6 Nr. 3 BDSG lässt die Fra­ge nach der Schwer­be­hin­de­rung bei uni­ons­rechts­kon­for­mer Aus­le­gung un­ter Be­ach­tung des da­durch um­ge­setz­ten Art. 8 Abs. 2 Buchst. b der Richt­li­nie 95/46/EG des Eu­ropäischen Par­la­ments und des Ra­tes vom 24. Ok­to­ber 1995 zum Schutz natürli­cher Per­so­nen bei der Ver­ar­bei­tung per­so­nen­be­zo­ge­ner Da­ten und zum frei­en Da­ten­ver­kehr (RL 95/46/EG) zu, wenn wie im vor­lie­gen­den Fall nach der von den na­tio­na­len Ge­rich­ten vor­zu­neh­men­den, am Zweck der RL 95/46/EG ori­en­tier­ten Abwägung das In­ter­es­se des Ar­beit­neh­mers an der Ge­heim­hal­tung sei­ner Be­hin­de­rung das In­ter­es­se des Ar­beit­ge­bers an der Er­he­bung die­ser Da­ten nicht über­wiegt.


(1) Die vor­lie­gen­de Fra­ge­bo­gen­ak­ti­on wird vom Bun­des­da­ten­schutz­ge­setz er­fasst. Auch Samm­lun­gen aus­gefüll­ter For­mu­la­re sind nicht au­to­ma­ti­sier­te Da­tei­en iSd. § 1 Abs. 2 Nr. 3 iVm. § 3 Abs. 2 Satz 2 BDSG (Dam­mann in Si­mi­tis BDSG 7. Aufl. § 3 Rn. 99; Thüsing/Lam­brich BB 2002, 1146, 1150 mwN).
 


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(2) Nach § 28 Abs. 6 Nr. 3 BDSG ist das Er­he­ben, Ver­ar­bei­ten und Nut­zen be­son­de­rer Ar­ten per­so­nen­be­zo­ge­ner Da­ten iSd. § 3 Abs. 9 BDSG für ei­ge­ne Geschäfts­zwe­cke auch oh­ne Ein­wil­li­gung des Be­trof­fe­nen zulässig, wenn dies zur Gel­tend­ma­chung, Ausübung oder Ver­tei­di­gung recht­li­cher Ansprüche er­for­der­lich ist und kein Grund zu der An­nah­me be­steht, dass das schutzwürdi­ge In­ter­es­se des Be­trof­fe­nen an dem Aus­schluss der Er­he­bung, Ver­ar­bei­tung oder Nut­zung über­wiegt. Die­se Vor­aus­set­zun­gen sind bei der Fra­ge nach der Schwer­be­hin­de­rung im be­ste­hen­den Ar­beits­verhält­nis je­den­falls nach Er­werb des Be­hin­der­ten­schut­zes und zur Vor­be­rei­tung kon­kret be­vor­ste­hen­der Kündi­gun­gen erfüllt.


(a) Die Fra­ge nach der Be­hin­de­rung ver­langt An­ga­ben zur Ge­sund­heit und stellt da­mit ei­ne Er­he­bung be­son­de­rer Ar­ten per­so­nen­be­zo­ge­ner Da­ten (sen­si­ti­ver Da­ten) iSv. § 3 Abs. 9 BDSG dar (Go­la/Schome­rus BDSG 10. Aufl. § 3 Rn. 56a; Thüsing/Lam­brich BB 2002, 1146, 1151).


(b) Al­ler­dings ist die Er­he­bung der Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft nicht zur „Gel­tend­ma­chung, Ausübung oder Ver­tei­di­gung“ ei­nes An­spruchs des Ar­beit­ge­bers iSd. Le­gal­de­fi­ni­ti­on des § 194 Abs. 1 BGB, al­so ei­nes Rechts, von ei­ner an­de­ren Per­son ein Tun oder Un­ter­las­sen zu ver­lan­gen, er­for­der­lich. Sie ist, wie be­reits aus­geführt, le­dig­lich Vor­aus­set­zung für die Erfüllung der dem Ar­beit­ge­ber nach § 1 Abs. 3 KSchG und § 85 SGB IX ob­lie­gen­den Pflich­ten. Die Da­ten­er­he­bung fin­det al­so im Vor­feld der Erfüllung ge­setz­li­cher Pflich­ten des Ar­beit­ge­bers statt und dient da­zu, die­sem die Kennt­nis zu ver­schaf­fen, die er­for­der­lich ist, um ihm an­sch­ließend ein ge­set­zes­kon­for­mes Han­deln zu ermögli­chen. Auch ei­ne sol­che Da­ten­er­he­bung zur Klärung von ge­gen den Ar­beit­ge­ber ge­rich­te­ten Ansprüchen, die sich für die­sen spie­gel­bild­lich als Pflich­ten dar­stel­len, ist je­doch un­ter Berück­sich­ti­gung der RL 95/46/EG von § 28 Abs. 6 Nr. 3 BDSG ge­deckt (Go­la RDV 2001, 125, 127).

(aa) § 28 Abs. 6 bis Abs. 9 BDSG set­zen nach dem aus­drück­li­chen Wil­len des Ge­setz­ge­bers (BT-Drucks. 14/4329 S. 43) Art. 8 RL 95/46/EG, ins­be­son­de­re Art. 8 Abs. 2 Buchst. b die­ser Richt­li­nie, um. Nach die­ser Be­stim­mung ist die Ver­ar­bei­tung von Da­ten, wor­un­ter nach Art. 2 Buchst. b RL 95/46/EG auch
 


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de­ren Er­he­bung fällt, zulässig, um den Rech­ten und Pflich­ten des für die Ver­ar­bei­tung Ver­ant­wort­li­chen auf dem Ge­biet des Ar­beits­rechts Rech­nung zu tra­gen, so­fern dies auf­grund von ein­zel­staat­li­chem Recht, das an­ge­mes­se­ne Ga­ran­ti­en vor­sieht, zulässig ist. Ein Wil­le des Ge­setz­ge­bers, durch die For­mu­lie­rung der Vor­aus­set­zun­gen in § 28 Abs. 6 Nr. 3 BDSG der Er­he­bung, Ver­ar­bei­tung und Nut­zung sen­si­ti­ver Da­ten durch den Ar­beit­ge­ber im Be­reich des Ar­beits­rechts en­ge­re Gren­zen als durch Art. 8 Abs. 2 Buchst. b RL 95/46/EG vor­ge­se­hen zu set­zen, ist nicht er­sicht­lich (vgl. Go­la RDV 2001, 125, 127). Es han­delt sich viel­mehr le­dig­lich um ei­ne missglück­te For­mu­lie­rung (vgl. Thüsing/Lam­brich BB 2002, 1146, 1152). Des­halb kann da­hin­ste­hen, ob es dem deut­schen Ge­setz­ge­ber ver­wehrt ge­we­sen wäre, die in Art. 8 Abs. 2 Buchst. b RL 95/46/EG nie­der­ge­leg­ten Grundsätze wei­ter ein­zu­schränken (vgl. für Art. 7 Buchst. f RL 95/46/EG: EuGH 24. No­vem­ber 2011 - C-468/10 - [Aso­ci­a­ción Na­cio­nal] Rn. 35 f., 48, NZA 2011, 1409).


(bb) Ei­ne „Gel­tend­ma­chung, Ausübung oder Ver­tei­di­gung recht­li­cher Ansprüche“ als Vor­aus­set­zung ei­ner Da­ten­er­he­bung nach § 28 Abs. 6 Nr. 3 BDSG liegt des­halb in Übe­rein­stim­mung mit der For­mu­lie­rung des Art. 8 Abs. 2 Buchst. b RL 95/46/EG auch vor, wenn die Da­ten­er­he­bung er­for­der­lich ist, um den Rech­ten und Pflich­ten des Ar­beit­ge­bers Rech­nung zu tra­gen. Da­zu gehören auch die Pflich­ten des Ar­beit­ge­bers zur Be­ach­tung der Schwer­be­hin­de­rung im Rah­men der So­zi­al­aus­wahl und zur Wah­rung des Schwer­be­hin­der­ten­schut­zes nach §§ 85 ff. SGB IX (vgl. be­ja­hend zur Zulässig­keit der Fra­ge nach der Schwer­be­hin­de­rung un­ter da­ten­schutz­recht­li­chen Ge­sichts­punk­ten auch Sei­fert in Si­mi­tis BDSG 7. Aufl. § 32 Rn. 68 für § 32 BDSG nF; zur Da­ten­er­he­bung im be­ste­hen­den Ar­beits­verhält­nis all­ge­mein Go­la RDV 2001, 125, 127).


(c) Letzt­lich sind da­mit die An­for­de­run­gen an das rechtmäßige In­ter­es­se bei der Fra­ge nach ei­ner Schwer­be­hin­de­rung des Ar­beit­neh­mers durch den Ar­beit­ge­ber und die An­for­de­run­gen des Da­ten­schut­zes de­ckungs­gleich. Die RL 95/46/EG schränkt das Fra­ge­recht nach der Schwer­be­hin­de­rung, so­fern die­se un­ter ar­beits­recht­li­chen Ge­sichts­punk­ten zulässig ist, nicht ein. Sie soll das Gleich­ge­wicht zwi­schen dem frei­en Ver­kehr per­so­nen­be­zo­ge­ner Da­ten und
 


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dem Schutz der Pri­vat­sphäre wah­ren. Die­ses an­ge­mes­se­ne Gleich­ge­wicht zwi­schen den be­trof­fe­nen Rech­ten und In­ter­es­sen ist vor al­lem bei der An­wen­dung des die RL 95/46/EG um­set­zen­den na­tio­na­len Rechts zu fin­den, wo­bei die durch das Uni­ons­recht geschütz­ten Rech­te der Be­trof­fe­nen zu wah­ren sind (EuGH 6. No­vem­ber 2003 - C-101/01 - [Lind­qvist] Rn. 97, 85, 87, Slg. 2003, I-12971). Ein über­wie­gen­des In­ter­es­se des Ar­beit­neh­mers an der Wah­rung sei­ner Pri­vat­sphäre liegt nicht vor. Die Fra­ge nach der Schwer­be­hin­de­rung dient, wie wie­der­holt aus­geführt, letzt­lich der Wah­rung der Rech­te, die dem Ar­beit­neh­mer ge­ra­de we­gen der Schwer­be­hin­de­rung zu­kom­men. (Erst) in dem Ver­fah­ren nach § 85 SGB IX sind die be­hin­de­rungs­be­ding­ten Nach­tei­le aus­zu­glei­chen und die durch das Uni­ons­recht, ins­be­son­de­re die RL 2000/78/EG, gewähr­leis­te­ten Rech­te des Ar­beit­neh­mers zu wah­ren.


bb) Wird dem Ar­beit­ge­ber das Recht zur Fra­ge nach der Schwer­be­hin­de­rung im Vor­feld von Kündi­gun­gen zu­ge­stan­den, ver­letzt dies den schwer­be­hin­der­ten Ar­beit­neh­mer auch nicht in sei­nem Recht auf in­for­ma­tio­nel­le Selbst­be­stim­mung.


(1) Es kann da­hin­ste­hen, ob die Über­prüfung des Fra­ge­rechts im All­ge­mei­nen und des die­se Fra­ge nach Vor­ste­hen­dem zu­las­sen­den § 28 Abs. 6 Nr. 3 BDSG im Be­son­de­ren am Maßstab des Grund­ge­set­zes im Hin­blick auf den An­wen­dungs­vor­rang des Uni­ons­rechts ent­behr­lich ist.


(a) Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt übt - jen­seits des Ul­tra-vi­res- und des Ver­fas­sungs­iden­titäts­vor­be­halts - über die An­wend­bar­keit von Uni­ons­recht als Rechts­grund­la­ge für die na­tio­na­len Ge­rich­te und Behörden sei­ne Ge­richts­bar­keit nicht mehr aus und über­prüft die­ses Recht nicht mehr am Maßstab der Grund­rech­te, so­lan­ge die Eu­ropäische Uni­on ei­nen gleich wirk­sa­men Grund­rechts­schutz verbürgt. Dies gilt al­ler­dings bei in­ner­staat­li­chen Rechts­vor­schrif­ten, die Richt­li­ni­en des Uni­ons­rechts um­set­zen, nur dann, wenn das Uni­ons­recht zwin­gen­de Vor­ga­ben macht, al­so dem na­tio­na­len Ge­setz­ge­ber kei­nen Um­set­zungs­spiel­raum lässt (BVerfG 4. Ok­to­ber 2011 - 1 BvL 3/08 - Rn. 46, NJW 2012, 45). Lässt das Uni­ons­recht den Mit­glied­staa­ten da­ge­gen ei­nen Um­set­zungs­spiel­raum, ist die­ser grund­ge­setz­kon­form aus­zufüllen. In die­sem

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uni­ons­recht­lich nicht oder je­den­falls nicht vollständig de­ter­mi­nier­ten Nor­men­be­reich müssen die na­tio­na­len Fach­ge­rich­te den Ein­fluss der Grund­rech­te bei der Aus­le­gung von Vor­schrif­ten des na­tio­na­len Rechts nach wie vor zur Gel­tung brin­gen. Ob ein sol­cher die Grund­rechtsprüfung der Fach­ge­rich­te eröff­nen­der Um­set­zungs­spiel­raum des na­tio­na­len Ge­setz­ge­bers be­steht, hat das Fach­ge­richt durch Aus­le­gung des ein­schlägi­gen Uni­ons­rechts zu er­mit­teln, wo­bei es ge­ge­be­nen­falls die Vor­aus­set­zun­gen ei­nes Vor­ab­ent­schei­dungs­ver­fah­rens nach Art. 267 AEUV - auch in Be­zug auf den Schutz der durch das Uni­ons­recht verbürg­ten Grund­rech­te - in Be­tracht zie­hen muss (BVerfG 19. Ju­li 2011 - 1 BvR 1916/09 - [Cas­si­na] Rn. 88 f., NJW 2011, 3428).

(b) Die RL 95/46/EG eröff­net dem na­tio­na­len Ge­setz­ge­ber durch Art. 5 Hand­lungs­spielräume, auf­grund de­rer er die in Art. 6 bis Art. 8 RL 95/46/EG fest­ge­leg­ten Grundsätze näher be­stim­men kann. Es ist ihm le­dig­lich ver­wehrt, zusätz­li­che Be­din­gun­gen vor­zu­se­hen, durch die die Trag­wei­te ei­nes der in der RL 95/46/EG fest­ge­leg­ten Grundsätze verändert wird (vgl. zu Art. 7 RL 95/46/EG: EuGH 24. No­vem­ber 2011 - C-468/10 - [Aso­ci­a­ción Na­cio­nal] Rn. 35, NZA 2011, 1409; 6. No­vem­ber 2003 - C-101/01 - [Lind­qvist] Rn. 82 f., Slg. 2003, I-12971). Ins­be­son­de­re kann er gemäß Art. 8 Abs. 4 RL 95/46/EG, so­fern „an­ge­mes­se­ne Ga­ran­ti­en“ be­ste­hen, aus Gründen ei­nes wich­ti­gen öffent­li­chen In­ter­es­ses an­de­re als die in Art. 8 Abs. 2 RL 95/46/EG ge­nann­ten Aus­nah­men vor­se­hen.

(c) Ob da­mit nach vor­ste­hen­den Grundsätzen die Grund­rechtsprüfung eröff­net ist oder ob je­den­falls in Be­zug auf das Fra­ge­recht des Ar­beit­ge­bers nach der Schwer­be­hin­de­rung Art. 8 Abs. 2 RL 95/46/EG dem deut­schen Ge­setz­ge­ber kei­nen Um­set­zungs­spiel­raum ließ, kann da­hin­ste­hen. Das Recht auf in­for­ma­tio­nel­le Selbst­be­stim­mung wird durch die Fra­ge nach der Schwer­be­hin­de­rung un­ter den ge­nann­ten Vor­aus­set­zun­gen nicht ver­letzt. Ei­ner Vor­la­ge an den Ge­richts­hof der Eu­ropäischen Uni­on nach Art. 267 AEUV zur Klärung des Um­set­zungs­spiel­raums des na­tio­na­len Ge­setz­ge­bers im streit­be­fan­ge­nen Zu­sam­men­hang be­darf es des­halb nicht.
 


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(2) Das von Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 1 Abs. 1 GG um­fass­te Recht auf in­for­ma­tio­nel­le Selbst­be­stim­mung gewähr­leis­tet die Be­fug­nis des Ein­zel­nen, grundsätz­lich selbst zu ent­schei­den, wann und in­ner­halb wel­cher Gren­zen persönli­che Le­bens­sach­ver­hal­te of­fen­bart wer­den. Das Recht gewährt sei­nen Trägern ins­be­son­de­re Schutz ge­gen un­be­grenz­te Er­he­bung, Spei­che­rung, Ver­wen­dung oder Wei­ter­ga­be der auf sie be­zo­ge­nen, in­di­vi­dua­li­sier­ten oder in­di­vi­dua­li­sier-ba­ren Da­ten. Vom Schutz­be­reich die­ses Grund­rechts sind persönli­che oder per­so­nen­be­zo­ge­ne Da­ten um­fasst, wor­un­ter Ein­zel­an­ga­ben über persönli­che oder sach­li­che Verhält­nis­se ei­ner be­stimm­ten oder be­stimm­ba­ren Per­son zu ver­ste­hen sind (BVerfG 24. No­vem­ber 2010 - 1 BvF 2/05 - BVerfGE 128, 1, 42 f.). Dar­un­ter fällt auch die Schwer­be­hin­de­rung.


(3) Der Ein­griff in das in­for­ma­tio­nel­le Selbst­be­stim­mungs­recht ist je­doch durch § 28 Abs. 6 Nr. 3 BDSG ge­recht­fer­tigt (zu den An­for­de­run­gen an die Schran­ken des Rechts auf in­for­ma­tio­nel­le Selbst­be­stim­mung BVerfG 24. No­vem­ber 2010 - 1 BvF 2/05 - BVerfGE 128, 1, 46). Aus dem Grund­ge­setz er­ge­ben sich in­so­weit kei­ne wei­ter­ge­hen­den An­for­de­run­gen als aus dem Uni­ons­recht.

e) Ent­ge­gen der Auf­fas­sung der Re­vi­si­on wird durch das Be­ja­hen ei­nes Fra­ge­rechts des Ar­beit­ge­bers nach der Schwer­be­hin­de­rung im Vor­feld von be­ab­sich­tig­ten Kündi­gun­gen die ständi­ge Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts, wo­nach dem schwer­be­hin­der­ten Ar­beit­neh­mer der Son­derkündi­gungs­schutz noch zu­kommt, so­fern er sei­ne Schwer­be­hin­de­rung dem Ar­beit­ge­ber in­ner­halb der Frist des § 4 KSchG of­fen­legt (zu­letzt 23. Fe­bru­ar 2010 - 2 AZR 659/08 - Rn. 16, BA­GE 133, 249), nicht un­ter­lau­fen. Auch der von ihr ge­zo­ge­ne Schluss, aus die­ser Recht­spre­chung fol­ge, dass der Ar­beit­neh­mer nicht ver­pflich­tet sei, vor Ab­lauf der Frist des § 4 KSchG sei­ne Schwer­be­hin­de­rung zu of­fen­ba­ren, trägt nicht. Die­se Recht­spre­chung dient dem Ver­trau­ens­schutz so­wie der Rechts­si­cher­heit und ver­wehrt es dem Ar­beit­neh­mer, sei­ne sich aus der Schwer­be­hin­de­rung er­ge­ben­den Rech­te ge­genüber dem Ar­beit­ge­ber, der bei Erklärung der Kündi­gung von der Schwer­be­hin­de­rung bzw. ei­nem be­reits ge­stell­ten An­trag auf An­er­ken­nung der Schwer­be­hin­de­rung kei­ne


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Kennt­nis hat, il­loy­al ver­spätet gel­tend zu ma­chen. Sie ver­wehrt es aber nicht dem Ar­beit­ge­ber, die­se Rechts­un­si­cher­heit be­reits im Vor­feld der Kündi­gung durch die Fra­ge nach der Schwer­be­hin­de­rung zu be­sei­ti­gen.


II. Die Re­vi­si­on nimmt zu Un­recht an, die Fra­ge nach der Schwer­be­hin­de­rung des Klägers sei je­den­falls des­halb un­zulässig ge­we­sen, weil der Be­klag­te den An­lass die­ser Fra­ge nicht kon­kret dar­ge­legt ha­be, so dass der Kläger schon des­halb die Fra­ge ha­be wahr­heits­wid­rig be­ant­wor­ten dürfen, zu­mal er dem Be­klag­ten als vorläufi­gem In­sol­venz­ver­wal­ter oh­ne­hin nicht zur Aus­kunft ver­pflich­tet ge­we­sen sei.


1. Wie be­reits aus­geführt, ist die Fra­ge nach ei­ner Schwer­be­hin­de­rung im be­ste­hen­den Ar­beits­verhält­nis je­den­falls nach Ab­lauf der Frist des § 90 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX zu­zu­las­sen, um dem Ar­beit­ge­ber ein rechtstreu­es Ver­hal­ten zu ermögli­chen. Der Ar­beit­ge­ber muss des­halb den kon­kre­ten An­lass sei­ner Fra­ge dem Ar­beit­neh­mer nicht mit­tei­len.

2. Darüber hin­aus war die Fra­ge für den Kläger er­kenn­bar im Vor­feld ei­ner be­ab­sich­tig­ten Kündi­gungs­wel­le ge­stellt wor­den, da­mit der Be­klag­te die ihm bei der Um­set­zung die­ses Kündi­gungs­ent­schlus­ses im Zu­sam­men­hang mit der Schwer­be­hin­de­rung von Ar­beit­neh­mern ob­lie­gen­den Pflich­ten erfüllen konn­te.


a) Die Re­vi­si­on macht in­so­weit gel­tend, das Lan­des­ar­beits­ge­richt ha­be zwar im Tat­be­stand aus­geführt, dass die Fra­ge zur Ver­mei­dung von Feh­lern bei der So­zi­al­aus­wahl er­folgt sei. Der Be­klag­te ha­be je­doch nicht vor­ge­tra­gen, dass er dem Kläger die In­ten­ti­on sei­ner Fra­ge erläutert ha­be. Rich­tig sei da­ge­gen die Fest­stel­lung des Ar­beits­ge­richts, wo­nach für den Kläger bei der Fra­ge nicht er­sicht­lich ge­we­sen sei, wel­chen Zweck der Be­klag­te da­mit ver­folgt ha­be.

b) Mit die­ser Ar­gu­men­ta­ti­on berück­sich­tigt der Kläger nicht, dass der Fra­ge­bo­gen im In­sol­ven­zeröff­nungs­ver­fah­ren ver­teilt wor­den ist. Wenn in ei­nem der­ar­ti­gen Ver­fah­ren vom vorläufi­gen In­sol­venz­ver­wal­ter ei­ne Um­fra­ge zur „Ver­vollständi­gung bzw. Über­prüfung“ der So­zi­al­da­ten er­folgt, liegt auf der
 


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Hand, dass dies der Vor­be­rei­tung von Kündi­gun­gen, wie sie in ei­ner In­sol­venz im Re­gel­fall er­for­der­lich sind, dient. Eben­so liegt auf der Hand, dass der (vorläufi­ge) In­sol­venz­ver­wal­ter mit ei­ner sol­chen Fra­ge­bo­gen­ak­ti­on zum Aus­druck bringt, dass er ins­be­son­de­re den Schwer­be­hin­der­ten­schutz ver­wirk­li­chen will. Im All­ge­mei­nen ist da­von aus­zu­ge­hen, dass der (vorläufi­ge) Ver­wal­ter ge­setzmäßig han­delt (vgl. BGH 20. Ju­li 2010 - IX ZR 37/09 - Rn. 26, BGHZ 186, 242).


3. Der Kläger war auch ge­genüber dem Be­klag­ten, der im Zeit­punkt der Durchführung der Fra­ge­bo­gen­ak­ti­on noch „schwa­cher“ vorläufi­ger In­sol­venz­ver­wal­ter war, zur Aus­kunft ver­pflich­tet.


a) Das In­sol­venz­ge­richt hat dem Be­klag­ten mit Be­schluss vom 8. Ja­nu­ar 2009 das Recht zur Ausübung der Ar­beit­ge­ber­be­fug­nis­se ein­sch­ließlich der Ermäch­ti­gung, Kündi­gun­gen aus­zu­spre­chen, über­tra­gen. Es hat ihn da­mit zum sog. „halb­star­ken“ vorläufi­gen In­sol­venz­ver­wal­ter be­stellt (zu die­sem Be­griff Graf-Schli­cker In­sO 2. Aufl. § 22 Rn. 13 ff.). Zwar ist ei­ne pau­scha­le ge­richt­li­che Ermäch­ti­gung des vorläufi­gen In­sol­venz­ver­wal­ters, mit recht­li­cher Wir­kung für den Schuld­ner zu han­deln, nach § 22 Abs. 2 Satz 1 In­sO un­zulässig. Das In­sol­venz­ge­richt darf je­doch nach § 22 Abs. 2 Satz 2 In­sO den „schwa­chen“ vorläufi­gen In­sol­venz­ver­wal­ter zu ein­zel­nen, be­stimmt be­zeich­ne­ten Maßnah­men be­rech­ti­gen und ver­pflich­ten. Da­zu gehört auch die Ermäch­ti­gung zur Kündi­gung be­stimm­ba­rer Ar­ten von Dau­er­schuld­verhält­nis­sen (BGH 18. Ju­li 2002 - IX ZR 195/01 - BGHZ 151, 353, 365). Der Be­klag­te war dem­nach be­reits im In­sol­ven­zeröff­nungs­ver­fah­ren je­den­falls hin­sicht­lich der Kündi­gungs­be­rech­ti­gung in die Ar­beit­ge­ber­stel­lung ein­gerückt und war be­rech­tigt, al­le da­mit ver­bun­de­nen Ent­schei­dun­gen vor­zu­be­rei­ten und zu tref­fen.

b) Darüber hin­aus hat auch ein „schwa­cher“ vorläufi­ger In­sol­venz­ver­wal­ter, dem das In­sol­venz­ge­richt kei­ne Ar­beit­ge­ber­be­fug­nis­se über­tra­gen hat, ei­nen ge­setz­li­chen Aus­kunfts­an­spruch ge­gen die bei der In­sol­venz­schuld­ne­rin beschäftig­ten Ar­beit­neh­mer. Gemäß § 97 Abs. 1 Satz 1 In­sO ist der Schuld­ner ver­pflich­tet, dem In­sol­venz­ver­wal­ter über al­le das Ver­fah­ren be­tref­fen­den Verhält­nis­se Aus­kunft zu ge­ben. Die­se Norm gilt gemäß § 101 Abs. 2 In­sO ent­spre­chend auch für die An­ge­stell­ten des Schuld­ners und da­mit oh­ne Be-
 


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schränkung auf den ar­beits­recht­li­chen An­ge­stell­ten­be­griff für al­le im Be­trieb täti­gen Per­so­nen des Schuld­ners (Graf-Schli­cker In­sO 2. Aufl. § 101 Rn. 5). Die Ver­pflich­tung zur Aus­kunft be­steht kraft der Ver­wei­sung in § 22 Abs. 3 Satz 3 In­sO schon im Eröff­nungs­ver­fah­ren, wo­bei es un­er­heb­lich ist, ob der vorläufi­ge In­sol­venz­ver­wal­ter „stark“ oder „schwach“ ist (Un­ter­busch Der vorläufi­ge In­sol­venz­ver­wal­ter S. 131; Leit­haus in And­res/Leit­haus In­sO 2. Aufl. § 97 Rn. 14).

Der Be­griff der „Aus­kunft“ ist weit aus­zu­le­gen, da er sich am Ver­fah­rens­zweck der Haf­tungs­ver­wirk­li­chung ori­en­tiert. Er um­fasst al­le recht­li­chen und wirt­schaft­li­chen Umstände, die für die Ab­wick­lung des In­sol­venz­ver­fah­rens oder von Gläubi­ger­for­de­run­gen in ir­gend­ei­ner Wei­se von Be­deu­tung sein können (BGH 11. Fe­bru­ar 2010 - IX ZB 126/08 - Rn. 5, NZI 2010, 264; Kay­ser in HK-In­sO 6. Aufl. § 97 Rn. 11; Hamb­Komm/Wend­ler 3. Aufl. § 97 Rn. 3; Un­ter­busch Der vorläufi­ge In­sol­venz­ver­wal­ter S. 134). Hier­un­ter fällt auch die Fra­ge nach der Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft, die sich auf die Dau­er ei­nes Ar­beits­verhält­nis­ses mit ent­spre­chen­der Ent­gelt­zah­lungs­pflicht aus­wir­ken kann.


III. Auch die Rüge der Re­vi­si­on, der Be­klag­te ha­be nichts zur Wah­rung der Mit­be­stim­mungs­rech­te des Be­triebs­rats aus § 94 Be­trVG vor­ge­tra­gen, was aber zur Dar­le­gung der Recht­fer­ti­gung der Fra­ge nach der Schwer­be­hin­de­rung er­for­der­lich ge­we­sen sei, ver­hilft ihr nicht zum Er­folg. Da­mit macht die Re­vi­si­on ei­nen recht­li­chen Ge­sichts­punkt gel­tend, der neu­en Tat­sa­chen­vor­trag des Be­klag­ten zur Be­tei­li­gung des Be­triebs­rats er­for­der­lich macht. Neu­es tatsächli­ches Vor­brin­gen im Re­vi­si­ons­ver­fah­ren kann aber nur un­ter Vor­aus­set­zun­gen er­fol­gen bzw. er­zwun­gen wer­den, die hier nicht vor­lie­gen. Oh­ne­hin be­rech­tigt ei­ne sol­che Ver­let­zung von Mit­be­stim­mungs­rech­ten den Ar­beit­neh­mer zwar mögli­cher­wei­se, die Ant­wort auf die ge­stell­ten Fra­gen zu ver­wei­gern, nicht je­doch, sei­nen Ar­beit­ge­ber zu täuschen (BAG 2. De­zem­ber 1999 - 2 AZR 724/98 - BA­GE 93, 41, 47).


IV. In­fol­ge der wahr­heits­wid­ri­gen Be­ant­wor­tung der ihm rechtmäßig ge­stell­ten Fra­ge nach sei­ner Schwer­be­hin­de­rung ist es dem Kläger un­ter dem Ge­sichts­punkt wi­dersprüchli­chen Ver­hal­tens ver­wehrt, sich auf sei­ne Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft zu be­ru­fen.

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1. Grundsätz­lich steht es je­dem Teil­neh­mer des Rechts­ver­kehrs frei, sein Ver­hal­ten oder sei­ne Rechts­an­sicht zu ändern und sich da­mit in Wi­der­spruch zu sei­nem frühe­ren Ver­hal­ten zu set­zen. Ein sol­ches Ver­hal­ten ist aber rechts­miss­bräuch­lich, wenn der Erklären­de durch sei­ne Erklärung oder durch sein Ver­hal­ten un­be­wusst oder be­wusst ei­ne Sach- oder Rechts­la­ge ge­schaf­fen hat, auf die sich der an­de­re Teil ver­las­sen durf­te und ver­las­sen hat. Das Ver­bot wi­dersprüchli­chen Ver­hal­tens als Aus­prägung des Grund­sat­zes von Treu und Glau­ben bil­det ei­ne al­len Rech­ten, Rechts­la­gen und Rechts­nor­men im­ma­nen­te In­halts­be­gren­zung. Das Ver­trau­en des an­de­ren am Rechts­verhält­nis be­tei­lig­ten Teils, dass ei­ne be­stimm­te Rechts­la­ge ge­ge­ben sei, ist vor al­lem dann schutzwürdig, wenn er von dem an­de­ren Teil in die­sem Glau­ben bestärkt wor­den ist und im Hin­blick dar­auf Dis­po­si­tio­nen ge­trof­fen hat. In ei­nem sol­chen Fall ist die Aus­nut­zung der durch das wi­dersprüchli­che Ver­hal­ten ge­schaf­fe­nen Rechts­la­ge we­gen der Rechtsüber­schrei­tung un­zulässig. Ob ein sol­cher Fall vor­liegt, ist un­ter Berück­sich­ti­gung der Umstände des Ein­zel­falls zu ent­schei­den (BAG 12. März 2009 - 2 AZR 894/07 - Rn. 17, BA­GE 130, 14; 23. Fe­bru­ar 2005 - 4 AZR 139/04 - BA­GE 114, 33, 42 f.).

2. Nach die­sen Grundsätzen liegt hier ein Fall der un­zulässi­gen Rechts­ausübung vor. Der Kläger hat durch das Leug­nen sei­ner an­er­kann­ten Schwer­be­hin­de­rung den Be­klag­ten im Glau­ben bestärkt, er könne oh­ne die Be­tei­li­gung des In­te­gra­ti­ons­am­tes wirk­sam kündi­gen, und ihn da­durch da­von ab­ge­hal­ten, vor der Kündi­gung die Zu­stim­mung des In­te­gra­ti­ons­am­tes ein­zu­ho­len. Erst bei der Fol­gekündi­gung vom 20. Au­gust 2009 konn­ten die Rech­te des Klägers aus § 85 SGB IX ge­wahrt wer­den. Blie­be sein Ver­hal­ten fol­gen­los, würde das Ar­beits­verhält­nis des Klägers auf­grund sei­ner Schwer­be­hin­de­rung länger fort­be­ste­hen als das ei­nes nicht be­hin­der­ten, an­sons­ten ver­gleich­ba­ren Ar­beit­neh­mers oder ei­nes Schwer­be­hin­der­ten, der sei­ne Schwer­be­hin­de­rung of­fen­ge­legt hätte. Ei­ne der­ar­ti­ge Be­vor­zu­gung ist aber nicht Zweck des Son­derkündi­gungs­schut­zes, der, wie aus­geführt, nur dem Aus­gleich be­hin­de­rungs­be­ding­ter Nach­tei­le dient (BAG 26. Ju­ni 2001 - 9 AZR 244/00 - BA­GE 98, 114, 122; BVerwG 2. Ju­li 1992 - 5 C 39.90 - BVerw­GE 90, 275).
 


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B. Das Lan­des­ar­beits­ge­richt hat rechts­feh­ler­frei fest­ge­stellt, dass die Kündi­gung vom 26. Mai 2009 aus be­triebs­be­ding­ten Gründen so­zi­al ge­recht­fer­tigt (§ 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG iVm. § 125 Abs. 1 Satz 1 In­sO) und auch nicht gemäß § 102 Abs. 1 Satz 3 Be­trVG un­wirk­sam ist. Ge­gen die ent­spre­chen­de Würdi­gung des Lan­des­ar­beits­ge­richts und die die­ser zu­grun­de lie­gen­den Tat­sa­chen­fest­stel­lun­gen er­hebt die Re­vi­si­on auch kei­ne Rügen.

C. Der Kläger hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kos­ten sei­ner er­folgs­lo­sen Re­vi­si­on zu tra­gen.

Fi­scher­mei­er 

Brühler 

Spel­ge

Schäfer­kord 

B. Ben­der

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