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BAG, Ur­teil vom 18.01.2012, 6 AZR 407/10

   
Schlagworte: Kündigungsschutzklage, Hinweispflicht
   
Gericht: Bundesarbeitsgericht
Aktenzeichen: 6 AZR 407/10
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 18.01.2012
   
Leitsätze: Das Arbeitsgericht genügt der Hinweispflicht des § 6 Satz 2 KSchG auf die Präklusionsvorschrift des § 6 Satz 1 KSchG, wenn es den Arbeitnehmer darauf hinweist, dass er sich bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz zur Begründung der Unwirksamkeit der Kündigung auch auf innerhalb der Klagefrist des § 4 KSchG nicht geltend gemachte Gründe berufen kann. Hinweise des Arbeitsgerichts auf konkrete Unwirksamkeitsgründe sind unter dem Gesichtspunkt des § 6 Satz 2 KSchG auch dann nicht geboten, wenn im Laufe des erstinstanzlichen Verfahrens deutlich wird, dass Unwirksamkeitsgründe in Betracht kommen, auf die sich der Arbeitnehmer bisher nicht berufen hat. Die Pflicht zu derartigen Hinweisen kann sich allerdings aus der in § 139 ZPO geregelten materiellen Prozessleitungspflicht des Gerichts ergeben.
Vorinstanzen: Arbeitsgericht Brandenburg, Urteil vom 3.12.2009, 2 Ca 834/09
Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 3.06.2010, 26 Sa 263/10
   


BUN­DES­AR­BEITS­GERICHT


6 AZR 407/10
26 Sa 263/10
Lan­des­ar­beits­ge­richt

Ber­lin-Bran­den­burg

 

Im Na­men des Vol­kes!

Verkündet am

18. Ja­nu­ar 2012

UR­TEIL

Gaßmann, Ur­kunds­be­am­tin

der Geschäfts­stel­le

In Sa­chen

Kläge­rin, Be­ru­fungskläge­rin und Re­vi­si­onskläge­rin,

pp.

Be­klag­ter, Be­ru­fungs­be­klag­ter und Re­vi­si­ons­be­klag­ter,

hat der Sechs­te Se­nat des Bun­des­ar­beits­ge­richts auf­grund der münd­li­chen Ver­hand­lung vom 18. Ja­nu­ar 2012 durch den Vor­sit­zen­den Rich­ter am Bun­des­ar­beits­ge­richt Dr. Fi­scher­mei­er, den Rich­ter am Bun­des­ar­beits­ge­richt Dr. Brühler und die Rich­te­rin am Bun­des­ar­beits­ge­richt Spel­ge so­wie die eh­ren-amt­li­chen Rich­ter Oye und Za­bel für Recht er­kannt:
 


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1. Die Re­vi­si­on der Kläge­rin ge­gen das Ur­teil des Lan­des­ar­beits­ge­richts Ber­lin-Bran­den­burg vom 3. Ju­ni 2010 - 26 Sa 263/10 - wird zurück­ge­wie­sen.


2. Die Kläge­rin hat die Kos­ten der Re­vi­si­on zu tra­gen.

Von Rechts we­gen!

Tat­be­stand

Die Par­tei­en strei­ten über die Wirk­sam­keit ei­ner or­dent­li­chen be­triebs-be­ding­ten Kündi­gung. Die Kläge­rin war seit dem 1. Ok­to­ber 1991 als Kon­struk­teu­rin im Be­trieb Z der Schuld­ne­rin, in dem ein Be­triebs­rat ge­bil­det war, beschäftigt. Dort wa­ren et­wa 110 Mit­ar­bei­ter tätig. Durch Be­schluss des Amts­ge­richts Aa­len - In­sol­venz­ge­richt - vom 1. Ju­ni 2009 (- 3 IN 91/09 -) wur­de über das Vermögen der Schuld­ne­rin das In­sol­venz­ver­fah­ren eröff­net und der Be­klag­te zum In­sol­venz­ver­wal­ter be­stellt. Am 10. Ju­ni 2009 stell­te der Be­klag­te die Pro­duk­ti­on in Z ein und stell­te al­le Ar­beit­neh­mer mit Aus­nah­me von sechs Beschäftig­ten, die in­sol­venz­spe­zi­fi­sche Tätig­kei­ten ver­rich­te­ten, mit Wir­kung vom 11. Ju­ni 2009 von der Er­brin­gung der Ar­beits­leis­tung frei. Wer­ben­de und pro­du­zie­ren­de Tätig­kei­ten wur­den im Be­trieb Z seit­dem nicht mehr ent­fal­tet, Auf­ga­ben für Kon­struk­teu­re wa­ren nicht mehr vor­han­den.


Am 24. Ju­ni 2009 ei­nig­te der Be­klag­te sich mit dem Be­triebs­rat auf ei­nen In­ter­es­sen­aus­gleich mit Na­mens­lis­te. Die­ser lau­tet aus­zugs­wei­se wört­lich:

„§ 4 Be­triebs­rats­anhörung nach § 102 Be­trVG


Der Be­triebs­rat erklärt mit Un­ter­zeich­nung die­ses In­ter­es­sen­aus­glei­ches, dass er be­reits im Rah­men der Ver­hand­lun­gen über die­sen In­ter­es­sen­aus­gleich ord­nungs­gemäß die nach § 102 Be­trVG er­for­der­li­chen In­for­ma­tio­nen über die zu berück­sich­ti­gen­den Kündi­gungs­gründe und zur So­zi­al­aus­wahl ... er­hal­ten hat und so be­reits ord­nungs-gemäß an­gehört wur­de.

... Der Be­triebs­rat erklärt, dass er die be­ab­sich­tig­ten


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Kündi­gun­gen zur Kennt­nis nimmt und kei­ne wei­te­re Stel­lung­nah­me ab­ge­ben wird und das Anhörungs­ver­fah­ren als ab­ge­schlos­sen sieht.


...

§ 8 Un­ter­rich­tung nach § 17 KSchG

Der Be­triebs­rat erklärt hier­mit, recht­zei­tig und um­fas­send gemäß § 17 KSchG über die an­zei­ge­pflich­ti­gen Maßnah­men un­ter­rich­tet wor­den zu sein. Der vor­lie­gen­de In­ter­es­sen­aus­gleich er­setzt die Stel­lung­nah­me des Be­triebs­rats gemäß § 17 Ab­satz 3 KSchG (§ 125 In­sO) so­wie § 20 Ab­satz 1 und 2 KSchG.“

Am 24. Ju­ni 2009 ging um 13:24 Uhr der vom stell­ver­tre­ten­den Be­triebs­rats­vor­sit­zen­den, der den am 24. und 25. Ju­ni 2009 ur­laubs­be­dingt ab­we­sen­den Vor­sit­zen­den ver­trat, un­ter­schrie­be­ne In­ter­es­sen­aus­gleich in ein­ge­scann­ter Form per E-Mail bei der Schuld­ne­rin ein. Der Be­klag­te zeig­te mit Schrei­ben vom 25. Ju­ni 2009, das dort per Te­le­fax um 12:37 Uhr ein­ging, der Agen­tur für Ar­beit die ge­plan­te Mas­sen­ent­las­sung an. Die­sem Schrei­ben fügte er ein aus­ge­druck­tes, von ihm un­ter­zeich­ne­tes Ex­em­plar des ihm vom Be­triebs­rat per E-Mail über­sand­ten In­ter­es­sen­aus­gleichs bei. Auf­grund ei­nes Büro­ver­se­hens nahm er im An­schrei­ben auf ei­nen In­ter­es­sen­aus­gleich vom 2. Ju­ni 2009 Be­zug. Die Kündi­gungs­erklärun­gen vom 25. Ju­ni 2009 gab der Be­klag­te noch am sel­ben Tag ge­gen 15:45 Uhr zur Post. Der Kläge­rin ging die Kündi­gung am 26. Ju­ni 2009 zu.


Die Kläge­rin hat am 17. Ju­li 2009 Kündi­gungs­schutz­kla­ge er­ho­ben. In der La­dung zum Güte­ter­min er­teil­te das Ar­beits­ge­richt den Hin­weis nach § 6 Satz 2 KSchG wie folgt:


„Die kla­gen­de Par­tei wird dar­auf hin­ge­wie­sen, dass nur bis zum Schluss der münd­li­chen Ver­hand­lung in der 1. In­stanz auch wei­te­re Un­wirk­sam­keits­gründe gel­tend ge­macht wer­den können (§ 6 KSchG).“

Erst­in­stanz­lich hat die Kläge­rin le­dig­lich gerügt, der Be­trieb der Schuld­ne­rin sei nicht dau­er­haft still­ge­legt wor­den. Man­gels form­ge­recht un­ter­zeich­ne­ten In­ter­es­sen­aus­gleichs ha­be sich der Be­klag­te auch nicht auf die Rechts­wir­kun­gen aus § 1 Abs. 5 KSchG be­ru­fen dürfen. Erst in der Be­ru­fungs­in­stanz hat

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die Kläge­rin Rügen hin­sicht­lich der Be­triebs­rats­anhörung und der Wah­rung der Pflich­ten des Be­klag­ten aus § 17 KSchG er­ho­ben. Die Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge sei be­reits des­halb nicht ord­nungs­gemäß er­folgt, weil im An­schrei­ben an die Agen­tur für Ar­beit ein fal­sches Da­tum des In­ter­es­sen­aus­gleichs ge­nannt wor­den sei. Der Be­klag­te ha­be nicht hin­rei­chend dar­ge­legt, dass er der Kon­sul­ta­ti­ons­pflicht nach § 17 Abs. 2 KSchG nach­ge­kom­men sei. Der In­ter­es­sen­aus­gleich ha­be der ge­setz­li­chen Schrift­form nicht genügt und dar­um nicht die Stel­lung­nah­me des Be­triebs­rats ge­genüber der Agen­tur für Ar­beit er­set­zen können.


Die Kläge­rin hat be­an­tragt 


fest­zu­stel­len, dass das Ar­beits­verhält­nis zwi­schen den Par­tei­en durch die Kündi­gung vom 25. Ju­ni 2009 nicht auf­gelöst wur­de.

Der Be­klag­te hat sei­nen An­trag auf Kla­ge­ab­wei­sung dar­auf gestützt, dass es auf den for­mal wirk­sa­men Ab­schluss des In­ter­es­sen­aus­gleichs für die Er­set­zungs­wir­kung nicht an­kom­me.

Die Vor­in­stan­zen ha­ben die Kla­ge ab­ge­wie­sen. Das Lan­des­ar­beits­ge­richt hat an­ge­nom­men, die Kündi­gung sei so­zi­al ge­recht­fer­tigt. Das Ar­beits­ge­richt ha­be sei­ner Hin­weis­pflicht nach § 6 Satz 2 KSchG genügt, so dass sich die Kläge­rin nach Ab­schluss der ers­ten In­stanz nicht auf wei­te­re Rügen be­ru­fen könne. Oh­ne­hin ha­be der Be­klag­te sei­ne Pflich­ten aus § 102 Be­trVG und § 17 KSchG nicht ver­letzt. Mit der vom Lan­des­ar­beits­ge­richt zu­ge­las­se­nen Re­vi­si­on rügt die Kläge­rin, das Lan­des­ar­beits­ge­richt ha­be den In­halt der Hin­weis­pflicht nach § 6 Satz 2 KSchG ver­kannt. Weil An­halts­punk­te für wei­te­re Un­wirk­sam­keits­gründe vor­ge­le­gen hätten, ha­be es ei­nes kon­kre­ten Hin­wei­ses des Ar­beits­ge­richts zu § 102 Be­trVG und § 17 KSchG be­durft. Im Übri­gen wie­der­holt und ver­tieft die Kläge­rin ihr Vor­brin­gen da­zu, dass die Mas­sen­ent­las­sungs-an­zei­ge nicht ord­nungs­gemäß er­stat­tet sei.
 


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Ent­schei­dungs­gründe


Die Re­vi­si­on ist un­be­gründet. Das Lan­des­ar­beits­ge­richt hat die Kla­ge mit zu­tref­fen­der Be­gründung ab­ge­wie­sen.

I. Die Kündi­gung ist gemäß § 1 Abs. 1 KSchG wirk­sam. Die dem zu­grun­de lie­gen­den Tat­sa­chen hat das Lan­des­ar­beits­ge­richt gemäß § 561 ZPO bin­dend fest­ge­stellt. Ge­gen die­se Fest­stel­lung wen­det sich die Re­vi­si­on nicht.

II. Das Lan­des­ar­beits­ge­richt hat rechts­feh­ler­frei an­ge­nom­men, dass die Kläge­rin mit der Rüge des Un­wirk­sam­keits­grun­des des § 102 Abs. 1 Satz 3 Be­trVG nach § 6 Satz 1 KSchG aus­ge­schlos­sen ist, weil sie die­se Rüge erst­mals in der Be­ru­fungs­in­stanz er­ho­ben hat.

1. Nach § 6 Satz 1 KSchG kann sich der Ar­beit­neh­mer bis zum Schluss der münd­li­chen Ver­hand­lung ers­ter In­stanz zur Be­gründung der Un­wirk­sam­keit der Kündi­gung auch auf in­ner­halb der Frist des § 4 KSchG nicht gel­tend ge­mach­te Gründe be­ru­fen, so­fern er in­ner­halb die­ser Frist Kündi­gungs­schutz­kla­ge er­ho­ben hat. § 6 Satz 1 KSchG ist da­mit ei­ne Präklu­si­ons­vor­schrift (Ey­lert NZA 2012, 9, 10; Raab RdA 2004, 321, 329).


Der Ge­setz­ge­ber woll­te mit der Vor­schrift des § 6 Satz 1 KSchG dem „meist nicht rechts­kun­di­gen“ Ar­beit­neh­mer die Möglich­keit eröff­nen, auch nach Ab­lauf der Frist des § 4 KSchG noch an­de­re Un­wirk­sam­keits­gründe in den Pro­zess ein­zuführen, auf die er sich zunächst nicht be­ru­fen hat. Zu­gleich woll­te er die­se Rügemöglich­keit auf die Zeit bis zum Schluss der münd­li­chen Ver­hand­lung in der ers­ten In­stanz be­schränken, um dem Ar­beit­ge­ber als­bald Klar­heit über den Be­stand oder die Be­en­di­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses zu ver­schaf­fen (BT-Drucks. 15/1204 S. 13). Al­ler­dings führt seit der Neu­fas­sung des § 4 KSchG durch das Ge­setz zu Re­for­men am Ar­beits­markt vom 24. De­zem­ber 2003 (BGBl. I S. 3002) die Rüge ei­ner Un­wirk­sam­keit der Kündi­gung un­ter wei­te­ren recht­li­chen Ge­sichts­punk­ten nicht zu ei­nem Wech­sel im Streit­ge­gen­stand, son­dern nur zu ei­ner Er­wei­te­rung des Sach­vor­trags, so dass an sich der Ar­beit­neh­mer im Kündi­gungs­schutz­pro­zess im Rah­men der gel­ten-
 


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den Präklu­si­ons­be­stim­mun­gen wei­te­re Un­wirk­sam­keits­gründe nach­schie­ben könn­te. Un­abhängig da­von, dass § 6 Satz 1 KSchG in­so­weit re­dak­tio­nell missglückt (so BAG 23. April 2008 - 2 AZR 699/06 - Rn. 22, AP KSchG 1969 § 4 Nr. 65 = EzA KSchG § 4 nF Nr. 84) bzw. miss­lun­gen ist (Ey­lert NZA 2012, 9; Ben­der/Schmidt NZA 2004, 358, 364; Quecke RdA 2004, 86, 101; Bay­reu­ther ZfA 2005, 391, 398), ist die­se Re­ge­lung von den Ge­rich­ten zu ach­ten (Ba­der NZA 2004, 65, 69; Raab RdA 2004, 321, 329). Der Ar­beit­neh­mer muss des­halb auf­grund der aus­drück­li­chen ge­setz­li­chen An­ord­nung des § 6 Satz 1 KSchG al­le wei­te­ren Un­wirk­sam­keits­gründe spätes­tens bis zum Schluss der münd­li­chen Ver­hand­lung ers­ter In­stanz gel­tend ma­chen. Ge­schieht dies nicht, ist er mit die­ser Rüge grundsätz­lich aus­ge­schlos­sen (BAG 8. No­vem­ber 2007 - 2 AZR 314/06 - Rn. 10, 16, BA­GE 124, 367; vgl. auch 4. Mai 2011 - 7 AZR 252/10 - Rn. 19, EzA KSchG § 6 Nr. 3 für die auf § 6 KSchG ver­wei­sen­de Be­stim­mung des § 17 Satz 2 Tz­B­fG; aA KR/Fried­rich 9. Aufl. § 6 KSchG Rn. 18a; Ba­der/Bram/Krie­bel Stand Ok­to­ber 2010 § 6 KSchG Rn. 14 ff.; Quecke RdA 2004, 86, 102; Ben­der/Schmidt NZA 2004, 358, 365; Bay­reu­ther ZfA 2005, 391, 392).

2. Das Ar­beits­ge­richt hat die Kläge­rin in der La­dung zum Güte­ter­min ent­spre­chend dem Wort­laut des § 6 Satz 1 KSchG dar­auf hin­ge­wie­sen, dass sie sich bis zum Schluss der münd­li­chen Ver­hand­lung ers­ter In­stanz zur Be­gründung der Un­wirk­sam­keit der Kündi­gung auch auf in­ner­halb der Kla­ge­frist nicht gel­tend ge­mach­te Gründe be­ru­fen kann. Da­mit hat­te es sei­ner Pflicht aus § 6 Satz 2 KSchG genügt. Ei­ne Ver­pflich­tung des Ar­beits­ge­richts, die Kläge­rin auf et­wai­ge Un­wirk­sam­keits­gründe, die nach den kon­kre­ten Umständen des Ein­zel­falls in Be­tracht hätten kom­men können, hin­zu­wei­sen, be­stand nach die­ser Be­stim­mung nicht.

a) Über An­lass und In­halt der Hin­weis­pflicht nach § 6 Satz 2 KSchG in der seit dem 1. Ja­nu­ar 2004 gel­ten­den Fas­sung ist noch kei­ne höchst­rich­ter­li­che Ent­schei­dung er­gan­gen. Der Zwei­te Se­nat hat in sei­ner Ent­schei­dung vom 8. No­vem­ber 2007 (- 2 AZR 314/06 - Rn. 21, BA­GE 124, 367) le­dig­lich an­ge­nom­men, dass ein aus­rei­chen­der Hin­weis an den Kläger da­durch er­folgt sei,

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dass das Ar­beits­ge­richt ein­deu­tig fest­ge­stellt ha­be, an­de­re Un­wirk­sam­keits­gründe ha­be der Kläger erst­in­stanz­lich nicht gel­tend ge­macht. Der Sieb­te Se­nat hat in der Ent­schei­dung vom 4. Mai 2011 (- 7 AZR 252/10 - Rn. 21, EzA KSchG § 6 Nr. 3) aus­drück­lich of­fen­ge­las­sen, nach wel­chen Maßstäben sich die Hin­weis­pflicht des Ar­beits­ge­richts rich­tet. In der Ent­schei­dung vom 16. April 2003 (- 7 AZR 119/02 - BA­GE 106, 72, 78) hat der Sieb­te Se­nat die Hin­weis­pflicht nach § 17 Tz­B­fG, § 6 KSchG aF nicht als ver­letzt an­ge­se­hen, weil das Ar­beits­ge­richt we­der den Kla­ge­anträgen noch der Kla­ge­be­gründung noch sons­ti­gen Umständen An­halts­punk­te dafür ha­be ent­neh­men können, dass die letz­te ver­ein­bar­te Be­fris­tung un­wirk­sam ge­we­sen sein könn­te.


b) Nach hM in der Li­te­ra­tur muss ein Hin­weis nach § 6 Satz 2 KSchG er­fol­gen, wenn an­de­re Un­wirk­sam­keits­gründe als die bis­her gerügten er­kenn­bar in Be­tracht kom­men (Ey­lert NZA 2012, 9, 11; KR/Fried­rich 9. Aufl. § 6 KSchG Rn. 31; ErfK/Kiel 12. Aufl. § 6 KSchG Rn. 6; APS/Hes­se 4 Aufl. § 6 KSchG Rn. 22; Ba­der/Bram/Krie­bel Stand Ok­to­ber 2010 § 6 KSchG Rn. 47 hält das „Er­fra­gen“ der­ar­ti­ger An­halts­punk­te in be­stimm­ten Fällen für er­for­der­lich). Bei Vor­lie­gen sol­cher Umstände soll ein Hin­weis auf ei­nen kon­kre­ten, im ein­zel­nen vom Ge­richt zu be­nen­nen­den Un­wirk­sam­keits­grund er­fol­gen (vgl. Ey­lert aaO, der ei­nen kon­kre­ten Hin­weis des Ar­beits­ge­richts ver­langt, wenn auf­grund des Tat­sa­chen­vor­brin­gens der Par­tei­en die Möglich­keit ei­nes bis­lang noch nicht aus­rei­chend vor­ge­tra­ge­nen Un­wirk­sam­keits­grun­des vor­liegt; nach KR/Fried­rich aaO hat das Ge­richt zB auf die Möglich­keit der Un­wirk­sam­keit der Kündi­gung nach § 102 Abs. 1 Satz 3 Be­trVG hin­zu­wei­sen). An­de­re Stim­men in der Li­te­ra­tur hal­ten ei­nen um­fas­sen­den Hin­weis in Form ei­nes „ju­ris­ti­schen Ein­kaufs­zet­tels“ (so po­le­misch Ben­der/Schmidt NZA 2004, 358, 365) auf al­le mögli­chen Un­wirk­sam­keits­gründe für er­for­der­lich (Ba­der NZA 2004, 65, 69).


c) Die­se Aus­le­gun­gen ge­hen je­doch über den Norm­ge­halt des § 6 Satz 2 KSchG hin­aus. Nach die­ser Be­stim­mung soll das Ar­beits­ge­richt den Ar­beit­neh­mer „hier­auf“, al­so dar­auf, dass er nach § 6 Satz 1 KSchG wei­te­re Un­wirk­sam­keits­gründe (nur) bis zum Schluss der münd­li­chen Ver­hand­lung gel­tend ma­chen kann, hin­wei­sen. Auch aus den Ge­set­zes­ma­te­ria­li­en er­gibt sich kein

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wei­ter­ge­hen­der Wil­le des Ge­setz­ge­bers. Da­nach soll der meist nicht rechts­kun­di­ge Ar­beit­neh­mer, der bei Kla­ge­er­he­bung oft nicht al­le Un­wirk­sam­keits­gründe kennt, die Möglich­keit ha­ben, später an­de­re Gründe in den Pro­zess ein­zuführen. „Hier­auf“ soll ihn das Ge­richt hin­wei­sen (BT-Drucks. 15/1204 S. 13). Mehr ver­langt § 6 Satz 2 KSchG nicht. Des­halb reicht der bloße Hin­weis des Ar­beits­ge­richts auf den Re­ge­lungs­ge­halt des § 6 Satz 1 KSchG zur Wah­rung der Hin­weis­pflicht aus § 6 Satz 2 KSchG aus.

3. § 6 KSchG führt al­ler­dings in vor­ste­hen­der Aus­le­gung zu ei­ner nicht un­er­heb­li­chen Be­schnei­dung der Rechts­schutzmöglich­kei­ten des Ar­beit­neh­mers. Als Präklu­si­ons­vor­schrift steht § 6 Satz 1 KSchG im Span­nungs­verhält­nis zwi­schen den Ge­bo­ten zur Rechts­schutz­gewährung und der Wah­rung des recht­li­chen Gehörs so­wie der an­zu­stre­ben­den ma­te­ri­el­len Rich­tig­keit der zu tref­fen­den Ent­schei­dung ei­ner­seits und der Be­fol­gung der vom Ge­setz­ge­ber an­ge­ord­ne­ten Be­schleu­ni­gung und Kon­zen­tra­ti­on des Streitstoffs schon in ers­ter In­stanz an­de­rer­seits.

a) Es liegt grundsätz­lich in der Ge­stal­tungs­frei­heit des Ge­setz­ge­bers, ob für die Rechts­ver­fol­gung meh­re­re In­stan­zen be­reit­ge­stellt wer­den, un­ter wel­chen Vor­aus­set­zun­gen die­se an­ge­ru­fen wer­den können und wie weit die Prüfungs­be­fug­nis des je­weils zuständi­gen Ge­richts reicht (vgl. BVerfG 24. Ja­nu­ar 2005 - 1 BvR 2653/03 - BVerfGK 6, 1, 3 für § 531 Abs. 2 ZPO nF). Die Be­schränkung der Prüfungs­be­fug­nis des Lan­des­ar­beits­ge­richts durch § 6 KSchG steht des­halb mit dem Jus­tiz­gewährungs­an­spruch des Art. 19 Abs. 4 GG in Ein­klang.

b) Der Ge­setz­ge­ber kann auch das recht­li­che Gehör im In­ter­es­se der Ver­fah­rens­be­schleu­ni­gung durch Präklu­si­ons­vor­schrif­ten be­gren­zen. Al­ler­dings führen Vor­schrif­ten wie die des § 6 Satz 1 KSchG da­zu, dass ei­ner Par­tei Vor­brin­gen ab­ge­schnit­ten wer­den kann, das zu ei­nem an­de­ren Aus­gang des Pro­zes­ses geführt hätte. We­gen die­ser ein­schnei­den­den Fol­gen für den An­spruch auf recht­li­ches Gehör müssen sol­che Vor­schrif­ten Aus­nah­me­cha­rak­ter ha­ben. Ih­re An­wen­dung durch die Fach­ge­rich­te un­ter­liegt ei­ner stren­ge­ren ver­fas­sungs­ge­richt­li­chen Kon­trol­le, als dies übli­cher­wei­se bei der An­wen­dung

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ein­fa­chen Rechts der Fall ist. Art. 103 Abs. 1 GG ist ver­letzt, wenn durch die feh­ler­haf­te An­wen­dung von Präklu­si­ons­vor­schrif­ten ei­ne ver­fas­sungs­recht­lich er­for­der­li­che Anhörung nicht statt­ge­fun­den hat. Der An­spruch auf recht­li­ches Gehör ist da­ge­gen ge­wahrt, wenn die be­trof­fe­ne Par­tei aus­rei­chend Ge­le­gen­heit hat­te, sich in den ihr wich­ti­gen Punk­ten zur Sa­che zu äußern, dies aber aus von ihr zu ver­tre­ten­den Gründen versäumt hat (BVerfG 5. Mai 1987 - 1 BvR 903/85 - BVerfGE 75, 302; 30. Ja­nu­ar 1985 - 1 BvR 876/84 - BVerfGE 69, 145, 149).


c) Vor die­sem ver­fas­sungs­recht­li­chen Hin­ter­grund hat die Recht­spre­chung des Bun­des­ge­richts­hofs und des Bun­des­ar­beits­ge­richts bei der An­wen­dung von Präklu­si­ons­vor­schrif­ten ver­langt, dass die ge­setz­li­chen Vor­aus­set­zun­gen „strikt“ ein­ge­hal­ten wer­den (BGH 12. Ja­nu­ar 1983 - IVa ZR 135/81 - BGHZ 86, 218). Für die Präklu­si­ons­vor­schrift des § 277 Abs. 2 ZPO stellt der Bun­des­ge­richts­hof ho­he An­for­de­run­gen an die von die­sen Vor­schrif­ten ver­lang­te ge­richt­li­che Be­leh­rung über die Fol­gen ei­ner Fristsäum­nis. Es müsse dem Be­klag­ten un­miss­verständ­lich klar ge­macht wer­den, wel­cher Nach­teil ihm bei Nicht­ein­hal­tung der Frist ent­ste­he. Die for­mu­larmäßige Mit­tei­lung des Ge­set­zes­wort­lauts rei­che da­bei nicht aus. Die Be­leh­rung müsse viel­mehr dem Be­klag­ten sinnfällig vor Au­gen führen und ihm völlig klar ma­chen, dass er sich ge­gen die Kla­ge nur in­ner­halb der ge­setz­ten Frist zur Kla­ger­wi­de­rung ver­tei­di­gen könne, dass ihm bei Versäum­ung der Frist im All­ge­mei­nen jeg­li­che Ver­tei­di­gung ab­ge­schnit­ten sei und er den Pro­zess vollständig ver­lie­ren wer­de (st. Rspr. seit BGH 12. Ja­nu­ar 1983 - IVa ZR 135/81 - BGHZ 86, 218, 224 f.). Dem hat sich das Bun­des­ar­beits­ge­richt für die Vor­schrift des § 56 Abs. 2 ArbGG an­ge­schlos­sen (BAG 19. Mai 1998 - 9 AZR 362/97 - EzA ArbGG 1979 § 56 Nr. 2).


d) Die­se An­for­de­run­gen an die Be­leh­rung über die Rechts­fol­gen ei­ner Versäum­ung ei­ner ge­setz­ten Frist können nicht auf die Hin­weis­pflicht des § 6 KSchG über­tra­gen wer­den. Zur Erfüllung die­ser Pflicht reicht an­ge­sichts des ein­deu­ti­gen Wort­lauts der ge­setz­li­chen Be­stim­mung viel­mehr ein Hin­weis auf den In­halt des § 6 Satz 1 KSchG aus. Im Un­ter­schied zu § 277 Abs. 2 ZPO und
 


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§ 56 Abs. 2 ArbGG sieht § 6 Satz 2 KSchG nur ei­ne Hin­weis-, nicht aber ei­ne Be­leh­rungs­pflicht vor. Auch bei strik­ter An­wen­dung der ge­setz­lich vor­ge­schrie­be­nen Vor­aus­set­zun­gen ist da­her ei­ne Be­leh­rung über die Fol­gen ei­ner ver­späte­ten Einführung von Un­wirk­sam­keits­gründen in den Kündi­gungs­schutz­pro­zess nicht er­for­der­lich, um den ver­fas­sungs­recht­li­chen An­for­de­run­gen des Art. 103 Abs. 1 GG zu genügen. Der Ge­setz­ge­ber hat im Rah­men des § 6 KSchG aus­drück­lich ei­nen „Hin­weis“ als aus­rei­chend an­ge­se­hen und kei­ne Be­leh­rung ver­langt (BT-Drucks. 15/1204 S. 13). Oh­ne­hin ist je­den­falls bei ei­ner an­walt­lich ver­tre­te­nen Par­tei ei­ne Be­leh­rung über die Fol­gen ei­ner Frist­versäum­nis ver­fas­sungs­recht­lich nicht ge­bo­ten (BVerfG 5. Mai 1987 - 1 BvR 903/85 - BVerfGE 75, 302).


e) Je­den­falls ei­nen we­der an­walt­lich noch ge­werk­schaft­lich ver­tre­te­nen Ar­beit­neh­mer muss das Ar­beits­ge­richt auf den Re­ge­lungs­ge­halt des § 6 Satz 1 KSchG hin­wei­sen, ob­wohl § 6 Satz 2 KSchG nur ei­ne Soll­vor­schrift ist (vgl. BAG 8. No­vem­ber 2007 - 2 AZR 314/06 - Rn. 21, BA­GE 124, 367). Un­abhängig da­von, ob sol­che „pro­zes­sua­len Soll­vor­schrif­ten“ von den Ge­rich­ten grundsätz­lich zu be­fol­gen sind (in die­sem Sin­ne Ba­der/Bram/Krie­bel Stand Ok­to­ber 2010 § 6 KSchG Rn. 48), ist der zwin­gen­de Hin­weis auf den In­halt des § 6 Satz 1 KSchG in die­sem Fall ver­fas­sungs­recht­lich ge­bo­ten. Das Ver­fah­rens­recht dient der Her­beiführung ge­setzmäßiger und un­ter die­sem Blick­punkt rich­ti­ger, aber auch ge­rech­ter Ent­schei­dun­gen. Sind dem Rich­ter im In­ter­es­se ei­ner an­ge­mes­se­nen Ver­fah­rens­ge­stal­tung Er­mes­sens­be­fug­nis­se ein­geräumt, hat er die­se Be­fug­nis­se so aus­zu­le­gen und an­zu­wen­den, dass es nicht zu ei­ner Verkürzung des grund­recht­lich ge­si­cher­ten An­spruchs auf ei­nen ef­fek­ti­ven Rechts­schutz kommt (BVerfG 27. Sep­tem­ber 1978 - 1 BvR 361/78 - BVerfGE 49, 220, 225).

4. Der Ar­beit­neh­mer hat auch bei die­ser Aus­le­gung des § 6 Satz 2 KSchG in ei­ner mit Art. 103 Abs. 1 GG zu ver­ein­ba­ren­den Wei­se Ge­le­gen­heit, sich in den ihm wich­ti­gen Punk­ten im ar­beits­ge­richt­li­chen Ver­fah­ren zur Sa­che zu äußern und sein Rechts­schutz­be­geh­ren zu ver­fol­gen. § 6 Satz 2 KSchG kann in­so­weit nicht iso­liert be­trach­tet wer­den. Zu berück­sich­ti­gen ist auch die Ge-

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samt­heit der pro­zes­sua­len Pflich­ten des Ar­beits­ge­richts, in die die­se Be­stim­mung ein­ge­bet­tet ist. In der Ge­samt­schau mit den ne­ben der Hin­weis­pflicht des § 6 Satz 2 KSchG be­ste­hen­den Hin­weis- und Fra­ge­pflich­ten des Ar­beits­ge­richts gemäß § 139 ZPO und dem von den Ge­rich­ten zu be­ach­ten­den Grund­satz „iura no­vit cu­ria“ genügt § 6 Satz 1 KSchG den ver­fas­sungs­recht­li­chen An­for­de­run­gen an ei­ne Präklu­si­on.


a) Hin­wei­se des Ar­beits­ge­richts auf kon­kre­te Un­wirk­sam­keits­gründe sind, wie aus­geführt, un­ter dem Ge­sichts­punkt des § 6 Satz 2 KSchG nicht ge­bo­ten. Das gilt auch dann, wenn im wei­te­ren Ver­lauf des erst­in­stanz­li­chen Ver­fah­rens deut­lich wird, dass Un­wirk­sam­keits­gründe in Be­tracht kom­men, auf die sich der Ar­beit­neh­mer bis­her nicht be­ru­fen hat. Die Pflicht zu der­ar­ti­gen Hin­wei­sen kann sich al­ler­dings aus der in § 139 ZPO ge­re­gel­ten ma­te­ri­el­len Pro­zess­lei­tungs­pflicht des Ge­richts er­ge­ben, et­wa wenn nicht hin­rei­chend deut­lich wird, ob ei­ne Par­tei sich mit ih­rem Vor­brin­gen auf ei­nen be­stimm­ten Un­wirk­sam­keits­grund be­ru­fen will. Aus § 139 Abs. 2 ZPO er­gibt sich die Pflicht zum Führen ei­nes Rechts­gesprächs. Dar­in muss das Ge­richt un­ter an­de­rem dann auf ei­nen Ge­sichts­punkt hin­wei­sen und Ge­le­gen­heit zur Stel­lung­nah­me ge­ben, wenn ei­ne Par­tei die­sen Ge­sichts­punkt er­kenn­bar über­se­hen hat (BAG 24. Ja­nu­ar 2007 - 4 AZR 28/06 - Rn. 37, ZTR 2007, 502).

b) Darüber hin­aus hat das Ge­richt Un­wirk­sam­keits­gründe, de­ren Vor­lie­gen sich aus dem Vor­trag ei­ner der Par­tei­en er­gibt, von Amts we­gen zu berück­sich­ti­gen. Nach all­ge­mei­nen zi­vil­pro­zes­sua­len Re­geln ist ein Kla­ge­an­trag - un­ter Be­ach­tung des Streit­ge­gen­stands - un­ter al­len auf­grund des Sach­vor­trags der Par­tei­en in Be­tracht kom­men­den recht­li­chen Gründen zu prüfen (iura no­vit cu­ria). Auch un­ter Gel­tung der Dis­po­si­ti­ons­ma­xi­me, wie sie im ar­beits­ge­richt­li­chen Ver­fah­ren gilt, ist es nicht in das Be­lie­ben des Klägers ge­stellt, auf wel­che ma­te­ri­ell-recht­li­chen Vor­schrif­ten er sein Be­geh­ren stützen will. Er be­stimmt mit sei­nem An­trag viel­mehr le­dig­lich den Streit­ge­gen­stand, die recht­li­che Sub­sum­ti­on ist Auf­ga­be des Ge­richts (vgl. BSG 20. Ok­to­ber 2010 - B 13 R 63/10 B - Rn. 22, SozR 4-1500 § 153 Nr. 11 für das so­zi­al­ge­richt­li­che Ver­fah­ren). Seit dem 1. Ja­nu­ar 2004 ist, wie aus­geführt, Streit­ge­gen­stand der nach

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§ 4 KSchG er­ho­be­nen Kla­ge die (Un-)Wirk­sam­keit der Kündi­gung als sol­che un­ter al­len in Be­tracht kom­men­den recht­li­chen Ge­sichts­punk­ten mit Aus­nah­me der Wah­rung der Schrift­form. Wenn sich dem­nach aus dem Sach­vor­trag der Par­tei­en - auch des Ar­beit­ge­bers als Be­klag­tem - er­gibt, dass die Kündi­gung un­ter ei­nem bis­her von kei­ner Par­tei aus­drück­lich an­geführ­ten recht­li­chen, vom Streit­ge­gen­stand der Kündi­gungs­schutz­kla­ge er­fass­ten Ge­sichts­punkt un­wirk­sam ist, muss sich der Ar­beit­neh­mer nicht aus­drück­lich dar­auf be­ru­fen, um im Rechts­streit un­ter die­sem recht­li­chen Ge­sichts­punkt zu ob­sie­gen (vgl. Ey­lert NZA 2012, 9, 10; Bay­reu­ther ZfA 2005, 391, 392; Ben­der/Schmidt NZA 2004, 358, 365; Ba­der NZA 2004, 65, 69). Le­dig­lich un­ter dem Ge­sichts­punkt der Wah­rung des recht­li­chen Gehörs des Geg­ners kann vor ei­ner ent­spre­chen­den Ent­schei­dung ein Hin­weis des Ge­richts nach § 139 ZPO auf sei­ne Rechts­auf­fas­sung ge­bo­ten sein.

5. Der Kläge­rin war die Rüge ei­ner feh­ler­haf­ten Anhörung des Be­triebs­rats nach § 102 Be­trVG in der Be­ru­fungs­in­stanz ab­ge­schnit­ten. Das Ar­beits­ge­richt hat, wie aus­geführt, sei­ner Hin­weis­pflicht nach § 6 Satz 2 KSchG genügt. Mit dem Hin­weis, dass „nur“ bis zum Schluss der münd­li­chen Ver­hand­lung wei­te­re Un­wirk­sam­keits­gründe gel­tend ge­macht wer­den könn­ten, ist es über die Hin­weis­pflicht so­gar hin­aus­ge­gan­gen. Die Kläge­rin hat im Be­ru­fungs­ver­fah­ren auch nicht gel­tend ge­macht, das erst­in­stanz­li­che Ur­teil sei ver­fah­rens­feh­ler­haft zu­stan­de ge­kom­men, weil das Ar­beits­ge­richt die ihm nach § 139 ZPO ob­lie­gen­de Hin­weis­pflicht ver­letzt ha­be (zu den An­for­de­run­gen an die Dar­le­gung ei­nes sol­chen Ver­fah­rens­ver­s­toßes im Be­ru­fungs­ver­fah­ren BAG 17. Ja­nu­ar 2007 - 7 AZR 20/06 - BA­GE 121, 18). Da­her kann da­hin­ste­hen, ob das Ar­beits­ge­richt An­lass zu ei­nem sol­chen Hin­weis ge­habt hätte.

III. Auch die von der Kläge­rin im Zu­sam­men­hang mit der Er­stat­tung der Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge durch den Be­klag­ten er­ho­be­nen Rügen ver­hel­fen der Kla­ge nicht zum Er­folg.
 


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1. Der Se­nat hat bis­her of­fen­ge­las­sen, ob Rechts­fol­ge ei­nes Ver­s­toßes ge­gen die den Ar­beit­ge­ber aus § 17 KSchG tref­fen­den Pflich­ten die Un­wirk­sam­keit der Kündi­gung ist oder ob es dem Ar­beit­ge­ber le­dig­lich ver­wehrt ist, die Kündi­gung zu voll­zie­hen (zu­letzt ausführ­lich mit Nach­wei­sen zum Streit­stand 7. Ju­li 2011 - 6 AZR 248/10 - Rn. 19, EzA Be­trVG 2001 § 26 Nr. 3; dif­fe­ren­zie­rend je nach kon­kre­tem Feh­ler des Ar­beit­ge­bers bei der Mas­sen­ent­las­sungs-an­zei­ge Schramm/Kuhn­ke NZA 2011, 1071, 1074). Folg­te man dem zwei­ten An­satz, wäre § 6 KSchG auf die Rüge des § 17 KSchG nicht an­zu­wen­den (in die­sem Sin­ne Ben­der/Schmidt NZA 2004, 358, 363). Das Lan­des­ar­beits­ge­richt hat im Rah­men sei­ner Hilfs­be­gründung oh­ne Rechts­feh­ler an­ge­nom­men, dass der Be­klag­te die Pflich­ten aus § 17 KSchG, die auch für den In­sol­venz­ver­wal­ter gel­ten (BAG 7. Ju­li 2011 - 6 AZR 248/10 - aaO; vgl. auch EuGH 3. März 2011 - C-235/10 ua. - Rn. 55, NZA 2011, 337), je­den­falls nicht ver­letzt hat. Die Rechts­fol­ge ei­ner Ver­let­zung der Pflich­ten aus § 17 KSchG kann des­halb wei­ter of­fen­blei­ben.


2. Oh­ne Er­folg rügt die Kläge­rin, der Be­klag­te ha­be ge­gen sei­ne Kon­sul­ta­ti­ons­pflicht aus § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG ver­s­toßen. Nach die­ser Vor­schrift hat der Ar­beit­ge­ber bei an­zei­ge­pflich­ti­gen Ent­las­sun­gen dem Be­triebs­rat recht­zei­tig die zweck­dien­li­chen Auskünf­te zu er­tei­len und ihn schrift­lich ins­be­son­de­re über die in die­ser Vor­schrift ge­nann­ten Umstände zu un­ter­rich­ten.

a) Der Ar­beit­neh­mer ist dar­le­gungs- und ge­ge­be­nen­falls be­weis­pflich­tig für die tatsächli­chen Vor­aus­set­zun­gen der An­zei­ge­pflicht nach § 17 KSchG (st. Rspr. zu­letzt BAG 24. Fe­bru­ar 2005 - 2 AZR 207/04 - AP KSchG 1969 § 17 Nr. 20 = EzA KSchG § 17 Nr. 14). Steht die An­zei­ge­pflicht fest, hat der Ar­beit­ge­ber auf die kon­kre­te Rüge des Ar­beit­neh­mers die ord­nungs­gemäße Durchführung des Ver­fah­rens dar­zu­le­gen und zu be­wei­sen (ErfK/Kiel 12. Aufl. § 17 KSchG Rn. 40; Zwan­zi­ger Kom­men­tar zum Ar­beits­recht der In­sol­venz­ord­nung 4. Aufl. § 125 Rn. 115).

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b) Verstöße ge­gen den gemäß § 17 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis Nr. 6 KSchG er­for­der­li­chen In­halt der Un­ter­rich­tung hat die Kläge­rin nicht hin­rei­chend gerügt.

aa) In § 8 des In­ter­es­sen­aus­gleichs hat der Be­triebs­rat erklärt, recht­zei­tig und um­fas­send über die an­zei­ge­pflich­ti­gen Ent­las­sun­gen un­ter­rich­tet wor­den zu sein. Das al­lein genügte zum Nach­weis der Erfüllung der Kon­sul­ta­ti­ons­pflicht nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG al­ler­dings noch nicht (aA un­ter Be­ru­fung auf BAG 7. Ju­li 2011 - 6 AZR 248/10 - EzA Be­trVG 2001 § 26 Nr. 3; Schramm/ Kuhn­ke NZA 2011, 1071, 1074, die je­doch über­se­hen, dass im dor­ti­gen Re­vi­si­ons­ver­fah­ren Feh­ler des Ar­beit­ge­bers im Kon­sul­ta­ti­ons­ver­fah­ren nicht Ge­gen­stand von Re­vi­si­ons­an­grif­fen wa­ren). Der In­ter­es­sen­aus­gleich und das Kon­sul­ta­ti­ons­ver­fah­ren be­zie­hen sich zwar auf die­sel­be mit­be­stim­mungs­pflich­ti­ge An­ge­le­gen­heit und sind eng mit­ein­an­der ver­wo­ben. Es han­delt sich je­doch nicht um ein ein­heit­li­ches Ver­fah­ren. Auch bei Vor­lie­gen ei­nes In­ter­es­sen­aus­gleichs iSd. § 1 Abs. 5 Satz 1 KSchG ist der Ar­beit­ge­ber des­halb nicht von der Kon­sul­ta­ti­ons­pflicht des § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG ent­bun­den, die Un­ter­rich­tung des Be­triebs­rat un­ter­liegt kei­nen er­leich­ter­ten An­for­de­run­gen. In­so­weit gilt nichts an­de­res als für die Anhörung des Be­triebs­rats nach § 102 Be­trVG im Rah­men ei­nes In­ter­es­sen­aus­gleichs­ver­fah­rens (vgl. da­zu BAG 22. Ja­nu­ar 2004 - 2 AZR 111/02 - Rn. 71, AP Be­trVG 1972 § 112 Na­mens­lis­te Nr. 1 = EzA KSchG § 1 In­ter­es­sen­aus­gleich Nr. 11).


So­weit al­ler­dings die ge­genüber dem Be­triebs­rat be­ste­hen­den Pflich­ten aus § 111 Be­trVG mit de­nen aus § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG und § 102 Abs. 1 Be­trVG übe­rein­stim­men, kann der Ar­beit­ge­ber sie gleich­zei­tig erfüllen (KR/Wei­gand 9. Aufl. § 17 KSchG Rn. 70). Dass und wel­che Ver­fah­ren gleich-zei­tig durch­geführt wer­den sol­len, muss da­bei hin­rei­chend klar­ge­stellt wer­den (KR/Wei­gand aaO; Schaub/Linck ArbR-Hdb. 14. Aufl. § 142 Rn. 25; Schramm/ Kuhn­ke NZA 2011, 1071, 1073).
 


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bb) Die Re­vi­si­on rügt, dem Be­triebs­rat sei ent­ge­gen § 17 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 KSchG nicht mit­ge­teilt wor­den, wel­che Be­rufs­grup­pen von der Maßnah­me er­fasst sei­en.

(1) Es er­scheint be­reits zwei­fel­haft, ob ei­ne sol­che feh­ler­haf­te Un­ter­rich­tung in Fällen wie dem vor­lie­gen­den, bei de­nen oh­ne­hin al­le Ar­beit­neh­mer ent­las­sen wer­den sol­len, für den Ar­beit­ge­ber nach­tei­li­ge Rechts­fol­gen nach sich zieht (ver­nei­nend Schramm/Kuhn­ke NZA 2011, 1071, 1074; vgl. auch ErfK/Kiel 12. Aufl. § 17 KSchG Rn. 36). Die Un­ter­rich­tungs­pflicht nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG soll es dem Be­triebs­rat ermögli­chen, „kon­struk­ti­ve Vor­schläge“ zu un­ter­brei­ten (KR/Wei­gand 9. Aufl. § 17 KSchG Rn. 56 un­ter Be­zug auf Art. 2 Abs. 3 Satz 1 der Richt­li­nie 98/59/EG des Ra­tes vom 20. Ju­li 1998 zur An­glei­chung der Rechts­vor­schrif­ten der Mit­glied­staa­ten über Mas­sen­ent­las­sun­gen - MERL). Un­ter­rich­tet der Ar­beit­ge­ber den Be­triebs­rat nicht über die Be­rufs­grup­pen der zu ent­las­sen­den Ar­beit­neh­mer, kann dies bei der Ent­las­sung al­ler Ar­beit­neh­mer kei­ne Fol­gen für die­se Prüfung durch den Be­triebs­rat ha­ben und sich der Feh­ler nicht zu Las­ten der be­trof­fe­nen Ar­beit­neh­mer aus­wir­ken.


(2) Die­se Fra­ge kann je­doch da­hin­ste­hen, denn erst auf ei­ne kon­kre­te Rüge der Kläge­rin in den Tat­sa­chen­in­stan­zen hin hätte der Be­klag­te dar­le­gen müssen, in­wie­weit er den Be­triebs­rat über die be­trof­fe­nen Be­rufs­grup­pen in­for­miert hat. Die Kläge­rin hat aber in den Tat­sa­chen­in­stan­zen nicht kon­kret gerügt, dass der Be­klag­te sei­ner Un­ter­rich­tungs­pflicht nach § 17 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 KSchG nicht nach­ge­kom­men sei, son­dern dies erst­mals in der Re­vi­si­ons­in­stanz gel­tend ge­macht. Dar­um kommt es auch nicht dar­auf an, ob der Be­klag­te, wie im Un­ter­rich­tungs­schrei­ben vom 25. Ju­ni 2009 an­ge­deu­tet, die Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge dem Be­triebs­rat hat zu­kom­men las­sen, aus der sich die be­trof­fe­nen Be­rufs­grup­pen er­ga­ben, und ob dies den An­for­de­run­gen des § 17 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 KSchG genügen würde.


c) So­weit die Re­vi­si­on die feh­len­de Schrift­form des In­ter­es­sen­aus­gleichs im Zu­sam­men­hang mit den Pflich­ten des Ar­beit­ge­bers aus § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG rügt, ver­hilft ihr auch dies nicht zum Er­folg.



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aa) Die Vor­la­ge des In­ter­es­sen­aus­gleichs mit Na­mens­lis­te er­setzt al­ler­dings nur die Stel­lung­nah­me des Be­triebs­rats ge­genüber der Agen­tur für Ar­beit. Er­for­der­lich ist da­ne­ben noch die schrift­li­che Un­ter­rich­tung des Be­triebs­rats nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG. Der In­ter­es­sen­aus­gleich macht die­se schrift­li­che Un­ter­rich­tung nicht ent­behr­lich (Linck in HK-In­sO 6. Aufl. § 125 Rn. 41; vgl. auch Schramm/Kuhn­ke NZA 2011, 1071, 1072).


bb) Die Kläge­rin stellt im Zu­sam­men­hang mit ih­rer Rüge der Nicht­ein­hal­tung der Schrift­form nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG nur auf die feh­len­de Schrift­form des In­ter­es­sen­aus­gleichs selbst ab. Auf die­sen kommt es im Zu­sam­men­hang mit § 17 Abs. 2 KSchG je­doch nicht an. Maßgeb­lich ist die Schrift­form der Un­ter­rich­tung selbst. In dem von ihm un­ter­zeich­ne­ten Un­ter­rich­tungs­schrei­ben vom 25. Ju­ni 2009 hat der Be­klag­te auf ei­ne Lis­te der zur Ent­las­sung vor­ge­se­he­nen Ar­beit­neh­mer und die „An­la­ge zur An­zei­ge von Ent­las­sun­gen“ ver­wie­sen. Bei­de Un­ter­la­gen sind aus­weis­lich des Schrei­bens die­sem bei­gefügt ge­we­sen, be­fin­den sich je­doch nicht in der Ak­te. Im Übri­gen hat der Be­klag­te im Un­ter­rich­tungs­schrei­ben auf den In­ter­es­sen­aus­gleich Be­zug ge­nom­men. Ob für die Un­ter­rich­tung nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG die ge­setz­li­che Schrift­form nach § 126 BGB ein­zu­hal­ten ist (so KR/Wei­gand 9. Aufl. § 17 KSchG Rn. 56; ErfK/Kiel 12. Aufl. § 17 KSchG Rn. 20, 28; APS/Moll 4. Aufl. § 17 KSchG Rn. 70; v. Ho­y­nin­gen-Hue­ne/Linck KSchG 14. Aufl. § 17 Rn. 56; Schra­der in Schwar­ze/Ey­lert/Schra­der KSchG § 17 Rn. 52; Stahl­ha­cke/Vos­sen 10. Aufl. Rn. 1653; Thüsing/Laux/Lembke/Lembke/Ober­win­ter KSchG 2. Aufl. § 17 Rn. 82 wol­len das Schrift­for­mer­for­der­nis „et­was wei­ter aus­le­gen“ und die Un­ter­rich­tung per Fax oder E-Mail aus­rei­chen las­sen), kann da­hin­ste­hen. Dar­um kann eben­falls of­fen­blei­ben, ob der Be­klag­te be­ja­hen­den­falls mit sei­ner Ver­fah­rens­wei­se nach der sog. „Auf­lo­cke­rungs­recht­spre­chung“ die er­for­der­li­che Ein­heit der Ur­kun­de ge­wahrt hat, weil die An­la­gen in der Hauptur­kun­de so ge­nau be­zeich­net wor­den wa­ren, dass ei­ne zwei­fels­freie Zu­ord­nung möglich war, so dass die Un­ter­zeich­nung der bei­gefügten An­la­gen selbst zur Wah­rung der ge­setz­li­chen Schrift­form nicht er­for­der­lich war (vgl. BGH 29. Sep­tem­ber 2004 - VIII ZR 341/03 - zu II 2 a der Gründe, ZMR 2004, 901; grund­le­gend BGH 30. Ju­ni 1999 - XII ZR 55/97 - BGHZ 142, 158, 161).
 


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Da­zu wäre ein Ab­gleich mit den im Un­ter­rich­tungs­schrei­ben in Be­zug ge­nom­me­nen, nicht in der Ak­te be­find­li­chen An­la­gen er­for­der­lich ge­we­sen. In­so­weit fehlt es je­doch an Re­vi­si­ons­an­grif­fen der Kläge­rin. Dar­um kommt es auch nicht dar­auf an, wel­che Rechts­fol­ge ein Ver­s­toß ge­gen die Schrift­form der Un­ter­rich­tung hätte, wenn der Be­triebs­rat wie hier ei­ne Stel­lung­nah­me ab­ge­ge­ben hat (für ei­ne Unschädlich­keit des Form­ver­s­toßes KR/Wei­gand aaO Rn. 65 mwN).

3. Ent­ge­gen der An­sicht der Re­vi­si­on hat der der An­zei­ge bei­gefügte In­ter­es­sen­aus­gleich mit Na­mens­lis­te vom 24. Ju­ni 2009 gemäß § 125 Abs. 2 In­sO die nach § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG er­for­der­li­che Stel­lung­nah­me des Be­triebs­rats er­setzt, ob­wohl zum da­ma­li­gen Zeit­punkt das Ori­gi­nal des In­ter­es­sen­aus­gleichs nur vom Be­triebs­rat un­ter­zeich­net war und da­mit nicht dem Schrift­for­mer­for­der­nis des § 112 Abs. 1 Be­trVG genügte.


a) Be­reits der Wort­laut des § 125 Abs. 2 In­sO iVm. § 125 Abs. 1 In­sO spricht dafür, dass der In­ter­es­sen­aus­gleich mit Na­mens­lis­te be­reits dann die Stel­lung­nah­me des Be­triebs­rats nach § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG er­setzt, wenn er le­dig­lich vom Be­triebs­rat un­ter­zeich­net, aber noch nicht form­wirk­sam iSv. § 112 Abs. 1 Satz 1 Be­trVG iVm. §§ 125, 126 BGB ge­schlos­sen wor­den ist. § 125 Abs. 2 In­sO stellt mit dem Ver­weis auf Abs. 1 die­ser Be­stim­mung klar, dass die Er­set­zungs­wir­kung be­reits dann ein­tritt, wenn der In­ter­es­sen­aus­gleich „zu­stan­de“ ge­kom­men ist. § 112 Abs. 1 Satz 1 Be­trVG, der den In­ter­es­sen­aus­gleich re­gelt, un­ter­schei­det zwi­schen des­sen Zu­stan­de­kom­men („Kommt zwi­schen Un­ter­neh­mer und Be­triebs­rat ein In­ter­es­sen­aus­gleich über die ge­plan­te Be­triebsände­rung zu­stan­de“) - al­so der Ei­ni­gung zwi­schen den Be­triebs­par­tei­en - und des­sen form­ge­rech­ter Nie­der­le­gung („so ist die­ser schrift­lich nie­der­zu­le­gen und vom Un­ter­neh­mer und Be­triebs­rat zu un­ter­schrei­ben“). Da­nach ist ein In­ter­es­sen­aus­gleich mit Na­mens­lis­te be­reits zu­stan­de ge­kom­men, wenn er nicht in der ge­setz­li­chen Schrift­form nie­der­ge­legt wor­den ist. Er ist le­dig­lich (noch) nicht wirk­sam (vgl. BAG 9. Ju­li 1985 - 1 AZR 323/83 - BA­GE 49, 160, 166 f.).

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b) Auch nach Sinn und Zweck des § 125 Abs. 2 In­sO iVm. § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG reicht es aus, wenn le­dig­lich der Be­triebs­rat mit der Un­ter­schrift un­ter den In­ter­es­sen­aus­gleich mit Na­mens­lis­te do­ku­men­tiert hat, dass das Kon­sul­ta­ti­ons­ver­fah­ren ab­ge­schlos­sen ist (vgl. ErfK/Kiel 12. Aufl. § 17 KSchG Rn. 32).

aa) § 125 Abs. 2 In­sO soll dem In­sol­venz­ver­wal­ter Mas­sen­ent­las­sun­gen er­leich­tern. Die Vor­schrift dient der Be­schleu­ni­gung des Ver­fah­rens bei Mas­sen­ent­las­sun­gen und lässt es des­halb aus­rei­chen, dass der In­sol­venz­ver­wal­ter sei­ner schrift­li­chen An­zei­ge der Mas­sen­ent­las­sung ei­ne Aus­fer­ti­gung des In­ter­es­sen­aus­gleichs mit Na­mens­lis­te beifügt. Die Norm be­zweckt da­mit möglichst schnel­le Sa­nie­run­gen und will Verzöge­run­gen bei der Ab­wick­lung der Rechts­verhält­nis­se des Schuld­ners ver­mei­den (BAG 7. Ju­li 2011 - 6 AZR 248/10 - Rn. 22, EzA Ber­trVG 2001 § 26 Nr. 3). Mit die­sen Zie­len der Ver­ein­fa­chung und Be­schleu­ni­gung stünde es - ins­be­son­de­re bei großen räum­li­chen Ent­fer­nun­gen zwi­schen dem Be­triebs­sitz und dem Sitz des In­sol­venz­ver­wal­ters wie im vor­lie­gen­den Fall - nicht im Ein­klang, die Er­set­zungs­wir­kung erst dann ein­grei­fen zu las­sen, wenn der In­ter­es­sen­aus­gleich mit Na­mens­lis­te nicht nur zu­stan­de ge­kom­men ist, son­dern auch der Schrift­form des § 112 Abs. 1 Satz 1 Be­trVG genügt.

bb) Sinn und Zweck der An­zei­ge­pflicht nach § 17 Abs. 3 KSchG ste­hen dem nicht ent­ge­gen. § 17 KSchG dient dem Schutz der Ar­beit­neh­mer vor den Fol­gen von Mas­sen­ent­las­sun­gen. Die Agen­tur für Ar­beit soll die Möglich­keit ha­ben, recht­zei­tig Maßnah­men zur Ver­mei­dung oder we­nigs­tens zur Verzöge­rung von Be­las­tun­gen des Ar­beits­mark­tes ein­zu­lei­ten und für an­der­wei­ti­ge Beschäfti­gun­gen der Ent­las­se­nen zu sor­gen (BAG 7. Ju­li 2011 - 6 AZR 248/10 - Rn. 27, EzA Be­trVG 2001 § 26 Nr. 3). Die von § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG ver­lang­te Beifügung der Stel­lung­nah­me des Be­triebs­rats soll ge­genüber der Agen­tur für Ar­beit be­le­gen, ob und wel­che Möglich­kei­ten die­ser sieht, die an­ge­zeig­ten Kündi­gun­gen zu ver­mei­den. Die­sem Zweck ist be­reits dann genügt, wenn der An­zei­ge ein al­lein vom Be­triebs­rat un­ter­zeich­ne­ter In­ter­es­sen­aus­gleich mit Na­mens­lis­te bei­gefügt ist. Mit der Un­ter­schrift durch ein vert­re-
 


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tungs­be­rech­tig­tes Mit­glied un­ter ei­nen sol­chen In­ter­es­sen­aus­gleich hat der Be­triebs­rat sei­ne Mei­nung zu der an­ste­hen­den Mas­sen­ent­las­sung ab­sch­ließend do­ku­men­tiert und zum Aus­druck ge­bracht, dass er das Kon­sul­ta­ti­ons­ver­fah­ren als ab­ge­schlos­sen an­sieht. Er hat da­mit zu­gleich be­legt, dass Kündi­gun­gen im aus dem In­ter­es­sen­aus­gleich er­sicht­li­chen Um­fang auch nach sei­ner Auf­fas­sung un­ver­meid­lich sind so­wie so­zia­le Maßnah­men be­ra­ten und ggf. ge­trof­fen wor­den sind (zu die­sen Zwe­cken des § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG vgl. KR/Wei­gand 9. Aufl. § 17 KSchG Rn. 8; ErfK/Kiel 12. Aufl. § 17 KSchG Rn. 32). An die­se Wil­lensäußerung ist er ge­bun­den (zur herr­schen­den Ver­trags­theo­rie und der An­wend­bar­keit rechts­geschäft­li­chen Ver­trags­rechts BAG 13. Fe­bru­ar 2007 - 1 AZR 184/06 - Rn. 37, BA­GE 121, 168; 18. Fe­bru­ar 2003 - 1 ABR 17/02 - BA­GE 105, 19, 27; Fit­ting 25. Aufl. § 77 Rn. 13; Kreutz GK-Be­trVG 9. Aufl. § 77 Rn. 36).


cc) Die ge­bo­te­ne richt­li­ni­en­kon­for­me Aus­le­gung des § 125 Abs. 2 In­sO und des § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG an­hand des Wort­lauts und des Zwecks der MERL gibt kein an­de­res Er­geb­nis vor.


(1) Die MERL enthält selbst kei­ne Re­ge­lung, wo­nach der An­zei­ge der Mas­sen­ent­las­sung ei­ne Stel­lung­nah­me der Ar­beit­neh­mer­ver­tre­tung in ei­ner be­stimm­ten Form bei­gefügt wer­den muss. Aus Art. 3 Abs. 1 Satz 3 MERL er­gibt sich le­dig­lich, dass die An­zei­ge der Mas­sen­ent­las­sung al­le zweck­dien­li­chen An­ga­ben über die be­ab­sich­tig­te Mas­sen­ent­las­sung und die Kon­sul­ta­ti­on der Ar­beit­neh­mer­ver­tre­ter gemäß Art. 2 MERL ent­hal­ten muss.


(2) Der Se­nat ist nicht ge­hal­ten, dem Ge­richts­hof der Eu­ropäischen Uni­on gemäß Art. 267 des Ver­trags über die Ar­beits­wei­se der Eu­ropäischen Uni­on (AEUV) die Fra­ge vor­zu­le­gen, ob die der An­zei­ge der Mas­sen­ent­las­sung bei­zufügen­de Stel­lung­nah­me der Ar­beit­neh­mer­ver­tre­tung der Schrift­form des § 112 Abs. 1 Satz 1 Be­trVG genügen muss, wenn die Stel­lung­nah­me in Ge­stalt ei­nes In­ter­es­sen­aus­gleichs mit Na­mens­lis­te er­folgt. Die­se Fra­ge be­darf kei­ner Be­ant­wor­tung durch den Ge­richts­hof der Eu­ropäischen Uni­on am Maßstab des Ge­mein­schafts­rechts (zur Vor­la­ge­pflicht vgl. BVerfG 25. Fe­bru­ar 2010 - 1 BvR 230/09 - AP GG Art. 101 Nr. 65 = EzA KSchG § 17 Nr. 21). Sie be­trifft nicht die
 


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Aus­le­gung von Uni­ons­recht, son­dern aus­sch­ließlich die An­wen­dung na­tio­na­len Rechts. Ein Ver­s­toß ge­gen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG auf­grund ei­ner un­ter­blie­be­nen Vor­la­ge an den Ge­richts­hof der Eu­ropäischen Uni­on liegt nicht vor, wenn die uni­ons­recht­li­che Rechts­la­ge klar ist und nur die Rechts­la­ge nach na­tio­na­lem Recht un­geklärt und um­strit­ten ist (BVerfG 25. Fe­bru­ar 2010 - 1 BvR 230/09 - aaO).


(3) Aus der von der Re­vi­si­on an­geführ­ten Ent­schei­dung des Ge­richts­hofs der Eu­ropäischen Ge­mein­schaf­ten vom 10. Sep­tem­ber 2009 (- C-44/08 - [Aka­van Eri­ty­isa­lo­jen Kes­kus­liit­to] Rn. 70, Slg. 2009, I-8163) folgt nichts an­de­res. Zwar können da­nach Kündi­gun­gen erst nach Ab­schluss des Kon­sul­ta­ti­ons­ver­fah­rens erklärt wer­den, und die Kläge­rin nimmt an, das Kon­sul­ta­ti­ons­ver­fah­ren könne erst dann als ab­ge­schlos­sen gel­ten, wenn der In­ter­es­sen­aus­gleich in der er­for­der­li­chen Schrift­form vor­lie­ge, weil die­ser nach dem Vor­trag des Be­klag­ten den Ab­schluss des Kon­sul­ta­ti­ons­ver­fah­rens ha­be do­ku­men­tie­ren sol­len. Das trifft je­doch nicht zu. Be­reits mit der Un­ter­schrift durch ein ver­tre­tungs­be­rech­tig­tes Mit­glied un­ter den In­ter­es­sen­aus­gleich mit Na­mens­lis­te, an die der Be­triebs­rat, wie aus­geführt, ge­bun­den war, hat­te der Be­triebs­rat do­ku­men­tiert, dass aus sei­ner Sicht das Kon­sul­ta­ti­ons­ver­fah­ren ab­ge­schlos­sen war.

(4) Der aus der Ent­schei­dung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts (25. Fe­bru­ar 2010 - 1 BvR 230/09 - AP GG Art. 101 Nr. 65 = EzA KSchG § 17 Nr. 21) von der Re­vi­si­on ge­zo­ge­ne Schluss, wenn be­reits das Nach­rei­chen ei­ner Stel­lung­nah­me des Be­triebs­rats bei der Agen­tur für Ar­beit ge­gen die MERL ver­s­toßen könne, führe den­klo­gisch die feh­len­de Ein­rei­chung ei­ner Stel­lung­nah­me des Be­triebs­rats iSv. § 17 Abs. 3 Satz 2 und Satz 3 KSchG zu ei­ner nicht ord­nungs­gemäßen Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge, verfängt nicht. Wie aus­geführt, ist der nur vom Be­triebs­rat un­ter­zeich­ne­te In­ter­es­sen­aus­gleich mit Na­mens­lis­te als Stel­lung­nah­me iSv. Art. 3 Abs. 1 Satz 3 MERL an­zu­se­hen.


4. Der Um­stand, dass im An­schrei­ben an die Agen­tur für Ar­beit auf­grund ei­nes Kanz­lei­ver­se­hens auf ei­nen In­ter­es­sen­aus­gleich vom 2. Ju­ni 2009 Be­zug ge­nom­men wor­den ist, führt eben­falls nicht zur Un­wirk­sam­keit der An­zei­ge. Es han­delt sich um ein of­fen­sicht­li­ches Büro­ver­se­hen, das kei­nen Ein­fluss auf die

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Prüfung der Agen­tur für Ar­beit ha­ben konn­te. Der maßgeb­li­che In­ter­es­sen­aus­gleich vom 24. Ju­ni 2009 war der An­zei­ge an die Agen­tur für Ar­beit bei­gefügt, so dass das Ver­se­hen of­fen­kun­dig war.


IV. Die Kläge­rin hat gemäß § 97 ZPO die Kos­ten der Re­vi­si­on zu tra­gen. 


Fi­scher­mei­er 

Brühler 

Spel­ge

Oye 

Uwe Za­bel

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