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Hes­si­sches LAG, Ur­teil vom 25.01.2010, 16 Sa 389/09

   
Schlagworte: Kündigung: Krankheitsbedingt
   
Gericht: Hessisches Landesarbeitsgericht
Aktenzeichen: 16 Sa 389/09
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 25.01.2010
   
Leitsätze:
Vorinstanzen: Arbeitsgericht Darmstadt, Urteil vom 15.01.2009, 12 Ca 246/08
   


Hes­si­sches Lan­des­ar­beits­ge­richt


Ak­ten­zei­chen: 16 Sa 389/09

(Ar­beits­ge­richt Darm­stadt: 12 Ca 246/08)

Verkündet am:

25. Ja­nu­ar 2010

gez.
Ur­kunds­be­am­tin der Geschäfts­stel­le

 

Im Na­men des Vol­kes

Ur­teil

In dem Rechts­streit


 

Be­klag­te und

Be­ru­fungskläge­rin

Pro­zess­be­vollmäch­tigt.:


ge­gen

Kläger und

Be­ru­fungs­be­klag­ter

Pro­zess­be­vollmäch­tigt.:

hat das Hes­si­sche Lan­des­ar­beits­ge­richt, Kam­mer 16,

auf die münd­li­che Ver­hand­lung vom 25. Ja­nu­ar 2010
durch den Vor­sit­zen­den Rich­ter am Lan­des­ar­beits­ge­richt als Vor­sit­zen­den
und den eh­ren­amt­li­chen Rich­ter
und den eh­ren­amt­li­chen Rich­ter
als Bei­sit­zer
für Recht er­kannt:


Die Be­ru­fung der Be­klag­ten ge­gen das Ur­teil des Ar­beits­ge­richts Darm­stadt vom 15.01.2009 – 12 Ca 246/088 – wird kos­ten­pflich­tig zurück­ge­wie­sen.

Die Re­vi­si­on wird nicht zu­ge­las­sen.

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Die Par­tei­en strei­ten über die Wirk­sam­keit ei­ner außer­or­dent­li­chen Kündi­gung mit so­zia­ler Aus­lauf­frist, die Ver­pflich­tung der Be­klag­ten zur Wei­ter­beschäfti­gung so­wie über An­nah­me­ver­zugs­lohn­ansprüche.

Die Be­klag­te ist ein Au­to­mo­bil­her­stel­ler und beschäftigt re­gelmäßig (weit­aus) mehr als 20 Ar­beit­neh­mer. Der am 17. Mai 1951 ge­bo­re­ne Kläger ist bei der Be­klag­ten seit 5. Sep­tem­ber 1977, zu­letzt als Mon­ta­ge­ar­bei­ter, beschäftigt. Die Höhe der vom Kläger in der Zeit vom 1. Ju­ni 2007 bis 31. Mai 2009 be­zo­ge­nen Vergütung er­gibt sich aus den von der Be­klag­ten er­stell­ten Ar­beits­be­schei­ni­gun­gen (Blatt 182 bis 185 der Ak­ten). Das Ar­beits­verhält­nis des Klägers wird ab 1. Ju­li 2009 als Al­ters­teil­zeit­ar­beits­verhält­nis bis 31. Mai 2011 fort­geführt. Auf das Ar­beits­verhält­nis der Par­tei­en fin­det der Man­tel­ta­rif­ver­trag für Ar­bei­ter und An­ge­stell­te der Me­tall- und Elek­tro­in­dus­trie für das Land Hes­sen An­wen­dung. Des­sen § 23 Nr. 4 lau­tet: In Be­trie­ben mit in der Re­gel min­des­tens 20 wahl­be­rech­tig­ten Beschäftig­ten kann ei­nem Beschäftig­ten, der das fünf­undfünf­zigs­te, aber noch nicht das fünf­und­sech­zigs­te Le­bens­jahr voll­endet und des­sen Ar­beits­verhält­nis in dem Un­ter­neh­men zu die­sem Zeit­punkt min­des­tens 10 Jah­re un­un­ter­bro­chen be­stan­den hat, das Ar­beits­verhält­nis nur noch aus wich­ti­gem Grund gekündigt wer­den.

Mit Be­scheid vom 26. Fe­bru­ar 2008 (Blatt 10,11 der Ak­ten) stell­te das hes­si­sche Amt für Ver­sor­gung und So­zia­les Darm­stadt bei dem Kläger ei­nen Grad der Be­hin­de­rung von 30 fest. Hier­ge­gen leg­te der Kläger Wi­der­spruch und so­dann Kla­ge vor dem So­zi­al­ge­richt Darm­stadt (Ak­ten­zei­chen S 8 SB 365/08) ein. Mit Wir­kung vom 9. März 2009 stell­te die Bun­des­agen­tur für Ar­beit den Kläger mit Be­scheid vom 28. Mai 2009 (Blatt 331 der Ak­ten) ei­nem Schwer­be­hin­der­ten gleich.

Der Kläger wur­de in der Mo­to­ren­end­aufrüstung ein­ge­setzt. In der Zeit vom 28. Au­gust 2007 bis 23. Sep­tem­ber 2007 und vom 28. Sep­tem­ber 2007 bis 9. No­vem­ber 2007 war der Kläger ar­beits­unfähig krank. Bis 11. De­zem­ber 2007 wur­de der Kläger mit leich­ten Rei­ni­gungs- und Kehrtätig­kei­ten be­traut. Ei­ne Ar­beits­platz­be­ge­hung am 11. De­zem­ber 2007 führ­te hin­sicht­lich der Tätig­keit "Mo­to­ren auf­set­zen" zu der Be­ur­tei­lung "nicht OK". Das At­test der Werksärz­tin Dr. med. Ege­rer (Blatt 70 der Ak­ten) enthält fol­gen­de Ein­schränkun­gen hin­sicht­lich der wei­te­ren Ver­wen­dung des Klägers:
- kein ständi­ges oder wie­der­hol­tes tie­fes Bücken,
- kei­ne Be­an­spru­chung der Bauch­mus­ku­la­tur,
- kei­ne ständi­ge He­be-/Tra­ge­leis­tung über 5 kg.

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Ein Ar­beits­ver­such des Klägers an der Ope­ra­ti­on "Se­quen­zie­rung Stoßstan­ge" schei­ter­te, da der Kläger auch bei die­ser Tätig­keit über Be­schwer­den klag­te. Man­gels an­de­rer Ein­satzmöglich­keit stell­te die Be­klag­te den Kläger so­dann zunächst von der Er­brin­gung der Ar­beits­leis­tung frei. Nach­dem ei­ne Stand­ort­ab­fra­ge er­folg­los ge­blie­ben war, un­ter­nahm der Kläger ab 6. Fe­bru­ar 2008 ei­nen Ar­beits­ver­such in der In­te­gra­ti­ons­ab­tei­lung auf ei­nem so ge­nann­ten Schon­ar­beits­platz. Auf­grund sei­ner Kennt­nis­se und Fähig­kei­ten wur­de der Kläger aus­sch­ließlich bei der "Se­quen­zie­rung Kraft­stoff­lei­tung" und der "Se­quen­zie­rung Mo­tor­la­ger" ein­ge­setzt. Der Kläger ord­ne­te Kraft­stoff­lei­tun­gen in so ge­nann­te Se­quen­zier­wa­gen ein. Das Befüllen ei­nes Se­quen­zier­wa­gens mit Kraft­stoff­lei­tun­gen benötigt et­wa 45 bis 60 Mi­nu­ten. An­sch­ließend ist der gefüll­te Se­quen­zier­wa­gen, der nun ein Ge­wicht von 250 bis 300 kg auf­weist, über ei­ne Weg­stre­cke von 5 bis 6 m an die Ab­fol­ge der Pro­duk­ti­ons­li­nie zu schie­ben. Während die­ses Ar­beits­ver­suchs wur­de dem Kläger die Möglich­keit ein­geräumt, den Schicht- und Ko­lon­nenführer, so­fern die­ser verfügbar war, beim Schie­ben der Se­quen­zier­wa­gen (Dol­lies) um Hil­fe zu bit­ten. Die­ser über­nahm so­dann zeit­wei­se das Schie­ben der Dol­lies, wenn er kei­ne an­de­ren Tätig­kei­ten durch­zuführen hat­te. Da der Kläger auch bei die­sen Tätig­kei­ten über Schmer­zen klag­te, fand am 19. Fe­bru­ar 2008 ei­ne Be­ge­hung die­ses Ar­beits­plat­zes un­ter Teil­nah­me des werksärzt­li­chen Diens­tes statt. Die­se führ­te zu dem Er­geb­nis, dass die Tätig­keit "Se­quen­zie­rung Kraft­stoff­lei­tung" aus ar­beits­me­di­zi­ni­scher Sicht ei­nen leis­tungs­ge­rech­ten Ein­satz dar­stellt, nicht je­doch das Schie­ben der Dol­lies. Die Tätig­keit in der Mo­tor­la­ger­se­quen­zie­rung wur­de als "zu­mut­bar bis nicht OK" be­wer­tet (Blatt 85 der Ak­ten). Zwi­schen den Par­tei­en ist strei­tig, ob der Kläger anläss­lich die­ser Ar­beits­platz­be­ge­hung jeg­li­che Se­quen­ziertätig­keit ab­lehn­te und ei­ne Wei­ter­ar­beit un­ter die Be­din­gung stell­te, dass ihm sit­zen­de Tätig­kei­ten zu­ge­wie­sen würden. Die Be­klag­te stell­te den Kläger so­dann von der Er­brin­gung der Ar­beits­leis­tung frei. Sie führ­te am 28. März 2008 -oh­ne Er­geb­nis- ei­ne Stand­ort­ab­fra­ge für ei­nen at­test­ge­rech­ten Ein­satz des Klägers durch.

Mit Schrei­ben vom 22. April 2008 hörte die Be­klag­te den bei ihr ge­bil­de­ten Be­triebs­rat zum Aus­spruch ei­ner be­ab­sich­tig­ten außer­or­dent­li­chen Kündi­gung un­ter Ein­hal­tung ei­ner so­zia­len Aus­lauf­frist an (Blatt 108 bis 111 der Ak­ten). Die­ser Maßnah­me wi­der­sprach der Be­triebs­rat un­ter dem 25. April 2008 (Blatt 112 der Ak­ten). Mit Schrei­ben vom 30. April 2008 (Blatt 16 der Ak­ten) kündig­te die Be­klag­te das Ar­beits­verhält­nis außer­or­dent­lich un­ter Ein­hal­tung ei­ner so­zia­len Aus­lauf­frist zum 30. No­vem­ber 2008. Hier­ge­gen wen­det sich der Kläger mit sei­ner am 21. Mai 2008 beim

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Arb­Ger ein­ge­gan­ge­nen Kla­ge.

Vom 28. April 2008 bis 23. Mai 2008 war der Kläger er­neut ar­beits­unfähig er­krankt. Am 26. Mai 2008 stell­te er sich er­neut dem werksärzt­li­chen Dienst der Be­klag­ten vor, der fol­gen­de Ein­schränkun­gen fest­stell­te:
- kein ständi­ges oder wie­der­hol­tes tie­fes Bücken,
- kei­ne Be­an­spru­chung der Bauch­mus­ku­la­tur,
- kei­ne ständi­ge He­be-/Tra­ge­leis­tung über 7 kg,
- Ar­beit im Wech­sel von Ge­hen, Ste­hen und Sit­zen bzw. Steh­hil­fe oder ge­le­gent­li­che Sitz­ge­le­gen­heit.

So­dann be­gab sich der Kläger zur Per­so­nal­ab­tei­lung der Be­klag­ten und sprach dort mit Frau A . Die­se ver­merk­te auf der ar­beits­me­di­zi­ni­schen Stel­lung­nah­me (Bl. 115 d.A.): "B. sprach heu­te mit sei­ner Toch­ter hier vor. Ihm wur­de mit­ge­teilt, dass zur Zeit kein ent­spre­chen­der Ar­beits­platz vor­han­den ist und ei­ne er­neu­te Stand­ort­ab­fra­ge ein­ge­lei­tet wird. B. wur­de nach Rück­spra­che mit T. B wie­der nach Hau­se ge­schickt.
26.5.2008 Ra."

Seit 1. Ju­ni 2008 zahl­te die Be­klag­te dem Kläger kei­ne Ar­beits­vergütung mehr.

Der Kläger hat die Auf­fas­sung ver­tre­ten, die Kündi­gung sei un­wirk­sam. Er könne lei­dens­ge­recht an der Se­quen­zie­rung von Kraft­stoff­lei­tun­gen ein­ge­setzt wer­den; le­dig­lich das Schie­ben der Dol­lies könne er nicht ausführen. Es sei der Be­klag­ten je­doch möglich und zu­mut­bar, dies durch ei­nen an­de­ren Mit­ar­bei­ter er­le­di­gen zu las­sen. Sei­ne ge­sund­heit­li­chen Ein­schränkun­gen be­ruh­ten auf der mehr als 30 jähri­gen Tätig­keit für die Be­klag­te. Der Kläger hat die Kündi­gung nach § 174 BGB zurück­ge­wie­sen und be­strit­ten, dass der Be­triebs­rat ord­nungs­gemäß an­gehört wur­de. Die Be­klag­te be­fin­de sich in An­nah­me­ver­zug. Der Kläger ha­be anläss­lich der Ar­beits­platz­be­ge­hung am 19. Fe­bru­ar 2008 nicht jeg­li­che Se­quen­ziertätig­keit ab­ge­lehnt und die Wei­ter­ar­beit un­ter die Be­din­gung ei­ner sit­zen­den Tätig­keit ge­stellt. Viel­mehr ha­be er le­dig­lich geäußert, dass er die Dol­lies nicht be­schwer­de­frei schie­ben kann und an­sons­ten den Ar­beits­platz gern ausfüllt.

Der Kläger hat be­an­tragt,

1. fest­zu­stel­len, dass das Ar­beits­verhält­nis der Par­tei­en nicht durch die Kündi­gung der Be­klag­ten vom 30. April 2008 mit Ab­lauf des 30. No­vem­ber 2008

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sein En­de ge­fun­den hat,

2. die Be­klag­te zu ver­ur­tei­len, ihn als Ar­bei­ter zu un­veränder­ten ar­beits­ver­trag­li­chen Be­din­gun­gen bis zum rechts­kräfti­gen Ab­schluss des Kündi­gungs­schutz­pro­zes­ses wei­ter zu beschäfti­gen,

3. die Be­klag­te zu ver­ur­tei­len, an den Kläger 2837,16 € brut­to nebst fünf Pro­zent­punk­ten Zin­sen über dem Ba­sis­zins­satz ab 1. Ju­li 2008, abzüglich be­reits er­hal­te­nen Ar­beits­lo­sen­gel­des in Höhe von 1409,19 € zu zah­len,

4. die Be­klag­te zu ver­ur­tei­len, an den Kläger 3558,85 € brut­to nebst fünf Pro­zent­punk­ten Zin­sen über dem Ba­sis­zins­satz ab 1. Au­gust 2008, abzüglich be­reits er­hal­te­nen Ar­beits­lo­sen­gel­des in Höhe von 1409,19 €, zu zah­len,

5. die Be­klag­te zu ver­ur­tei­len, an den Kläger 2944,16 € brut­to nebst fünf Pro­zent­punk­ten Zin­sen über dem Ba­sis­zins­satz ab 1. Sep­tem­ber 2008, abzüglich be­reits er­hal­te­nen Ar­beits­lo­sen­gel­des in Höhe von 1409,19 €, zu zah­len,

6. die Be­klag­te zu ver­ur­tei­len, an den Kläger 2778,52 € brut­to nebst fünf Pro­zent­punk­ten Zin­sen über dem Ba­sis­zins­satz ab 1. Ok­to­ber 2008, abzüglich be­reits er­hal­te­nen Ar­beits­lo­sen­gel­des in Höhe von 1409,19 €, zu zah­len,

7. die Be­klag­te zu ver­ur­tei­len, an den Kläger 2806,50 € brut­to nebst fünf Pro­zent­punk­ten Zin­sen über dem Ba­sis­zins­satz ab 1. No­vem­ber 2008, abzüglich be­reits er­hal­te­nen Ar­beits­lo­sen­gel­des in Höhe von 1409,19 €, zu zah­len,

8. die Be­klag­te zu ver­ur­tei­len, an den Kläger 2924,80 € brut­to nebst fünf Pro­zent­punk­ten Zin­sen über dem Ba­sis­zins­satz ab 1. De­zem­ber 2008, abzüglich be­reits er­hal­te­nen Ar­beits­lo­sen­gel­des in Höhe von 1409,19 €, zu zah­len,

9. die Be­klag­te zu ver­ur­tei­len, an den Kläger 5.137,45 € brut­to nebst fünf Pro­zent­punk­ten Zin­sen über dem Ba­sis­zins­satz ab 1. Ja­nu­ar 2009, abzüglich be­reits er­hal­te­nen Ar­beits­lo­sen­gel­des in Höhe von 1409,19 €, zu zah­len,

hilfs­wei­se

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für den Fall des Un­ter­lie­gens mit dem An­trag zu 1

die Be­klag­te zu ver­ur­tei­len, dem Kläger ein wohl­wol­lend for­mu­lier­tes qua­li­fi­zier­tes Ar­beits­zeug­nis zu er­tei­len.

Die Be­klag­te hat be­an­tragt,

die Kla­ge ab­zu­wei­sen.

Die Be­klag­te hat die Auf­fas­sung ver­tre­ten, die außer­or­dent­li­che Kündi­gung sei wirk­sam. Dem Kläger sei die Ausübung sei­ner ar­beits­ver­trag­li­chen Tätig­keit dau­er­haft unmöglich ge­wor­den. Hin­sicht­lich des Ar­beits­plat­zes an der Se­quen­zie­rung von Kraft­stoff­lei­tun­gen könne der Kläger le­dig­lich ei­ne Teiltätig­keit, nämlich das Se­quen­zie­ren von Kraft­stoff­lei­tun­gen als sol­ches, nicht je­doch das Schie­ben der Dol­lies ausführen. Die Be­klag­te hat be­haup­tet, aus ar­beits­or­ga­ni­sa­to­ri­schen Gründen sei die­ser Ar­beits­platz nicht teil­bar. We­der der Ko­lon­nenführer noch an­de­re Mit­ar­bei­ter könn­ten dau­er­haft für den Kläger das Schie­ben der Dol­lies über­neh­men. Die Be­klag­te hat be­haup­tet, der Kläger ha­be sich anläss­lich der Ar­beits­platz­be­ge­hung am 19. Fe­bru­ar 2008 strikt ge­wei­gert, die Se­quen­ziertätig­kei­ten wei­ter aus­zuführen und auf ei­ner sit­zen­den Tätig­keit be­stan­den. Die Be­klag­te hat die Kündi­gung auch da­mit ge­recht­fer­tigt, dass der Kläger wie­der­holt dem werksärzt­li­chen Dienst kei­ne Be­fund­un­ter­la­gen vor­ge­legt ha­be.

Das Arb­Ger hat der Kla­ge statt­ge­ge­ben. Ge­gen die­ses Ur­teil hat die Be­klag­te Be­ru­fung ein­ge­legt.

Die Be­klag­te ver­tieft ihr erst­in­stanz­li­ches Vor­brin­gen, ei­ne Um­or­ga­ni­sa­ti­on der "Se­quen­zie­rung Kraft­stoff­lei­tun­gen" da­hin­ge­hend, dass ein an­de­rer Mit­ar­bei­ter das Schie­ben der Dol­lies über­neh­me, sei nicht möglich. Der ge­naue Zeit­punkt des An­fal­lens die­ser Teiltätig­keit in­ner­halb des be­trieb­li­chen Ab­laufs sei nicht plan­bar, weil er da­von abhängig sei, wie schnell der Mit­ar­bei­ter die ihm ob­lie­gen­den Se­quen­ziertätig­kei­ten durchführt. Von weit­aus größerem Ge­richt sei zu­dem die Tat­sa­che, dass nicht plan­bar sei, ob der Ko­lon­nenführer auf­grund sei­ner Ko­or­di­na­ti­ons- und Über­wa­chungs­auf­ga­ben zu ge­nau dem Zeit­punkt zur Verfügung ste­he, wenn das Schie­ben des Se­quen­zier­wa­gens er­for­der­lich ist. Für die Fort­set­zung der Pro­duk­ti­on sei es un­umgäng­lich, dass der Se­quen­zier­wa­gen zum rich­ti­gen Zeit­punkt zur Li­nie trans­por­tiert wird. Das glei­che gel­te, wenn man das Schie­ben der Se­quen­zier­wa­gen ei­nem an­de­ren Mit­ar­bei­ter über­tra­gen würde. Letzt­lich müsse die Be­klag­te ei­nen
 

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Mit­ar­bei­ter zusätz­lich ein­stel­len, was ihr nicht zu­zu­mu­ten sei. Auch vor dem Hin­ter­grund der strik­ten Wei­ge­rung des Klägers den Ar­beits­platz an der Se­quen­zie­rung von Kraft­stoff­lei­tun­gen aus­zufüllen, sei­en ihr wei­ter­ge­hen­de Um­or­ga­ni­sa­ti­ons­maßnah­men nicht zu­mut­bar. Ei­ne an­der­wei­ti­ge lei­dens­ge­rech­te Tätig­keit lie­ge bei der Be­klag­ten nicht vor. Der Kläger tra­ge auch selbst nicht vor, wie er sich ei­ne lei­dens­ge­rech­te Beschäfti­gung vor­stel­le. Die be­harr­li­che Wei­ge­rung des Klägers vom 19. Fe­bru­ar 2008, jeg­li­che wei­te­re Se­quen­ziertätig­keit durch­zuführen, zei­ge, dass ei­ne Ab­mah­nung kei­nen Er­folg ge­habt hätte. Die Kündi­gung sei auch un­ter dem Ge­sichts­punkt be­gründet, dass der Kläger die ihm ob­lie­gen­den Mit­wir­kungs­pflich­ten in er­heb­li­chem Maße ver­letzt ha­be, in­dem er sich nicht der me­di­zi­nisch in­di­zier­ten Ope­ra­ti­on sei­nes Leis­ten­bruchs un­ter­zo­gen ha­be. Die Be­klag­te sei auch nicht zur Ent­gelt­zah­lung auf­grund An­nah­me­ver­zu­ges ver­pflich­tet. Dem Vor­brin­gen des Klägers las­se sich nicht ent­neh­men, dass er sei­ne Ar­beits­leis­tung in aus­rei­chen­der Form an­ge­bo­ten hat. Der Kläger be­haup­te le­dig­lich, dass er am 26. Mai 2008 sei­ne Ar­beit persönlich an­ge­bo­ten ha­be. Dar­aus könne ent­ge­gen den Fest­stel­lun­gen des Ar­beits­ge­richts nicht ge­schlos­sen wer­den, dass er, so­fern er sei­ne Ar­beits­leis­tung am 26. Mai 2008 tatsächlich an­ge­bo­ten ha­be, was be­strit­ten wer­de, sämt­li­che Tätig­kei­ten an­ge­bo­ten hat, die mit sei­ner körper­li­chen Kon­sti­tu­ti­on zu ver­ein­ba­ren sind. Auf­grund der Tat­sa­che, dass der Kläger sich noch im Fe­bru­ar 2008 strikt ge­wei­gert ha­be, jeg­li­che Se­quen­ziertätig­keit durch­zuführen, könne nicht da­von aus­ge­gan­gen wer­den, dass so­fern er am 26. Mai 2008 tatsächlich sei­ne Ar­beits­leis­tung an­ge­bo­ten hat, sich die­ses An­ge­bot auf jeg­li­che lei­dens­ge­rech­te Tätig­keit er­streck­te. Viel­mehr fol­ge aus den Äußerun­gen des Klägers vom Fe­bru­ar 2008, dass er le­dig­lich ei­ne sit­zen­de Tätig­keit als lei­dens­ge­recht ak­zep­tie­ren wer­de und die Ausübung jeg­li­cher an­de­rer Tätig­keit, ins­be­son­de­re der Se­quen­ziertätig­keit ab­leh­nen wer­de. Höchst vor­sorg­lich sei zu berück­sich­ti­gen dass der Kläger An­nah­me­ver­zugs­vergütung nicht in der gel­tend ge­mach­ten Höhe be­an­spru­chen könne. Der Kläger er­hal­te ein ver­ste­tig­tes Mo­nats­ein­kom­men in Höhe von 2670,75 €, be­ste­hend aus ta­rif­li­chen Grun­dent­gelt, der Opel-Zu­la­ge und re­gelmäßigen be­trieb­li­chen Zu­la­gen. Die Höhe der von ihm gel­tend ge­mach­ten Beträge ha­be der Kläger nicht im Ein­zel­nen dar­ge­legt.

Die Be­klag­te be­an­tragt,

un­ter Abände­rung des Ur­teils des Ar­beits­ge­richts Darm­stadt vom 15. Ja­nu­ar 2009,12 Ca 246/08, die Kla­ge ab­zu­wei­sen.

Der Kläger be­an­tragt,

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die Be­ru­fung zurück­zu­wei­sen.

Das Arb­Ger ha­be rich­tig er­kannt, dass die Ar­gu­men­te der Be­klag­ten, das Schie­ben der Se­quen­zier­wa­gen müsse plan­bar sein und könne nicht von ei­nem an­de­ren Mit­ar­bei­ter über­nom­men wer­den, nicht nach­voll­zieh­bar und wi­dersprüchlich sei­en. Der Kläger ha­be auch nicht sei­ne Mit­wir­kungs­pflich­ten ver­letzt, son­dern sich 1997 und im Herbst 2007 den er­for­der­li­chen Ope­ra­tio­nen un­ter­zo­gen.

We­gen des bei­der­sei­ti­gen Par­tei­vor­brin­gens wird im Übri­gen auf die ge­wech­sel­ten Schriftsätze nebst An­la­gen so­wie die Sit­zungs­pro­to­kol­le Be­zug ge­nom­men.

Ent­schei­dungs­gründe

I. Die Be­ru­fung ist statt­haft, § 8 Abs. 2 ArbGG, § 511 Abs. 1 ZPO, § 64 Abs. 2 c Ar­beits­ge­richts­ge­setz. Sie ist auch form- und frist­ge­recht ein­ge­legt und be­gründet wor­den, § 66 Abs. 1 ArbGG, § 519, § 520 ZPO und da­mit ins­ge­samt zulässig.

II. Die Be­ru­fung ist nicht be­gründet.

1. Die außer­or­dent­li­che Kündi­gung der Be­klag­ten ist nach § 626 BGB -wie das Arb­Ger zu­tref­fend er­kannt hat- un­wirk­sam.

a) Zwar ist ei­ne Krank­heit als wich­ti­ger Grund im Sin­ne des § 626 BGB nicht grundsätz­lich un­ge­eig­net. An ei­ne Kündi­gung we­gen Er­kran­kung ei­nes Ar­beit­neh­mers ist zwar schon bei ei­ner or­dent­li­chen Kündi­gung ein stren­ger Maßstab an­zu­le­gen. Dies schließt es je­doch nicht aus, dass in eng zu be­gren­zen­den Aus­nah­mefällen die Fort­set­zung des Ar­beits­verhält­nis­ses dem Ar­beit­ge­ber auch un­zu­mut­bar im Sin­ne des § 626 Abs. 1 BGB sein kann. Da die Ein­hal­tung der Kündi­gungs­frist dem Ar­beit­ge­ber re­gelmäßig zu­mut­bar sein dürf­te, wird ei­ne Kündi­gung aus wich­ti­gem Grund aber nur ganz aus­nahms­wei­se zum Bei­spiel bei ei­nem Aus­schluss der or­dent­li­chen Kündi­gung auf­grund ta­rif­ver­trag­li­cher oder ein­zel­ver­trag­li­cher Ver­ein­ba­rung in Be­tracht kom­men können, wo­bei grundsätz­lich die der or­dent­li­chen Kündi­gungs­frist ent­spre­chen­de Aus­lauf­frist ein­zu­hal­ten ist (BAG, 27. No­vem­ber 2003-2 AZR 601/02, Rand­num­mer 50 mit wei­te­ren Nach­wei­sen). Mit die­ser Maßga­be ist die krank­heits­be­ding­te dau­ern­de Unfähig­keit, die ver­trag­lich ge­schul­de­te Ar­beits­leis­tung zu er­brin­gen, "an sich" ge­eig­net, ei­ne außer­or­dent­li­che Kündi­gung zu recht­fer­ti­gen. Et­was an­de­res gilt für die

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krank­heits­be­ding­te Min­de­rung der Leis­tungsfähig­keit des Ar­beit­neh­mers. Schon nach dem Ul­ti­ma-ra­tio-Grund­satz muss der Ar­beit­ge­ber vor Aus­spruch ei­ner sol­chen Kündi­gung vor al­lem bei älte­ren Ar­beit­neh­mern prüfen, ob der Min­de­rung ih­rer Leis­tungsfähig­keit nicht durch or­ga­ni­sa­to­ri­sche Maßnah­men (Ände­rung des Ar­beits­ab­laufs, Um­ge­stal­tung des Ar­beits­plat­zes, Um­ver­tei­lung der Auf­ga­ben be­geg­net wer­den kann (BAG 12. Ju­li 1995-2 AZR 762/94 Rn. 16). Die Unfähig­keit des Ar­beit­neh­mers, ei­nen Teil der ge­schul­de­ten Ar­beits­leis­tung zu er­brin­gen kann al­len­falls in Aus­nah­mefällen ei­ne außer­or­dent­li­che krank­heits­be­ding­te Kündi­gung recht­fer­ti­gen (BAG 12. Ju­li 1995-2 AZR 762/94 Rand­num­mer 17).

b) Das Ar­beits­verhält­nis des Klägers kann nach § 23 Nr. 4 des Man­tel­ta­rif­ver­trags der Me­tall- und Elek­tro­in­dus­trie für das Land Hes­sen nur noch aus wich­ti­gem Grund gekündigt wer­den, da in dem Be­trieb der Be­klag­ten min­des­tens 20 wahl­be­rech­tig­te Beschäftig­te tätig sind und der Kläger zum Kündi­gungs­zeit­punkt das fünf­undfünf­zigs­te, aber noch nicht das fünf­und­sech­zigs­te Le­bens­jahr voll­endet und das Ar­beits­verhält­nis in dem Un­ter­neh­men zu die­sem Zeit­punkt min­des­tens 10 Jah­re un­un­ter­bro­chen be­stan­den hat.

Wie das Arb­Ger zu­tref­fend er­kannt hat, liegt bei dem Kläger -ob­wohl er sei­ne bis zur Ar­beits­unfähig­keit im Herbst 2007 aus­geübte Tätig­keit in der Mo­to­ren­end­aufrüstung nicht mehr ausführen kann- kei­ne dau­ern­de Leis­tungs­unmöglich­keit vor, weil ihm die Ausübung der Teiltätig­keit in der Se­quen­zie­rung von Kraft­stoff­lei­tun­gen möglich ist. Zwar kann er die Teiltätig­keit des Schie­bens der Dol­lies nicht ausüben. Es ist der Be­klag­ten je­doch möglich und zu­mut­bar den Ar­beits­ab­lauf da­hin­ge­hend um­zu­or­ga­ni­sie­ren, dass ein an­de­rer Mit­ar­bei­ter dies über­nimmt. Auch un­ter Berück­sich­ti­gung des ver­tief­ten Vor­brin­gens der Be­klag­ten in der Be­ru­fungs­in­stanz er­sch­ließt sich der Kam­mer nicht, aus wel­chen Gründen dies aus­ge­schlos­sen sein soll­te. Un­strei­tig fällt das Schie­ben des Se­quen­zier­wa­gens le­dig­lich al­le 45 bis 60 Mi­nu­ten an. Der Wa­gen muss über ei­ne Stre­cke von fünf bis 6 m an die Pro­duk­ti­ons­li­nie ge­scho­ben wer­den, was nur we­ni­ge Se­kun­den in An­spruch nimmt. Zwar kann ein befüll­ter Se­quen­zier­wa­gen nicht zunächst am Ar­beits­platz des Klägers ste­hen ge­las­sen wer­den, bis ein an­de­rer Mit­ar­bei­ter Zeit hat, die­sen nach vor­ne zu schie­ben, da der Wa­gen an der Pro­duk­ti­ons­li­nie zeit­ge­nau benötigt wird. Auch un­ter Berück­sich­ti­gung des Be­klag­ten­vor­brin­gens in der Be­ru­fungs­in­stanz er­sch­ließt sich der Kam­mer nicht, war­um nicht bei­spiels­wei­se der Ko­lon­nenführer oder ein sons­ti­ger Ar­beits­kol­le­ge auf Zu­ruf des Klägers den Wa­gen nach vor­ne schie­ben kann. Zwar muss die be­tref­fen­de Per­son in die­ser -we­ni­ge Se­kun­den dau­ern­den Zeit- ih­ren Ar­beits­platz

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ver­las­sen. Es ist je­doch die Auf­ga­be des Ko­lon­nenführers, Mit­ar­bei­ter sei­nes Be­reichs bei kurz­zei­ti­gen Ver­hin­de­run­gen, bei­spiels­wei­se bei Toi­lett­engängen, zu ver­tre­ten. Für das Schie­ben des befüll­ten Se­quen­zier­wa­gens über die Stre­cke von fünf bis 6 m bis fällt deut­lich we­ni­ger Zeit an, als für die Ver­tre­tung ei­nes Mit­ar­bei­ters während ei­nes Toi­let­ten­gan­ges. Im Hin­blick dar­auf, dass der be­tref­fen­de Vor­gang nur al­le 45 bis 60 Mi­nu­ten anfällt und nur we­ni­ge Se­kun­den dau­ert und Ar­beits­kol­le­gen im Ar­beits­be­reich des Klägers vor­han­den sind, die ein­sprin­gen können, ist es aus Sicht der Kam­mer un­er­heb­lich, dass das Schie­ben des befüll­ten Se­quen­zier­wa­gens nicht im Vor­hin­ein hin­sicht­lich sei­ner zeit­li­chen La­ge ge­nau plan­bar ist. Der Be­klag­ten muss­te kein Schrift­satz­nach­lass zu der Fra­ge ein­geräumt wer­den, ob es möglich ist durch ei­ne An­wei­sung des Vor­ge­setz­ten den Ar­beits­ab­lauf da­hin­ge­hend um­zu­or­ga­ni­sie­ren, dass das Schie­ben des Wa­gens des Klägers von ei­nem an­de­ren Kol­le­gen über­nom­men wird. Die Fra­ge der Um­or­ga­ni­sa­ti­on des Ar­beits­ab­laufs in der Se­quen­zie­rung von Kraft­stoff­lei­tun­gen war be­reits erst­in­stanz­lich Ge­gen­stand des bei­der­sei­ti­gen Par­tei­vor­brin­gens. So­wohl das Ar­beits­ge­richt be­fass­te sich ein­ge­hend in dem Ur­teil mit die­ser Fra­ge, wie auch die Be­ru­fungs­be­gründung. Wei­te­rer Hin­wei­se sei­tens der Be­ru­fungs­kam­mer be­durf­te es da­her nicht.

Zur Ver­mei­dung ei­ner Kündi­gung hätte die Be­klag­te da­her dem Kläger die Teiltätig­keit des Se­quen­zie­rens der Kraft­stoff­lei­tun­gen zu­wei­sen müssen. So­fern der Kläger sich bei der Ar­beits­platz­be­ge­hung im Fe­bru­ar 2008 -was er be­strei­tet- ge­ne­rell ge­wei­gert ha­ben soll­te, die­sen Ar­beits­platz aus­zufüllen, wäre es -wor­auf das Arb­Ger wie­der­um zu­tref­fend hin­weist- er­for­der­lich ge­we­sen, den Kläger ab­zu­mah­nen. Dar­an fehlt es. Ent­ge­gen der Auf­fas­sung der Be­klag­ten war ei­ne Ab­mah­nung auch nicht ent­behr­lich, weil der Kläger sich am 19. Fe­bru­ar 2008 strikt ge­wei­gert ha­be, jeg­li­che Se­quen­ziertätig­keit aus­zuüben. Ei­ne Kündi­gung we­gen ei­ner Ver­trags­pflicht­ver­let­zung setzt re­gelmäßig ei­ne vor­he­ri­ge Ab­mah­nung vor­aus, da ein mögli­cher ein­ma­li­ger Pflich­ten­ver­s­toß noch kei­ne ne­ga­ti­ve Pro­gno­se recht­fer­tigt. Ei­ne Ab­mah­nung ist aus­nahms­wei­se ent­behr­lich, wenn ei­ne Ver­hal­tensände­rung in Zu­kunft trotz Ab­mah­nung nicht er­war­tet wer­den kann oder es sich um solch ei­ne schwe­re Pflicht­ver­let­zung han­delt, de­ren Rechts­wid­rig­keit dem Ar­beit­neh­mer oh­ne wei­te­res er­kenn­bar ist und bei der ei­ne Hin­nah­me des Ver­hal­tens durch den Ar­beit­ge­ber of­fen­sicht­lich aus­ge­schlos­sen ist (BAG, 12.1.2006 - 2 AZR 21/06 Rn. 55). Dar­an fehlt es hier. Selbst wenn der Kläger bei der Ar­beits­platz­be­ge­hung sich strikt ge­wei­gert ha­ben soll­te, jeg­li­che Se­quen­ziertätig­keit aus­zuführen und auf ei­ner sit­zen­den Tätig­keit be­stan­den ha­ben soll­te, zeigt der Ge­samt­zu­sam­men­hang die­ses Er­eig­nis­ses, in dem es dar­um ging, die­sen Ar­beits­platz dar­auf zu über­prüfen, ob er für den Kläger
 


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lei­dens­ge­recht ist, dass der Kläger le­dig­lich zum Aus­druck brin­gen woll­te, aus sei­ner Sicht sei die Tätig­keit in der Se­quen­zie­rung nicht lei­dens­ge­recht. Auch wenn dies aus ar­beits­me­di­zi­ni­scher Sicht ei­ne Fehl­einschätzung war, war dem Kläger die Rechts­wid­rig­keit sei­nes Ver­hal­tens nicht oh­ne wei­te­res er­kenn­bar.

Auch hin­sicht­lich der Nicht­vor­la­ge der Be­fund­un­ter­la­gen wäre ei­ne vor­he­ri­ge Ab­mah­nung er­for­der­lich ge­we­sen.

Der Kläger hat sei­ne Mit­wir­kungs­pflicht nicht da­durch ver­letzt, dass er nach dem Vor­trag der Be­klag­ten – ent­ge­gen dem Rat sei­ner Vor­ge­setz­ten und Kol­le­gen – sich nicht ei­ner Ope­ra­ti­on un­ter­zo­gen ha­be. Zum ei­nen trägt der Kläger in der Be­ru­fungs­er­wi­de­rung (S. 6, Bl. 326 d.A.) vor, dass er 1997 und im Herbst 2007 ope­riert wur­de. Zum an­de­ren ist es ei­ne höchst­persönli­che Ent­schei­dung des Ar­beit­neh­mers, die ent­schei­dend un­ter me­di­zi­ni­schen Ge­sichts­punk­ten zu tref­fen ist, ob ei­ne Ope­ra­ti­on durch­geführt wer­den soll. Vor­ge­setz­te und Ar­beits­kol­le­gen können dies re­gelmäßig nicht be­ur­tei­len. Ent­schei­dend ist hier, dass selbst un­ter Berück­sich­ti­gung des be­ste­hen­den Ge­sund­heits­zu­stands des Klägers (oh­ne –wei­te­re?- Ope­ra­ti­on) nach zu­mut­ba­rer Um­or­ga­ni­sa­ti­on des Ar­beits­ab­laufs für die Be­klag­te die Möglich­keit be­steht, den Kläger ver­trags­gemäß zu beschäfti­gen.

2. Der Wei­ter­beschäfti­gungs­an­trag ist be­gründet, da die Kündi­gung un­wirk­sam ist und der Kläger mit der Teiltätig­keit in der Se­quen­zie­rung der Kraft­stoff-Lei­tun­gen beschäftigt wer­den kann.

3. Der Kläger kann nach § 611 BGB in Ver­bin­dung mit § 615 S. 1 BGB die Zah­lung von An­nah­me­ver­zugs­vergütung für die Zeit von Ju­ni bis De­zem­ber 2008 ver­lan­gen. Im be­ste­hen­den Ar­beits­verhält­nis hat der Ar­beit­neh­mer die Ar­beits­leis­tung tatsächlich an­zu­bie­ten. Un­terlässt der Ar­beit­ge­ber die ihm mögli­che und zu­mut­ba­re Zu­wei­sung lei­dens­ge­rech­ter und ver­trags­gemäßer Ar­beit, steht die Ein­schränkung der Leis­tungsfähig­keit des Ar­beit­neh­mers dem An­nah­me­ver­zug des Ar­beit­ge­bers nicht ent­ge­gen. Der Leis­tungs­wil­le fehlt dann, wenn der Ar­beit­neh­mer die be­tref­fen­de Ar­beit ab­ge­lehnt hat. So­fern der Ar­beit­neh­mer je­doch all­ge­mein die Ar­beit an­ge­bo­ten hat, ist da­von aus­zu­ge­hen, dass er al­le ver­trags­gemäßen Tätig­kei­ten an­ge­bo­ten hat (BAG 27. Au­gust 2008 -5 AZR 16/08 Rand­num­mer 14,15).

Es kann da­hin­ste­hen, ob der Kläger am 19. Fe­bru­ar 2008 jeg­li­che Se­quen­ziertätig­keit ab­ge­lehnt hat. Er hat am 26. Mai 2008 ge­genüber der Mit­ar­bei­te­rin der

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Per­so­nal­ab­tei­lung der Be­klag­ten, Frau A , die Tätig­kei­ten, die er ge­sund­heit­lich aus­zuüben im Stan­de ist, an­ge­bo­ten. Zwar be­strei­tet die Be­klag­te in der Be­ru­fungs­be­gründung (Sei­te 17, Blatt 301 der Ak­ten) dass der Kläger am 26. Mai 2008 sei­ne Ar­beit persönlich an­ge­bo­ten ha­be. Die wei­te­ren Ausführun­gen zei­gen je­doch, dass da­mit nicht be­strit­ten wer­den soll, dass der Kläger am 26. Mai 2008 beim werksärzt­li­chen Dienst der Be­klag­ten vor­stel­lig ge­wor­den ist und so­dann Frau A auf­ge­sucht hat. Die Be­klag­te wen­det sich viel­mehr ge­gen die vom Arb­Ger vor­ge­nom­me­ne recht­li­che Wer­tung, hier­in ein tatsächli­ches Ar­beits­an­ge­bot zu er­ken­nen, ins­be­son­de­re im Hin­blick auf die strei­ti­gen Äußerun­gen des Klägers aus dem Fe­bru­ar 2008. Aus dem Ak­ten­ver­merk von Frau A vom 26. Mai 2008 (Bl. 115 d.A.), des­sen Rich­tig­keit die Be­klag­te nicht in Ab­re­de stellt und den sie selbst als An­la­ge zu ih­rem Schrift­satz vom 1. Sep­tem­ber 2008 in das Ver­fah­ren ein­geführt hat, er­gibt sich, dass der Kläger an die­sem Tag bei ihr vor­ge­spro­chen hat und sie ihm mit­teil­te, dass zur Zeit kein ent­spre­chen­der, d.h. den ar­beits­me­di­zi­ni­schen Vor­ga­ben, die an die­sem Tag fest­ge­stellt wur­den, Ar­beits­platz vor­han­den ist. Dies zeigt, dass sie den Kläger sinn­gemäß da­hin ver­stan­den hat, er wol­le nach Maßga­be der ar­beits­me­di­zi­ni­schen Stel­lung­nah­me vom 26. Mai 2008 beschäftigt wer­den. Dies er­gibt sich aus der For­mu­lie­rung ih­rer dem Kläger ge­ge­be­nen Ant­wort: "kein ent­spre­chen­der Ar­beits­platz vor­han­den". Un­ter Berück­sich­ti­gung des ob­jek­ti­ven Empfänger­ho­ri­zonts konn­te der Kläger auch nur so ver­stan­den wer­den. Da­mit war klar, dass der Kläger an die­sem Tag all­ge­mein ei­ne lei­dens­ge­rech­te Beschäfti­gung be­gehr­te. Da hier­un­ter auch die Teiltätig­keit in der Se­quen­zie­rung von Kraft­stoff­lei­tun­gen fällt, wur­de die­se von sei­nem tatsächli­chen An­ge­bot um­fasst. Selbst wenn der Kläger am 19. Fe­bru­ar 2008 die Se­quen­ziertätig­keit vor­be­halt­los ab­ge­lehnt und ei­ne sit­zen­de Tätig­keit ge­for­dert ha­ben soll­te, muss­te er am 26. Mai 2008 nicht aus­drück­lich klar­stel­len, dass er von die­ser Hal­tung abrückt. Dies ist nämlich je­den­falls still­schwei­gend dar­in zu se­hen, dass er im Zu­sam­men­hang mit der so­eben er­folg­ten ar­beits­me­di­zi­ni­schen Stel­lung­nah­me ei­nen "ent­spre­chen­den Ar­beits­platz" er­bat, der ge­ra­de nicht ei­ne aus­sch­ließlich sit­zen­de Tätig­keit ver­langt und des­halb auch die Teiltätig­keit in der Se­quen­zie­rung von Kraft­stoff­lei­tun­gen ein­sch­ließt.

Dem Kläger steht die An­nah­me­ver­zugs­vergütung auch in der be­gehr­ten Höhe zu. In­so­weit gilt das Lohn­aus­fall­prin­zip. Der Ar­beit­neh­mer ist so zu vergüten, als ob er ge­ar­bei­tet hätte. Der An­spruch um­fasst da­her das Brut­to­ge­halt ein­sch­ließlich Pro­vi­sio­nen, Zu­la­gen, Prämi­en, Gra­ti­fi­ka­tio­nen. Wie sich aus den vom Kläger ein­ge­reich­ten Ar­beits­be­schei­ni­gun­gen er­gibt, un­ter­lag sei­ne Vergütung star­ken Schwan­kun­gen. So­weit die Be­klag­te vorträgt, der Kläger ha­be ein ver­ste­tig­tes
 

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Mo­nats­ent­gelt in Höhe von 2670,75 € er­hal­ten, steht dies im Wi­der­spruch hier­zu. Man­gels ent­ge­gen­ste­hen­der An­halts­punk­te ist nicht er­sicht­lich, aus wel­chen Gründen der Kläger im An­spruchs­zeit­raum im Fal­le sei­ner Beschäfti­gung we­ni­ger ver­dient ha­ben würde als im Jahr zu­vor.

Der An­spruch auf Zah­lung von Ver­zugs­zin­sen folgt aus § 286 Abs. 2 Nr. 1, § 288 Abs. 1 BGB.

III. Gemäß § 97 Abs. 1 ZPO hat die Be­klag­te die Kos­ten ih­res er­folg­lo­sen Rechts­mit­tels zu tra­gen.

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