Um das Angebot dieser Webseite optimal zu präsentieren und zu verbessern, verwendet diese Webseite Cookies. Durch die weitere Nutzung der Webseite stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu. Näheres dazu erfahren Sie in unserer Datenschutzerklärung.
Okay

HENSCHE RECHTSANWÄLTE, FACHANWALTSKANZLEI FÜR ARBEITSRECHT

 

EGMR, Ur­teil vom 23.09.2010, 425/03

   
Schlagworte: Kündigung, Tendenzträger, Kirchenarbeitsrecht, Menschenrechte
   
Gericht: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
Aktenzeichen: 425/03
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 23.09.2010
   
Leitsätze:
Vorinstanzen:
   

23/09/10 Rechts­sa­che O. ge­gen DEU­TSCH­LAND (Be­schwer­de Nr. 425/03)

 

RECH­TSSA­CHE O. ./. DEU­TSCH­LAND

(Be­schwer­de Nr. 425/03)

UR­TEIL

STRASSBURG

23. Sep­tem­ber 2010

 

Die­ses Ur­teil wird nach Maßga­be des Ar­ti­kels 44 Ab­satz 2 der Kon­ven­ti­on endgültig. Es wird ge­ge­be­nen­falls noch re­dak­tio­nell übe­r­ar­bei­tet.

- 2 -

In der Rechts­sa­che O. ./. Deutsch­land,
hat der Eu­ropäische Ge­richts­hof für Men­schen­rech­te (Fünf­te Sek­ti­on) als Kam­mer, die
sich zu­sam­men­setzt aus

Peer Lo­ren­zen, Präsi­dent,
Re­na­te Ja­e­ger,
Rait Ma­rus­te,
Isa­bel­le Ber­ro-Lefèvre,
Mir­ja­na La­za­ro­va Tra­j­kovs­ka,
Zdrav­ka Ka­laydjie­va,
Gan­na Yud­kivs­ka, Rich­ter,
so­wie der Kanz­le­rin der Sek­ti­on, Clau­dia Wes­ter­diek,

nach Be­ra­tung in nicht öffent­li­cher Sit­zung am 31. Au­gust 2010,

das fol­gen­de Ur­teil er­las­sen, das an die­sem Tag an­ge­nom­men wor­den ist:

 

VER­FAH­REN

1. Der Rechts­sa­che liegt ei­ne ge­gen die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land ge­rich­te­te In­di­vi­du­al­be­schwer­de (Nr. 425/03) zu­grun­de, die ein deut­scher Staats­an­gehöri­ger, Herr O. („der Be­schwer­deführer“), am 2. Ja­nu­ar 2003 nach Ar­ti­kel 34 der Kon­ven­ti­on zum Schutz der Men­schen­rech­te und Grund­frei­hei­ten („die Kon­ven­ti­on“) beim Ge­richts­hof ein­ge­reicht hat.

2. Der Be­schwer­deführer wird von Rechts­anwältin Ul­ri­ke Muhr aus Es­sen ver­tre­ten. Die deut­sche Re­gie­rung („die Re­gie­rung“) wird von ih­rer Ver­fah­rens­be­vollmäch­tig­ten, Frau Al­mut Witt­ling-Vo­gel, Mi­nis­te­ri­al­di­ri­gen­tin im Bun­des­mi­nis­te­ri­um der Jus­tiz, ver­tre­ten.

3. Der Be­schwer­deführer be­haup­tet, dass die Ab­leh­nung der Ar­beits­ge­rich­te, sei­ne frist­lo­se Kündi­gung durch die Mor­mo­nen­kir­che auf­zu­he­ben, Ar­ti­kel 8 der Kon­ven­ti­on ver­letzt ha­be.

4. Am 18. März 2008 hat der Präsi­dent der Fünf­ten Sek­ti­on be­schlos­sen, der Re­gie­rung die Be­schwer­de zu über­mit­teln. In Ein­klang mit Ar­ti­kel 29 Ab­satz 3 der Kon­ven­ti­on ist fer­ner be­schlos­sen wor­den, dass die Kam­mer über die Zulässig­keit und die Be­gründet­heit der Rechts­sa­che zeit­gleich ent­schei­det.

- 3 -

5. So­wohl der Be­schwer­deführer als auch die Re­gie­rung ha­ben schrift­li­che Stel­lung­nah­men vor­ge­legt. Die Kir­che Je­su Chris­ti der Hei­li­gen der Letz­ten Ta­ge (die Mor­mo­nen­kir­che), die der Präsi­dent ermäch­tigt hat, am schrift­li­chen Ver­fah­ren teil­zu­neh­men (Ar­ti­kel 36 Ab­satz 2 der Kon­ven­ti­on und Ar­ti­kel 44 Ab­satz 2 der Ver­fah­rens­ord­nung), hat eben­falls Stel­lung ge­nom­men. Die Par­tei­en ha­ben auf die­se Stel­lung­nah­men er­wi­dert (Ar­ti­kel 44 Ab­satz 5 der Ver­fah­rens­ord­nung).

SACH­VER­HALT

I. DIE UM­STÄNDE DES FAL­LES

A. Hin­ter­grund der Rechts­sa­che

6. Der Be­schwer­deführer wurde1959 ge­bo­ren und ist in N.-A. wohn­haft.

7. Er ist in der Mor­mo­nen­kir­che auf­ge­wach­sen, die den Sta­tus ei­ner öffent­lich-recht­li­chen Körper­schaft in­ne­hat. 1980 hei­ra­te­te er nach mor­mo­ni­schem Ri­tus. Nach­dem er be­reits ver­schie­de­ne Ämter bei der Mor­mo­nen­kir­che be­klei­det hat­te, wur­de er ab dem 1. Ok­to­ber 1986 als Ge­biets­di­rek­tor Eu­ro­pa in der Ab­tei­lung Öffent­lich­keits­ar­beit mit ei­nem Mo­nats­ge­halt von 10.047,85 DM (ca. 5000 EUR) beschäftigt.

8. § 10 sei­nes An­stel­lungs­ver­trags vom 25. Sep­tem­ber 1986 ent­hielt fol­gen­de Klau­sel:

Ver­hal­ten im Be­trieb und außer­halb

„Dem Ar­beit­neh­mer sind die we­sent­li­chen Grundsätze der Kir­che be­kannt. Er hat Mit­tei­lun­gen und jeg­li­ches Ver­hal­ten zu un­ter­las­sen, wo­durch der Ruf der Kir­che geschädigt oder die­se Grundsätze in Fra­ge ge­stellt wer­den könn­ten. Der Ar­beit­neh­mer ver­pflich­tet sich ins­be­son­de­re zur Ein­hal­tung ho­her mo­ra­li­scher Grundsätze.

Er ver­pflich­tet sich, in den Be­triebsräum­en so­wie un­mit­tel­bar in der Nähe des Be­trie­bes und auch auf be­trieb­lich ver­an­lass­ten Fahr­ten und Ver­an­stal­tun­gen we­der zu rau­chen, noch Al­ko­hol, Boh­nen­kaf­fee oder Rausch­gift zu sich zu neh­men. Gro­be Verstöße be­rech­ti­gen den Ar­beit­ge­ber zur frist­lo­sen Kündi­gung.

- 4 -

Für die fol­gen­den drei Grup­pen von Mit­ar­bei­tern gel­ten ge­stei­ger­te Pflich­ten bezüglich des Ver­hal­tens im Be­trieb und außer­halb:

a) Führungs­kräfte (ins­be­son­de­re Ma­na­ger)

b) Mit­ar­bei­ter, die im Rah­men ih­rer be­trieb­li­chen Tätig­kei­ten Kon­takt mit be­triebs­frem­den Per­so­nen (...) ha­ben

c) Mit­ar­bei­ter, die im Bil­dungs­we­sen der Kir­che re­li­giösen Un­ter­richt er­tei­len.

Die die­sen Grup­pen zu­gehöri­gen Ar­beit­neh­mer müssen Mit­glied der Kir­che Je­su Chris­ti der Hei­li­gen der letz­ten Ta­ge sein. Soll­ten sie ih­re Mit­glied­schaft, aus wel­chen Gründen auch im­mer, ver­lie­ren oder soll­ten sie ge­gen die Grundsätze der Kir­che in er­heb­li­chem Maße ver­s­toßen, so muss dies ei­ne Kündi­gung - in schwer­wie­gen­den Fällen auch ei­ne frist­lo­se - nach sich zie­hen.“

9. An­fang De­zem­ber 1993 wand­te sich der Be­schwer­deführer an sei­nen zuständi­gen Seel­sor­ger S. und bat um seel­sor­ge­ri­schen Bei­stand. Im Lau­fe des Gesprächs of­fen­bar­te er ihm, dass sei­ne Ehe seit Jah­ren not­lei­dend sei und dass er ei­ne se­xu­el­le Be­zie­hung zu ei­ner an­de­ren Frau ge­habt ha­be. S. leg­te ihm na­he, sich an N., Ge­bietspräsi­dent und Vor­ge­setz­ter des Be­schwer­deführers, zu wen­den, und stell­te klar, dass er N. un­ter­rich­ten wer­de, wenn der Be­schwer­deführer dies nicht selbst tue. Am 21. De­zem­ber 1993 wand­te sich der Be­schwer­deführer an N., der sich sei­nes seel­sor­ge­ri­schen Bei­stands ent­hielt. Am 27. De­zem­ber 1993 sprach N. die frist­lo­se Kündi­gung des Be­schwer­deführers aus. An­sch­ließend wur­de der Be­trof­fe­ne im Rah­men ei­nes in­ter­nen Dis­zi­pli­nar­ver­fah­rens aus der Kir­che aus­ge­schlos­sen.

B. Die Ent­schei­dun­gen der un­te­ren Ar­beits­ge­rich­te

10. Am 14. Ja­nu­ar 1994 reich­te der Be­schwer­deführer beim Ar­beits­ge­richt Frank­furt am Main Kla­ge ein. Mit Ur­teil vom 26. Ja­nu­ar 1995 hob die­ses die Kündi­gung mit der Be­gründung auf, sie ste­he im Wi­der­spruch zu den Of­fen­ba­run­gen des Pro­phe­ten und Gründer der mor­mo­ni­schen Kir­che, Jo­seph Smith. Es führ­te aus, der Aus­schluss ei­nes Kir­chen­mit­glieds

- 5 -

sei nämlich nur dann vor­ge­se­hen, wenn der Be­trof­fe­ne kei­ne Reue zei­ge; dies sei bei dem Be­schwer­deführer nicht der Fall, weil er um seel­sor­ge­ri­schen Bei­stand ge­be­ten ha­be, um sei­ne Ehe wie­der in Ord­nung zu brin­gen. Das Ge­richt hielt die Kündi­gung da­her für ei­ne un­verhält­nismäßige Sank­ti­on.

11. Am 5. März 1996 wies das Hes­si­sche Lan­des­ar­beits­ge­richt die Be­ru­fung der Mor­mo­nen­kir­che zurück. Es war der An­sicht, dass die Verhängung ei­ner sol­chen Maßnah­me ge­gen den Be­schwer­deführer im vor­lie­gen­den Fall ge­gen die gu­ten Sit­ten ver­s­toße, ob­wohl Ehe­bruch, der bei den Mor­mo­nen als „die gräulichs­te al­ler Sünden“ gel­te, die Mor­mo­nen­kir­che grundsätz­lich be­rech­ti­ge, dem frag­li­chen An­ge­stell­ten zu kündi­gen. Un­ter Hin­weis dar­auf, dass sich die Kir­che auf In­for­ma­tio­nen zu den Ehe­pro­ble­men des Paa­res gestützt ha­be, die der Be­schwer­deführer sei­nen Seel­sor­gern mit dem Ziel of­fen­bart ha­be, seel­sor­ge­ri­schen Bei­stand zu er­hal­ten, war es der Auf­fas­sung, dass die­ses Wis­sen mo­ra­lisch der seel­sor­ge­ri­schen Schwei­ge­pflicht un­ter­le­gen hätte. Wie ein ka­tho­li­scher Pries­ter oder Bi­schof, dem ein Ver­bre­chen ge­beich­tet wer­de und der die­se In­for­ma­ti­on nicht an an­de­re Per­so­nen wei­ter­ge­ben dürfe, so­lan­ge sie nicht außer­halb der Beich­te preis­ge­ge­ben wor­den sei, sei­en da­her dem Ge­richt zu­fol­ge die bei­den Vor­ge­setz­ten des Be­schwer­deführers nicht be­rech­tigt ge­we­sen, die Aus­sa­gen des Be­schwer­deführers zu ar­beits­recht­li­chen Zwe­cken zu ver­wer­ten. We­gen der grundsätz­li­chen Be­deu­tung der Rechts­sa­che ließ das Lan­des­ar­beits­ge­richt die Re­vi­si­on zu.

C. Das Ur­teil des Bun­des­ar­beits­ge­richts

12. Am 24. April 1997 hob das Bun­des­ar­beits­ge­richt das Ur­teil des Lan­des­ar­beits­ge­richts auf und ver­wies die Sa­che an die­ses Ge­richt zurück. Ihm zu­fol­ge ver­stieß die streit­ge­genständ­li­che Kündi­gung nicht ge­gen die gu­ten Sit­ten und stell­te durch­aus ei­nen Kündi­gungs­grund im Sin­ne des § 626 Bürger­li­ches Ge­setz­buch (Rd­nr. 25 un­ten) dar, da der Be­schwer­deführer durch sein Ver­hal­ten ge­gen die in § 10 sei­nes An­stel­lungs­ver­trags vor­ge­se­he­nen Ver­pflich­tun­gen ver­s­toßen ha­be.

13. Un­ter Be­zug­nah­me auf die Grund­satz­ent­schei­dung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts vom 4. Ju­ni 1985 (Rd­nr. 26 un­ten) wies das Bun­des­ar­beits­ge­richt an­sch­ließend dar­auf hin, dass die mo­ra­li­schen Grundsätze der Mor­mo­nen­kir­che bei der Be­ur­tei­lung der Fra­ge, ob ein wich­ti­ger Kündi­gungs­grund im Sin­ne von § 626 Bürger­li­ches Ge­setz­buch vor­lie­ge, aus ver­fas­sungs­recht­li­chen Gründen zu berück­sich­ti­gen sei­en. Es führ­te wei­ter­hin aus: Als Re­li­gi­ons­ge­sell­schaft im Sin­ne von Ar­ti­kel 137 Ab­satz 3 der Wei­ma­rer Ver­fas­sung ha­be die Mor-

- 6 -

mo­nen­kir­che das ver­fas­sungs­recht­lich verbürg­te Recht, ih­re An­ge­le­gen­hei­ten in­ner­halb der Schran­ken des für al­le gel­ten­den Ge­set­zes selbst zu re­geln (Rd­nr. 24 un­ten). Wenn sich die Kir­chen der Pri­vat­au­to­no­mie zur Ein­stel­lung von Per­so­nen be­dien­ten, fin­de das staat­li­che Ar­beits­recht zwar An­wen­dung. Je­doch hin­de­re die An­wend­bar­keit des Ar­beits­rechts die Zu­gehörig­keit der Ar­beits­verhält­nis­se zu den ei­ge­nen An­ge­le­gen­hei­ten der Kir­chen nicht. Ei­ne Kir­che könne da­her im In­ter­es­se ih­rer ei­ge­nen Glaubwürdig­keit ih­ren Beschäftig­ten die Be­ach­tung der tra­gen­den Grundsätze ih­rer Glau­bens- und Sit­ten­leh­re auf­er­le­gen und von ih­nen ver­lan­gen, dass sie nicht ge­gen die fun­da­men­ta­len Ver­pflich­tun­gen ver­s­toßen, die je­dem ih­rer Mit­glie­der ob­lie­gen. Das Bun­des­ar­beits­ge­richt war der Mei­nung, im vor­lie­gen­den Fall sei die Mor­mo­nen­kir­che al­so be­rech­tigt ge­we­sen, vom Be­schwer­deführer die Ein­hal­tung der ehe­li­chen Treue zu ver­lan­gen.

14. Es fügte hin­zu, die Ar­beits­ge­rich­te sei­en bei der An­wen­dung der ge­setz­li­chen Vor­schrif­ten zum Kündi­gungs­schutz un­ter zwei Vor­aus­set­zun­gen an die Vor­ga­ben der Kir­chen ge­bun­den: Zum ei­nen müss­ten die­se Vor­ga­ben den an­er­kann­ten Maßstäben der ver­fass­ten Kir­chen Rech­nung tra­gen, zum an­de­ren dürf­ten sich die Ar­beits­ge­rich­te durch die An­wen­dung die­ser Vor­ga­ben nicht in Wi­der­spruch zu den Grund­prin­zi­pi­en der Rechts­ord­nung bee­ben, dar­un­ter das all­ge­mei­ne Willkürver­bot so­wie die Be­grif­fe der „gu­ten Sit­ten“ und des „ord­re pu­blic“. Es ob­lie­ge al­so den Ar­beits­ge­rich­ten si­cher­zu­stel­len, dass die Kir­chen kei­ne un­an­nehm­ba­ren An­for­de­run­gen an die Loya­lität ih­rer Ar­beit­neh­mer stell­ten.

15. Im vor­lie­gen­den Fall ver­trat das Bun­des­ar­beits­ge­richt die Auf­fas­sung, dass die Vor-ga­ben der Mor­mo­nen­kir­che bezüglich der ehe­li­chen Treue nicht im Wi­der­spruch zu den Grund­prin­zi­pi­en der Rechts­ord­nung stünden. Auch in den ver­fass­ten Kir­chen und in den Welt­re­li­gio­nen ha­be die Ehe ei­ne her­aus­ra­gen­de Be­deu­tung (ins­be­son­de­re in der ka­tho­li­schen Kir­che, im Ju­den­tum und im Is­lam); die­ses Verständ­nis ha­be sei­nen Nie­der­schlag im Grund­ge­setz ge­fun­den, des­sen Ar­ti­kel 6 die Ehe un­ter be­son­de­ren Schutz stel­le. Der Ehe­bruch wer­de je­doch wei­ter­hin von der Rechts­ord­nung als schwer­wie­gen­des Fehl­ver­hal­ten be­trach­tet, selbst wenn dies in der Pra­xis an­ders ge­se­hen wer­de.

16. Das Bun­des­ar­beits­ge­richt fügte hin­zu, die Kündi­gung ver­s­toße auch nicht ge­gen den all­ge­mei­nen Grund­satz von Treu und Glau­ben bei Ver­trags­verhält­nis­sen. Das Recht der Mor­mo­nen­kir­che, ei­nem An­ge­stell­ten zu kündi­gen, er­ge­be sich aus Ar­ti­kel 2 Ab­satz 1 des Grund­ge­set­zes und ins­be­son­de­re aus Ar­ti­kel 137 Ab­satz 3 der Wei­ma­rer Ver­fas­sung. Gleich­wohl könne sich der Be­schwer­deführer auf das sich aus dem­sel­ben Ar­ti­kel er­ge­ben­de

- 7 -

Recht be­ru­fen, selbst zu ent­schei­den, wel­che In­for­ma­tio­nen über sein Pri­vat­le­ben of­fen­bart wer­den könn­ten. Es ha­be al­so ihm ob­le­gen zu ent­schei­den, ob und zu wel­chem Zweck er sei­nen Ehe­bruch ge­genüber Drit­ten of­fen­ba­ren woll­te. Es tref­fe si­cher­lich zu, dass die Mor­mo­nen­kir­che ih­re Ent­schei­dung nur dann auf sol­che In­for­ma­tio­nen ha­be stützen können, wenn ihr die­se durch den Be­trof­fe­nen selbst zur Kennt­nis ge­bracht wor­den sei­en. Nach den Fest­stel­lun­gen des Lan­des­ar­beits­ge­richts ha­be der Be­schwer­deführer S. nur in des­sen Ei­gen­schaft als Seel­sor­ger in­for­miert. Die Mor­mo­nen­kir­che ha­be aber durch N. von dem Ehe­bruch er­fah­ren. Die Fest­stel­lung des Lan­des­ar­beits­ge­richts, dass sich der Be­schwer­deführer mit ei­nem seel­sor­ge­ri­schen An­lie­gen an N. ge­wandt ha­be, die­ser sich aber sei­nes seel­sor­ge­ri­schen Bei­stands ent­hal­ten ha­be, be­le­ge nicht, dass der Be­schwer­deführer N. nur in des­sen Ei­gen­schaft als Seel­sor­ger in An­spruch ge­nom­men ha­be. Die Mor­mo­nen­kir­che ha­be die­se Sicht­wei­se im Übri­gen be­strit­ten und her­vor­ge­ho­ben, nach ih­rem ei­ge­nen Verständ­nis sei N. auch nicht dafür zuständig ge­we­sen, als Seel­sor­ger für den Be­schwer­deführer zu fun­gie­ren. Das Bun­des­ar­beits­ge­richt ver­trat die Auf­fas­sung, dass die Schluss­fol­ge­rung des Lan­des­ar­beits­ge­richts, wo­nach das An­lie­gen des Be­schwer­deführers sei­nen seel­sor­ge­ri­schen Cha­rak­ter al­lein da­durch, dass S. ihn an N. wei­ter­ver­wie­sen ha­be, nicht ver­lo­ren ha­be, nicht tat­sa­chenmäßig be­legt sei und im Wi­der­spruch zu der nicht vor­han­de­nen Kom­pe­tenz von N. ste­he. Des­sen Schwei­ge­pflicht, auf die das Lan­des­ar­beits­ge­richt sei­ne Auf­fas­sung gestützt ha­be, ha­be al­so gar nicht vor­ge­le­gen. Da der Be­schwer­deführer im Übri­gen klar­ge­stellt ha­be, dass es ei­ne Beich­te in der Mor­mo­nen­kir­che nicht ge­be, sei der Ver­weis des Lan­des­ar­beits­ge­richts auf die Pra­xis der Beich­te in der ka­tho­li­schen Kir­che un­er­heb­lich. Zu­dem ha­be der Be­schwer­deführer N. ge­genüber nicht aus­drück­lich zu ver­ste­hen ge­ge­ben, dass er sich nur in des­sen Ei­gen­schaft als Seel­sor­ger an ihn wen­de. Er ha­be sich an S. und N. ge­wandt, um sein Ehe­pro­blem zu lösen, aber zu kei­nem Zeit­punkt zu er­ken­nen ge­ge­ben, dass er im Sin­ne von Ab­schnitt 42 Vers 23 und 24 der Prophetenschrift1 „mit gan­zem Her­zen Um­kehr“ üben und zu sei­ner Frau zurück­keh­ren wol­le.

17. Das Bun­des­ar­beits­ge­richt stell­te fer­ner fest, die in Re­de ste­hen­de Kündi­gung sei auch zur Be­wah­rung der Glaubwürdig­keit der Mor­mo­nen­kir­che er­for­der­lich ge­we­sen; die­se Glaubwürdig­keit sei an­ge­sichts der Auf­ga­ben, die der Be­schwer­deführer als Ge­biets­di­rek­tor Eu­ro­pa in der Ab­tei­lung Öffent­lich­keits­ar­beit hat­te, gefähr­det ge­we­sen. In die­ser Ei­gen­schaft sei er dafür ver­ant­wort­lich ge­we­sen, ein rich­ti­ges und wohl­wol­len­des Verständ­nis für die Kir­che zu fördern, die Mis­sio­nie­rung zu un­terstützen und et­wa 170 Mit­ar­bei­ter aus dem Be­reich Öffent­lich­keits­ar­beit zu schu­len und zu mo­ti­vie­ren. Die Ver­mitt­lung der un­be­ding­ten Treue

- 8 -

zum Ehe­part­ner als we­sent­li­cher Grund­satz und der Glau­be dar­an würden er­schwert, wenn der­je­ni­ge, der die­sen Grund­satz in her­aus­ge­ho­be­ner Po­si­ti­on im Na­men der Mor­mo­nen­kir­che ver­brei­te, ihn selbst nicht be­ach­te. Die Tat­sa­che, dass der Ehe­bruch zum Zeit­punkt der Un­ter­re­dun­gen mit S. und N. noch nicht öffent­lich be­kannt ge­we­sen sei, ände­re nichts an die­ser Fest­stel­lung. Der Mor­mo­nen­kir­che sei nämlich nicht zu­zu­mu­ten ge­we­sen, die Kündi­gung erst nach Ein­tritt ei­nes Glaubwürdig­keits­ver­lus­tes aus­zu­spre­chen, zu­mal nicht da­von aus­ge­gan­gen wer­den konn­te, dass die Ehe­frau und die neue Part­ne­rin Still­schwei­gen be­wah­ren würden.

18. Das Bun­des­ar­beits­ge­richt stellt im Übri­gen fest, dass es ei­ner Ab­mah­nung durch die Mor­mo­nen­kir­che im Übri­gen nicht be­durft ha­be, weil es sich um ei­ne Pflicht­ver­let­zung ge­han­delt ha­be, de­ren Schwe­re dem Be­schwer­deführer an­ge­sichts sei­ner lan­gen Zu­gehörig­keit zu der Kir­che hätte be­wusst sein müssen und die sein Ar­beit­ge­ber of­fen­sicht­lich nur ha­be miss­bil­li­gen können.

19. Das Bun­des­ar­beits­ge­richt ge­lang­te zu dem Schluss, dass es an ei­ner Sach­ent­schei­dung ge­hin­dert sei, weil die Vor­in­stan­zen kei­ne an­ge­mes­se­ne Abwägung der be­trof­fe­nen In­ter­es­sen gemäß den in sei­nem Ur­teil auf­ge­stell­ten Kri­te­ri­en ge­trof­fen hätten. Hin­zu kom­me, dass den Streit­par­tei­en fer­ner Ge­le­gen­heit ge­ge­ben wer­den müsse, zu ei­ner Um­deu­tung der außer­or­dent­li­chen in ei­ne or­dent­li­che Kündi­gung Stel­lung zu neh­men.

D. Das Ver­fah­ren nach der Zurück­ver­wei­sung der Rechts­sa­che

20. In sei­ner im Rah­men der Rück­ver­wei­sung er­gan­ge­nen Ent­schei­dung vom 26. Ja­nu­ar 1998 folg­te das Lan­des­ar­beits­ge­richt der Ar­gu­men­ta­ti­on des Bun­des­ar­beits­ge­richts in Be­zug auf die Ein­stu­fung des Ehe­bruchs als schwer­wie­gen­de Pflicht­ver­let­zung (gleich­be­deu­tend mit der Be­ge­hung ei­ner schwe­ren Straf­tat durch ei­nen Ar­beit­neh­mer ei­nes welt­li­chen Ar­beit­ge­bers) und den ex­po­nier­ten Cha­rak­ter der vom Be­schwer­deführer wahr­ge­nom­me­nen Funk­tio­nen. In An­be­tracht des re­la­tiv jun­gen Le­bens­al­ters des Be­schwer­deführers zum Zeit­punkt der Kündi­gung (vier­und­dreißig Jah­re) und der Dau­er sei­ner Beschäfti­gung (sie­ben Jah­re) ste­he der sich dar­aus durch die Kündi­gung für ihn er­ge­ben­de Scha­den nicht ent­ge­gen. Da er in der Mor­mo­nen­kir­che auf­ge­wach­sen sei und dort ver­schie­de­ne Auf­ga­ben wahr­ge­nom­men ha­be, hätte dem Be­schwer­deführer be­wusst sein müssen, für wie schwer-wie­gend sein Ar­beit­ge­ber sei­ne Hand­lun­gen be­wer­te, zu­mal es sich nicht um ei­nen ein­ma­li­gen Fehl­tritt, son­dern um ei­ne länge­re Zeit an­dau­ern­de außer­ehe­li­che Be­zie­hung han­de­le.

- 9 -

Hin­sicht­lich der Not­wen­dig­keit ei­ner Kündi­gungs­frist ver­trat das Lan­des­ar­beits­ge­richt die Auf­fas­sung, dass die Mor­mo­nen­kir­che ei­nen enor­men Glaubwürdig­keits­ver­lust zu befürch­ten ge­habt hätte, wenn die Per­son, die ih­re In­ter­es­sen in ganz Eu­ro­pa ver­tre­ten ha­be, sich selbst nicht an die Vor­ga­ben ge­hal­ten hätte. Die Kir­che sei da­her nicht ver­pflich­tet ge­we­sen, die Dau­er der or­dent­li­chen Kündi­gungs­frist (drei Mo­na­te) ein­zu­hal­ten und den Be­schwer­deführer nach dem 27. De­zem­ber 1993 – dem Kündi­gungs­da­tum – in sei­nen Ämtern wei­ter­zu­beschäfti­gen.

21. Un­ter Hin­weis dar­auf, dass es die Be­gründet­heit der Kündi­gung nur ar­beits­recht­lich zu be­han­deln ha­be, äußer­te sich das Lan­des­ar­beits­ge­richt nicht zu der Fra­ge, ob das in­ter­ne Dis­zi­pli­nar­ver­fah­ren der Mor­mo­nen­kir­che, das den Be­schwer­deführer aus­sch­ließlich in sei­ner Ei­gen­schaft als Kir­chen­mit­glied be­tref­fe, fair war. Darüber hin­aus be­ton­te es, sei­ne Schluss­fol­ge­run­gen sei­en nicht so zu ver­ste­hen, dass Ehe­bruch an sich ei­nen Grund zur Kündi­gung von kirch­li­chen Mit­ar­bei­tern dar­stel­le. Die Be­son­der­heit des Fal­les lie­ge dar­in, dass die Mor­mo­nen­kir­che Ehe­bruch als be­son­ders schwer­wie­gend an­se­he und dass sich aus der wich­ti­gen Stel­lung des Be­schwer­deführers ge­stei­ger­te Loya­litäts­pflich­ten er­ge­ben hätten.

22. Am 16. De­zem­ber 1998 wies das Bun­des­ar­beits­ge­richt die Be­schwer­de des Be­schwer­deführers ge­gen die Nicht­zu­las­sung der Re­vi­si­on mit der Be­gründung zurück, ei­ne Di­ver­genz zu sei­ner Recht­spre­chung lie­ge nicht vor.

23. Am 27. Ju­ni 2002 lehn­te es das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt ab, die Ver­fas­sungs­be­schwer­de des Be­schwer­deführers zur Ent­schei­dung an­zu­neh­men (- 2 BvR 356/99 -), weil sie kei­ne hin­rei­chen­de Aus­sicht auf Er­folg ha­be. Nach sei­ner An­sicht würden die an­ge­grif­fe­nen Ent­schei­dun­gen vor dem Hin­ter­grund sei­ner Ent­schei­dung vom 4. Ju­ni 1985 kei­ne ver­fas­sungs­recht­li­chen Be­den­ken be­geg­nen.

- 10 -

II. DAS EINSCHLÄGI­GE IN­NERSTAAT­LICHE UND GE­MEINSCHAFT­LICHE RECHT UND DIE EINSCHLÄGI­GE IN­NERSTAAT­LICHE UND GE­MEINSCHAFT­LICHE PRA­XIS

A. Das Grund­ge­setz

24. Ar­ti­kel 140 des Grund­ge­set­zes führt aus, dass die Ar­ti­kel 136 bis 139 und Ar­ti­kel 141 (sog. Kir­chen­ar­ti­kel) der Wei­ma­rer Ver­fas­sung vom 11. Au­gust 1919 Be­stand­teil des Grund­ge­set­zes sind. Der ein­schlägi­ge Pas­sus von Ar­ti­kel 137 lau­tet im vor­lie­gen­den Fall wie folgt:

Ar­ti­kel 137

„(1) Es be­steht kei­ne Staats­kir­che.

(2) Die Frei­heit der Ver­ei­ni­gung zu Re­li­gi­ons­ge­sell­schaf­ten wird gewähr­leis­tet. (...)

(3) Je­de Re­li­gi­ons­ge­sell­schaft ord­net und ver­wal­tet ih­re An­ge­le­gen­hei­ten selbständig in­ner­halb der Schran­ken des für al­le gel­ten­den Ge­set­zes. (...)“

B. Die Kündi­gungs­vor­schrif­ten

25. Nach § 626 des Bürger­li­chen Ge­setz­bu­ches kann ein Dienst­verhält­nis von je­dem Ver­trags­teil aus wich­ti­gem Grund oh­ne Ein­hal­tung ei­ner Kündi­gungs­frist gekündigt wer­den, wenn Tat­sa­chen vor­lie­gen, auf Grund de­rer un­ter Berück­sich­ti­gung al­ler Umstände des Ein­zel­fal­les und der In­ter­es­sen der Ver­trags­tei­le des­sen Fort­set­zung bis zum Ab­lauf der Kündi­gungs­frist oder bis zu der ver­ein­bar­ten Be­en­di­gung des Dienst­verhält­nis­ses nicht zu­ge­mu­tet wer­den kann. Nach Ab­satz 2 wird ei­ne Frist von zwei Wo­chen ge­setzt, die mit dem Zeit­punkt be­ginnt, in dem der Ar­beit­ge­ber von den dafür maßge­ben­den Tat­sa­chen Kennt­nis er­langt.

- 11 -

In § 1 Absätze 1 und 2 des Kündi­gungs­schutz­ge­set­zes heißt es ins­be­son­de­re, dass ei­ne Kündi­gung so­zi­al un­ge­recht­fer­tigt ist, wenn sie nicht durch Gründe, die in der Per­son oder in dem Ver­hal­ten des Ar­beit­neh­mers lie­gen, be­dingt ist.

C. Das Ur­teil des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts vom 4. Ju­ni 1985

26. Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt hat am 4. Ju­ni 1985 ei­ne Grund­satz­ent­schei­dung zur Wirk­sam­keit von Kündi­gun­gen er­las­sen, die kirch­li­che Ein­rich­tun­gen ge­gen in ih­ren Diens­ten ste­hen­de Ar­beit­neh­mer we­gen Ver­let­zung von Loya­litätsob­lie­gen­hei­ten aus­ge­spro­chen ha­ben (- BvR 1703/83, 1718/83, 856/84 -, Be­schluss veröffent­licht in der Samm­lung der Ent­schei­dun­gen des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts, Bd. 70, S. 138-173). Ge­gen­stand der in Re­de ste­hen­den Ver­fas­sungs­be­schwer­den war ei­ner­seits die Kündi­gung ei­nes in ei­nem ka­tho­li­schen Kran­ken­haus beschäftig­ten Arz­tes we­gen sei­nes Stand­punkts zum The­ma Ab­trei­bung und an­de­rer­seits die Kündi­gung ei­nes kaufmänni­schen An­ge­stell­ten ei­nes Ju­gend­wohn­hei­mes, das von ei­ner Or­dens­ge­mein­schaft der ka­tho­li­schen Kir­che geführt wird, we­gen sei­nes Aus­tritts aus der ka­tho­li­schen Kir­che. Nach­dem die Ar­beits­ge­rich­te den bei­den gekündig­ten Per­so­nen Recht ge­ge­ben hat­ten, ha­ben die Kir­chen das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt an­ge­ru­fen. Die­ses hat­te ih­ren Be­schwer­den statt­ge­ge­ben.

Das ho­he Ge­richt hat dar­an er­in­nert, dass das Recht der Re­li­gi­ons­ge­sell­schaf­ten, ih­re An­ge­le­gen­hei­ten selbständig in­ner­halb der Schran­ken des für al­le gel­ten­den Ge­set­zes nach Maßga­be des Ar­ti­kels 137 Ab­satz 3 der Wei­ma­rer Reichs­ver­fas­sung zu re­geln, nicht nur für die Kir­chen gel­ten würde, son­dern oh­ne Rück­sicht auf ih­re Rechts­form auch für al­le der Kir­che in be­stimm­ter Wei­se zu­ge­ord­ne­ten Ein­rich­tun­gen, wenn sie ein Stück des Auf­trags der Kir­che wahr­neh­men. Be­stand­teil die­ser Ver­fas­sungs­ga­ran­tie sei das Recht der Kir­chen, das für die Erfüllung ih­res Auf­trags er­for­der­li­che Per­so­nal aus­zuwählen und so­mit Ar­beits­verträge ab­zu­sch­ließen. Be­die­nen sich die Kir­chen wie je­der­mann der Pri­vat­au­to­no­mie zur Be­gründung von Ar­beits­verhält­nis­sen, würde auf die­se das staat­li­che Ar­beits­recht An­wen­dung fin­den. Die An­wen­dung des Ar­beits­rechts würde aber nicht da­zu führen, die Zu­gehörig­keit der Ar­beits­verhält­nis­se zu den ei­ge­nen An­ge­le­gen­hei­ten der Kir­che auf­zu­he­ben. Die Ver­fas­sungs­ga­ran­tie des Selbst­be­stim­mungs­rechts der Kir­chen blei­be für die Ge­stal­tung der Ar­beits­verhält­nis­se we­sent­lich. So könne ei­ne Kir­che im In­ter­es­se der ei­ge­nen Glaubwürdig­keit ih­re Ar­beits­verträge auf das Leit­bild ei­ner christ­li­chen Dienst­ge­mein­schaft stützen und dem-nach von den ihr an­gehören­den Ar­beit­neh­mern die Be­ach­tung der tra­gen­den Grundsätze der kirch­li­chen Glau­bens- und Sit­ten­leh­re so­wie der fun­da­men­ta­len Ver­pflich­tun­gen ver­lan­gen, die je­dem Kir­chen­glied ob­lie­gen. Durch all das würde die Rechts­stel­lung des kirch­li­chen

- 12 -

Ar­beit­neh­mers kei­nes­wegs „kle­ri­ka­li­siert“. Es gin­ge viel­mehr aus­sch­ließlich um den In­halt und Um­fang der ver­trag­lich be­gründe­ten Loya­litätsob­lie­gen­hei­ten. Dies führe nicht da­zu, dass aus dem bürger­lich-recht­li­chen Ar­beits­verhält­nis ei­ne Art kirch­li­ches Sta­tus­verhält­nis wird, das die Per­son to­tal er­greift und ih­re pri­va­te Le­bensführung voll um­fasst.

Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt hat eben­falls dar­ge­legt, dass die Ge­stal­tungs­frei­heit der Kir­chen un­ter dem Vor­be­halt des für al­le gel­ten­den Ge­set­zes ste­he, ein­sch­ließlich der Vor­schrif­ten zum Schutz vor un­ge­recht­fer­tig­ten Kündi­gun­gen, nämlich die §§ 1 des Kündi­gungs­schutz­ge­set­zes und 626 des Bürger­li­chen Ge­setz­bu­ches. Dies würde aber nicht be­deu­ten, dass die­se Be­stim­mun­gen den so ge­nann­ten Kir­chen­ar­ti­keln der Wei­ma­rer Reichs­ver­fas­sung vor­ge­hen würden. So­mit müsse ei­ne Abwägung der un­ter­schied­li­chen Rech­te vor­ge­nom­men und dem Selbst­verständ­nis der Kir­chen ein be­son­de­res Ge­wicht bei­ge­mes­sen wer­den. Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt führ­te wei­ter aus:

„Dar­aus folgt: Gewähr­leis­tet die Ver­fas­sungs­ga­ran­tie des kirch­li­chen Selbst­be­stim­mungs­rechts, dass die Kir­chen bei der ar­beits­ver­trag­li­chen Ge­stal­tung des kirch­li­chen Diens­tes das Leit­bild ei­ner christ­li­chen Dienst­ge­mein­schaft zu­grun­de le­gen und die Ver­bind­lich­keit kirch­li­cher Grund­pflich­ten be­stim­men können, so ist die­se Gewähr­leis­tung bei der An­wen­dung des Kündi­gungs­schutz­rechts auf Kündi­gun­gen von Ar­beits­verhält­nis­sen we­gen der Ver­let­zung der sich dar­aus für die Ar­beit­neh­mer er­ge­ben­den Loya­litätsob­lie­gen­hei­ten aus ver­fas­sungs­recht­li­chen Gründen zu berück­sich­ti­gen und ih­re Trag­wei­te fest­zu­stel­len. Ei­ne Rechts­an­wen­dung, bei der die vom kirch­li­chen Selbst­verständ­nis her ge­bo­te­ne Ver­pflich­tung der kirch­li­chen Ar­beit­neh­mer auf grund­le­gen­de Ma­xi­men kirch­li­chen Le­bens ar­beits­recht­lich oh­ne Be­deu­tung blie­be, wi­derspräche dem ver­fas­sungs­verbürg­ten Selbst­be­stim­mungs­recht der Kir­chen.

Dar­aus er­gibt sich: Im Streit­fall ha­ben die Ar­beits­ge­rich­te die vor­ge­ge­be­nen kirch­li­chen Maßstäbe für die Be­wer­tung ver­trag­li­cher Loya­litäts­pflich­ten zu­grun­de zu le­gen, so­weit die Ver­fas­sung das Recht der Kir­chen an­er­kennt, hierüber selbst zu be­fin­den. Es bleibt da­nach grundsätz­lich den ver­fass­ten Kir­chen über­las­sen, ver­bind­lich zu be­stim­men, was "die Glaubwürdig­keit der Kir­che und ih­rer Verkündi­gung er­for­dert", was "spe­zi­fisch kirch­li­che Auf­ga­ben" sind, was "Nähe" zu ih­nen be­deu­tet, wel­ches die "we­sent­li­chen Grundsätze der Glau­bens- und Sit­ten­leh­re" sind und was als - ge­ge­be­nen­falls schwe­rer - Ver­s­toß ge­gen die­se an­zu­se­hen ist. Auch die Ent­schei­dung darüber, ob und wie in­ner­halb der im kirch­li­chen Dienst täti­gen Mit­ar­bei­ter ei­ne "Ab­stu­fung" der Loya­litäts­pflich­ten ein­grei­fen soll, ist grundsätz­lich ei­ne dem kirch­li­chen Selbst­be­stim­mungs­recht un­ter­lie­gen­de An­ge­le­gen­heit. So­weit die­se kirch­li­chen Vor­ga­ben den an­er­kann­ten Maßstäben der ver­fass­ten Kir­chen Rech­nung tra­gen, was in Zwei­felsfällen durch ent­spre­chen­de ge­richt­li­che Rück­fra­gen bei den zuständi­gen Kir­chen­behörden auf­zuklären ist, sind die Ar­beits­ge­rich­te

- 13 -

an sie ge­bun­den, es sei denn, die Ge­rich­te begäben sich da­durch in Wi­der­spruch zu Grund­prin­zi­pi­en der Rechts­ord­nung, wie sie im all­ge­mei­nen Willkürver­bot so­wie in dem Be­griff der "gu­ten Sit­ten" und des ord­re pu­blic ih­ren Nie­der­schlag ge­fun­den ha­ben. Es bleibt in die­sem Be­reich so­mit Auf­ga­be der staat­li­chen Ge­richts­bar­keit si­cher­zu­stel­len, dass die kirch­li­chen Ein­rich­tun­gen nicht in Ein­z­elfällen un­an­nehm­ba­re An­for­de­run­gen - in­so­weit mögli­cher­wei­se ent­ge­gen den Grundsätzen der ei­ge­nen Kir­che und der dar­aus fol­gen­den Fürsor­ge­pflicht - an die Loya­lität ih­rer Ar­beit­neh­mer stel­len.

Kom­men sie hier­bei zur An­nah­me ei­ner Ver­let­zung sol­cher Loya­litätsob­lie­gen­hei­ten, so ist die wei­te­re Fra­ge, ob die­se Ver­let­zung ei­ne Kündi­gung des kirch­li­chen Ar­beits­verhält­nis­ses sach­lich recht­fer­tigt, nach den kündi­gungs­schutz­recht­li­chen Vor­schrif­ten der §§ 1 KSchG, 626 BGB zu be­ant­wor­ten (...)“

. Die Richt­li­nie 2000/78/EG vom 27. No­vem­ber 2000

27. In der Richt­li­nie 2000/78/EG des Ra­tes vom 27. No­vem­ber 2000 zur Fest­le­gung ei­nes all­ge­mei­nen Rah­mens für die Ver­wirk­li­chung der Gleich­be­hand­lung in Beschäfti­gung und Be­ruf heißt es:

Erwägungs­grund (24)

„Die Eu­ropäische Uni­on hat in ih­rer der Schluss­ak­te zum Ver­trag von Ams­ter­dam bei­gefügten Erklärung Nr. 11 zum Sta­tus der Kir­chen und welt­an­schau­li­chen Ge­mein­schaf­ten aus­drück­lich an­er­kannt, dass sie den Sta­tus, den Kir­chen und re­li­giöse Ver­ei­ni­gun­gen oder Ge­mein­schaf­ten in den Mit­glied­staa­ten nach de­ren Rechts­vor­schrif­ten ge­nießen, ach­tet und ihn nicht be­ein­träch­tigt und dass dies in glei­cher Wei­se für den Sta­tus von welt­an­schau­li­chen Ge­mein­schaf­ten gilt. Die Mit­glied­staa­ten können in die­ser Hin­sicht spe­zi­fi­sche Be­stim­mun­gen über die we­sent­li­chen, rechtmäßigen und ge­recht­fer­tig­ten be­ruf­li­chen An­for­de­run­gen bei­be­hal­ten oder vor­se­hen, die Vo-raus­set­zung für die Ausübung ei­ner dies­bezügli­chen be­ruf­li­chen Tätig­keit sein können.“

Ar­ti­kel 4

Be­ruf­li­che An­for­de­run­gen

„(1) (...) können die Mit­glied­staa­ten vor­se­hen, dass ei­ne Un­gleich­be­hand­lung we­gen [der Re­li-

- 14 -

auf­grund der Art ei­ner be­stimm­ten be­ruf­li­chen Tätig­keit oder der Be­din­gun­gen ih­rer Ausübung ei­ne we­sent­li­che und ent­schei­den­de be­ruf­li­che An­for­de­rung dar­stellt, so­fern es sich um ei­nen rechtmäßigen Zweck und ei­ne an­ge­mes­se­ne An­for­de­rung han­delt.

(2) Die Mit­glied­staa­ten können in Be­zug auf be­ruf­li­che Tätig­kei­ten in­ner­halb von Kir­chen und an­de­ren öffent­li­chen oder pri­va­ten Or­ga­ni­sa­tio­nen, de­ren Ethos auf re­li­giösen Grundsätzen oder Welt­an­schau­un­gen be­ruht, Be­stim­mun­gen in ih­ren (...) gel­ten­den Rechts­vor­schrif­ten bei­be­hal­ten oder in künf­ti­gen Rechts­vor­schrif­ten Be­stim­mun­gen vor­se­hen, die zum Zeit­punkt der An­nah­me die­ser Richt­li­nie be­ste­hen­de ein­zel­staat­li­che Ge­pflo­gen­hei­ten wi­der­spie­geln und wo­nach ei­ne Un­gleich­be­hand­lung we­gen der Re­li­gi­on oder Welt­an­schau­ung ei­ner Per­son kei­ne Dis­kri­mi­nie­rung dar­stellt, wenn die Re­li­gi­on oder die Welt­an­schau­ung die­ser Per­son nach der Art die­ser Tätig­kei­ten oder der Umstände ih­rer Ausübung ei­ne we­sent­li­che, rechtmäßige und ge­recht­fer­tig­te be­ruf­li­che An­for­de­rung an­ge­sichts des Ethos der Or­ga­ni­sa­ti­on dar­stellt. (...).
So­fern die Be­stim­mun­gen die­ser Richt­li­nie im übri­gen ein­ge­hal­ten wer­den, können die Kir­chen und an­de­ren öffent­li­chen oder pri­va­ten Or­ga­ni­sa­tio­nen, de­ren Ethos auf re­li­giösen Grundsätzen oder Welt­an­schau­un­gen be­ruht, im Ein­klang mit den ein­zel­staat­li­chen ver­fas­sungs­recht­li­chen Be­stim­mun­gen und Rechts­vor­schrif­ten von den für sie ar­bei­ten­den Per­so­nen ver­lan­gen, dass sie sich loy­al und auf­rich­tig im Sin­ne des Ethos der Or­ga­ni­sa­ti­on ver­hal­ten.“

RECHT­L­CHE WÜRDI­GUNG

I. DIE BE­HAUP­TE­TE VER­LET­ZUNG DES AR­TIKELS 8 DER KON­VEN­TION

28. Der Be­schwer­deführer be­haup­tet, sein Ehe­bruch recht­fer­ti­ge nicht sei­ne frist­lo­se Kündi­gung; fer­ner rügt er die Bestäti­gung die­ser Kündi­gung durch die Ar­beits­ge­rich­te und das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt. Er be­ruft sich auf Ar­ti­kel 8 der Kon­ven­ti­on, des­sen ein­schlägi­ger Pas­sus wie folgt lau­tet:

„(1) Je­de Per­son hat das Recht auf Ach­tung ih­res Pri­vat (...) -le­bens (....)

(2) Ei­ne Behörde darf in die Ausübung die­ses Rechts nur ein­grei­fen, so­weit der Ein­griff ge­setz­lich vor­ge­se­hen und in ei­ner de­mo­kra­ti­schen Ge­sell­schaft not­wen­dig ist ... zum Schutz der Rech­te und Frei­hei­ten an­de­rer.“

- 15 -

29. Die Re­gie­rung be­strei­tet die­se Be­haup­tung.

A. Zur Zulässig­keit

30. Der Ge­richts­hof stellt fest, dass die Be­schwer­de nicht of­fen­sicht­lich un­be­gründet im Sin­ne von Ar­ti­kel 35 Ab­satz 3 der Kon­ven­ti­on ist. Er stellt fer­ner fest, dass in Be­zug auf die Rüge kein an­de­rer Un­zulässig­keits­grund vor­liegt. Die Be­schwer­de ist da­her für zulässig zu erklären.

B. Zur Haupt­sa­che

1. Stel­lung­nah­men der Par­tei­en

a) Der Be­schwer­deführer

31. Der Be­schwer­deführer be­haup­tet, die Ar­beits­ge­rich­te hätten die in Re­de ste­hen­den In­ter­es­sen un­zu­rei­chend gewürdigt und ab­ge­wo­gen. Dies führe zu ei­nem Recht­spre­chungs-Au­to­ma­tis­mus zu­guns­ten der Kir­chen, die dem Be­trof­fe­nen zu­fol­ge im deut­schen Recht ei­nen pri­vi­le­gier­ten Sta­tus in­ne­ha­ben, den kei­ne an­de­re wohltäti­ge Or­ga­ni­sa­ti­on ge­nieße. Sein Recht auf Ach­tung sei­nes Pri­vat­le­bens oder sei­ner In­tim­sphäre sei­en von den Ar­beits­ge­rich­ten nicht ge­prüft wor­den. Ar­ti­kel 8 der Kon­ven­ti­on ver­lei­he ihm aber das Recht, ein Le­bens­mo­dell auf­zu­ge­ben und ein neu­es zu wählen. Der Be­trof­fe­ne be­haup­tet, dass die­ses Recht, auch wenn es das Recht der Kir­chen, ih­re An­ge­le­gen­hei­ten selbständig zu re­geln, nicht in Fra­ge stel­le, den­noch nicht so weit ge­hen dürfe, dass sie ih­re Beschäftig­ten zwin­gen können, Glau­benssätze über den be­ruf­li­chen Be­reich hin­aus zu be­fol­gen. Er trägt vor, dass die Ar­beits­ge­rich­te ih­re Recht­spre­chung in völlig un­vor­her­seh­ba­rer Wei­se aus­ge­dehnt hätten, da bis­her ei­ne Kündi­gung sei­nes Wis­sens nur im Fal­le ei­ner Wie­der­ver­hei­ra­tung und nicht auf­grund ei­ner außer­ehe­li­chen in­ti­men Be­zie­hung aus­ge­spro­chen wer­den durf­te. An­ge­sichts der Viel­zahl der kirch­li­chen Ge­bo­te man­ge­le es in die­ser Hin­sicht an Vor­her­seh­bar­keit; die Kündi­gung hänge schließlich al­lein von den An­sich­ten des je­wei­li­gen Per­so­nal­ver­ant­wort­li­chen ab. Die Rol­le des Ar­beits­ge­richts be­schränke sich so­mit dar­auf, den Wil­len des kirch­li­chen Ar­beit­ge­bers aus­zuführen. Nach An­sicht des Be­schwer­deführers liegt die Fol­ge die­ser Ten­denz dar­in, dass der Ar­beit­ge­ber und das Ar­beits­ge­richt ver­an­lasst wer­den, sich zu­neh­mend in das Pri­vat­le­ben der Beschäftig­ten ein­zu­mi­schen, um die als Grund­la­ge für die Kündi­gung die­nen­den Fak­ten zu er­mit­teln und zu würdi­gen. Im Übri­gen wer­de die Glaubwürdig-

- 16 -

keit ei­ner Kir­che nicht da­durch erschüttert, dass der ein oder an­de­re Beschäftig­te ei­ni­ge kirch­li­che Re­geln nicht ge­nau be­ach­te; dar­in ma­ni­fes­tie­re sich le­dig­lich das ty­pi­sche Mensch­sein der frag­li­chen Per­son.

32. Der Be­schwer­deführer hebt fer­ner her­vor, dass er nicht auf sei­ne Pri­vat­sphäre ver­zich­tet ha­be, als er den Ar­beits­ver­trag mit der mor­mo­ni­schen Kir­che un­ter­zeich­net ha­be. Un­ter Hin­weis auf die Macht, die je­der Ar­beit­ge­ber bei ei­ner Ein­stel­lung be­sit­ze, fügt er hin­zu, dass er je­den­falls kei­ne Wahl ge­habt ha­be, die pau­scha­le Klau­sel in § 10 des Ver­trags, ab­zu­leh­nen. Außer­dem be­haup­tet er, er ha­be im Zeit­punkt der Un­ter­zeich­nung des Ver­trags im Jahr 1986 nicht vor­her­se­hen können, dass er sich ei­nes Ta­ges von sei­ner Frau tren­nen würde. Der Be­schwer­deführer sieht Ehe­bruch nicht als das schwers­te Ver­ge­hen nach Mord an, denn an­de­re Ver­se des Bu­ches Mor­mon erwähn­ten die Möglich­keit der Reue und der Ver­ge­bung. Sein Vor­ge­setz­ter S. ha­be ihn fer­ner ge­zwun­gen, N. sei­ne außer­ehe­li­che Be­zie­hung zu of­fen­ba­ren. Wie dem auch sei, er ha­be auf­grund sei­ner Stel­lung als ein­fa­cher Mit­ar­bei­ter, der le­dig­lich den Ge­bietspräsi­den­ten zu­zu­ar­bei­ten hat­te, der sei­ner­seits die Mor­mo­nen­kir­che nach außen ver­tre­ten ha­be, kei­nen ge­stei­ger­ten Loya­litäts­pflich­ten un­ter­le­gen.

33. Der Be­schwer­deführer be­haup­tet schließlich, dass die Grund­satz­ent­schei­dung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts von 1985 nicht sei­ne Pri­vat­sphäre be­tref­fe, dass der von der Re­gie­rung gel­tend ge­mach­te Er­mes­sens­spiel­raum nicht ge­ge­ben sei, da die Öffent­lich­keit in Deutsch­land sich im­mer we­ni­ger für Wie­der­ver­hei­ra­tun­gen in­ter­es­sie­re und die eu­ropäische Richt­li­nie 2000/78/EG nur die Fra­ge der Ein­stel­lung und nicht die der Kündi­gung nach lan­ger Beschäfti­gungs­dau­er be­hand­le.

b) Die Re­gie­rung

34. Die Re­gie­rung be­haup­tet, dass die Mor­mo­nen­kir­che trotz ih­res Sta­tus als öffent­lich-recht­li­che Körper­schaft nicht zur öffent­li­chen Ge­walt zählt. Es lie­ge da­her kein Ein­griff durch die staat­li­che Ge­walt in die Rech­te des Be­schwer­deführers vor. Die Re­gie­rung ist da­her der Auf­fas­sung, dass die von den Ar­beits­ge­rich­ten an­geführ­te Ver­feh­lung al­lein un­ter dem Blick­win­kel der Schutz­pflicht des Staa­tes be­ur­teilt wer­den könne. Da es kei­nen ge­mein­sa­men Stan­dard der Mit­glied­staa­ten ge­be, sei der Ge­stal­tungs­spiel­raum weit, zu­mal es sich hier um ei­nen Be­reich han­de­le, der mit re­li­giösen Gefühlen, Tra­di­tio­nen und der Re­li­gi­on ver­bun­den sei. Die Re­gie­rung ruft in Er­in­ne­rung, dass die Eu­ropäische Kom­mis­si­on für Men­schen­rech­te im Übri­gen die Erwägungs­gründe im Ur­teil des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts vom

- 17 -

4. Ju­ni 1985 bestätigt hat­te, auf die das Bun­des­ar­beits­ge­richt im vor­lie­gen­den Fall Be­zug ge­nom­men hat­te (R. ./. Deutsch­land, Nr. 12242/86, Ent­schei­dung der Kom­mis­si­on vom 6. Sep­tem­ber 1989, Ent­schei­dun­gen und Be­rich­te 62, 151).

35. Die Re­gie­rung legt an­sch­ließend dar, dass die Ar­beits­ge­rich­te, die über ei­nen Rechts­streit zwi­schen zwei Rech­te­inha­bern zu ent­schei­den hat­ten, die In­ter­es­sen des Be­schwer­deführers und das Recht der Mor­mo­nen­kir­che, ih­re An­ge­le­gen­hei­ten nach Ar­ti­kel 137 der Wei­ma­rer Reichs­ver­fas­sung au­to­nom zu re­geln, ab­zuwägen hat­ten. Sie ver­tritt die Auf­fas­sung, das Ar­beits­ge­richt sei bei der An­wen­dung der Kündi­gungs­vor­schrif­ten ge­hal­ten ge­we­sen, den Grundsätzen der Mor­mo­nen­kir­che Rech­nung zu tra­gen, da es den Kir­chen und Re­li­gi­ons­ge­mein­schaf­ten selbst nach ih­rem Selbst­be­stim­mungs­recht ob­lie­ge, die Loya­litäts­pflich­ten fest­zu­le­gen, die ih­re Ar­beit­neh­mer zu be­ach­ten ha­ben, um die Glaubwürdig­keit die­ser Kir­chen und Re­li­gi­ons­ge­mein­schaf­ten zu be­wah­ren. Die Re­gie­rung führt aus, dass so­mit die Berück­sich­ti­gung kirch­li­cher Vor­ga­ben nicht schran­ken­los ist und die staat­li­chen Ge­rich­te nicht ei­ne Vor­schrift an­wen­den dürfen, die den all­ge­mei­nen Grundsätzen der Rechts­ord­nung zu­wi­derläuft. Mit an­de­ren Wor­ten: Die kirch­li­chen Ar­beit­ge­ber können zwar ih­ren Beschäftig­ten Loya­litäts­pflich­ten auf­er­le­gen, doch ist es nicht ih­re Auf­ga­be, Kündi­gungs­gründe fest­zu­le­gen, was durch die Aus­le­gung der ge­setz­li­chen Vor­schrif­ten zum Kündi­gungs­schutz sei­tens des Ge­richts er­folgt.

36. Das Bun­des­ar­beits­ge­richt und an­sch­ließend das Lan­des­ar­beits­ge­richt hätten die­se Grundsätze auf den vor­lie­gen­den Fall an­ge­wandt und die in Re­de ste­hen­den In­ter­es­sen gebührend ab­ge­wo­gen, nämlich die Art der Stel­lung, die der Be­schwer­deführer be­klei­de­te (Aus­bil­dung von 170 Mit­ar­bei­tern), die Schwe­re der Ver­feh­lung nach der Wahr­neh­mung der Mor­mo­nen­kir­che (wie­der­hol­ter Ehe­bruch), das Al­ter des Be­schwer­deführers (34 Jah­re) und die Dau­er sei­ner Beschäfti­gung (sie­ben Jah­re). Die Re­gie­rung fügt hin­zu, dass ei­ne Kündi­gung zwar tatsächlich die im deut­schen Ar­beits­recht aus­zu­spre­chen­de schwers­te Sank­ti­on sei (ul­ti­ma ra­tio), doch ei­ne we­ni­ger schwer­wie­gen­de Maßnah­me, bei­spiels­wei­se ei­ne Ab­mah­nung, vor­lie­gend nicht ge­bo­ten ge­we­sen sei, da ih­res Er­ach­tens der Be­schwer­deführer kei­nen Zwei­fel dar­an ha­ben konn­te, dass sein Ar­beit­ge­ber sein Ver­hal­ten nicht to­le­rie­ren würde. Sie weist dar­auf hin, dass der Be­schwer­deführer frei­wil­lig den Ar­beits­ver­trag mit der Mor­mo­nen­kir­che ab­ge­schlos­sen ha­be, in dem für be­stimm­te Ämter ge­stei­ger­te Loya­litäts-pflich­ten vor­ge­se­hen wa­ren. Der Be­schwer­deführer ha­be so­mit der Be­schränkung sei­ner Rech­te zu­ge­stimmt, was nach den Be­stim­mun­gen der Kon­ven­ti­on möglich sei (vor­ge­nann­te Ent­schei­dung R.). Da er in der Mor­mo­nen­kir­che auf­ge­wach­sen sei, hätten ihm die grund­le-

- 18 -

gen­de Be­deu­tung der Treue der Ehe­gat­ten in­ner­halb die­ser Kir­che und die et­wai­gen Fol­gen sei­nes Ehe­bruchs be­wusst sein müssen. Sch­ließlich trägt die Re­gie­rung vor, dass die Tat­sa­che, dass die Loya­litäts­pflich­ten sich auf das Pri­vat­le­ben des Ar­beit­neh­mers aus­wir­ken können, für zwi­schen kirch­li­chen Ar­beit­ge­bern und ih­ren Mit­ar­bei­ter ge­schlos­se­ne Verträge be­zeich­nend sei.

c) Die Dritt­be­tei­lig­te

37. Die Mor­mo­nen­kir­che pflich­tet im We­sent­li­chen den Schluss­fol­ge­run­gen der Re­gie­rung bei und be­tont, dass ih­res Er­ach­tens die Fest­stel­lung ei­ner Ver­let­zung der Kon­ven­ti­on ei­nen schwe­ren Ein­griff dar­stellt, der eu­ro­pa­weit Fol­gen für die Ar­beits­verhält­nis­se al­ler Re­li­gi­ons­ge­mein­schaf­ten hätte. Die Selbständig­keit die­ser Ge­mein­schaf­ten sei für den re­li­giösen Plu­ra­lis­mus in ei­ner de­mo­kra­ti­schen Ge­sell­schaft un­ab­ding­bar. Es sei Auf­ga­be der Kir­chen ih­re Art der Or­ga­ni­sa­ti­on zu be­stim­men und über die Be­deu­tung der Vor­ga­ben für sie und ih­re Mit­glie­der zu ent­schei­den. Die­se Vor­ga­ben müss­ten als Be­stand­teil der Iden­tität der Kir­che von den staat­li­chen welt­li­chen Behörden be­ach­tet wer­den, selbst in den Fällen, in de­nen nicht so stren­ge Stan­dards im Hin­blick auf das welt­li­che Recht und die welt­li­chen Über­zeu­gun­gen An­wen­dung fin­den könn­ten.
38. Die Mor­mo­nen­kir­che fügt hin­zu, dass ih­re An­for­de­run­gen an das Ver­hal­ten ih­rer Gläubi­gen si­cher hoch sind. Das Ver­bot des Ehe­bruchs sei nicht nur ei­ne Re­gel un­ter zahl-rei­chen an­de­ren, son­dern ei­nes der wich­tigs­ten Ge­bo­te und ste­he im Zen­trum ih­rer Glau­bens­leh­re. Ech­te Reue ge­bie­te es dem Be­trof­fe­nen, sei­ne Hand­lun­gen zu ge­ste­hen, die Ab­sicht zu zei­gen, die vor­he­ri­ge Si­tua­ti­on wie­der her­zu­stel­len, dem Ehe­bruch ein En­de zu set­zen und die Fol­gen sei­ner Sünde, die bei­spiels­wei­se in ei­nem Ar­beits­ver­trag vor­ge­se­hen sind, zu tra­gen.

2. Die Würdi­gung durch den Ge­richts­hof

39. Der Ge­richts­hof ruft in Er­in­ne­rung, dass der Be­griff „Pri­vat­le­ben“ weit ge­fasst ist und nicht ab­sch­ließend de­fi­niert wer­den kann. Die­ser Be­griff be­zieht sich auf die körper­li­che und mo­ra­li­sche Un­ver­sehrt­heit ei­ner Per­son und um­fasst ge­le­gent­lich As­pek­te der phy­si­schen und so­zia­len Iden­tität ei­ner Per­son, dar­un­ter das Recht, Be­zie­hun­gen zu an­de­ren Men­schen zu knüpfen und zu ent­wi­ckeln, das Recht auf „persönli­che Ent­fal­tung“ oder das Recht auf

- 19 -

Selbst­be­stim­mung als sol­ches. Der Ge­richts­hof weist auch dar­auf hin, dass die­se As­pek­te, wie bei­spiels­wei­se die se­xu­el­le Iden­tität, der Na­me, die se­xu­el­le Aus­rich­tung und das Se­xu­al­le­ben zu der durch Ar­ti­kel 8 geschütz­ten Persönlich­keits­sphäre zählen (E.B. ./. Frank­reich [GK], Nr. 43546/02, Rd­nr. 43, CEDH 2008-..., und Schlumpf ./. Schweiz, Nr. 29002/06, Rd­nr. 100, 8. Ja­nu­ar 2009).

40. Der Ge­richts­hof stellt im vor­lie­gen­den Fall zunächst fest, dass der Be­schwer­deführer nicht staat­li­ches Han­deln rügt, son­dern den Um­stand, dass die­ser sei­ne Pri­vat­sphäre nicht ge­gen den Ein­griff sei­nes Ar­beit­ge­bers geschützt hat. Hier­zu macht er gleich zu Be­ginn dar­auf auf­merk­sam, dass die Mor­mo­nen­kir­che trotz ih­res Sta­tus als öffent­lich-recht­li­che Körper­schaft nach deut­schen Recht kei­ne ho­heit­li­chen Rech­te ausübt (vgl. vor­ge­nann­te Ent­schei­dung R., Fins­ka Försam­lin­gen i Stock­holm und Teu­vo Hau­ta­nie­mi ./. Schwe­den, Ent­schei­dung der Kom­mis­si­on vom 11. April 1996, Nr. 24019/94, und Pre­do­ta ./. Öster­reich (Entsch.), Nr. 28962/95, 18. Ja­nu­ar 2000).

41. Der Ge­richts­hof macht an­sch­ließend deut­lich, dass Ar­ti­kel 8 zwar grundsätz­lich zum Ziel hat, den Ein­zel­nen vor willkürli­chen behörd­li­chen Ein­grif­fen zu schützen, sich je­doch nicht dar­auf be­schränkt, dem Staat auf­zu­er­le­gen, sich sol­cher Ein­grif­fe zu ent­hal­ten: Zu die­ser ne­ga­ti­ven Ver­pflich­tung können po­si­ti­ve Ver­pflich­tun­gen hin­zu­kom­men, die Be­stand­teil ei­ner wirk­sa­men Ach­tung des Pri­vat- und Fa­mi­li­en­le­bens sind. Die­se können Maßnah­men er­for­der­lich ma­chen, die der Ach­tung der Pri­vat­sphäre die­nen und bis in die Be­zie­hun­gen zwi­schen den Ein­zel­nen un­ter­ein­an­der rei­chen. Die Ab­gren­zung der po­si­ti­ven von den ne­ga­ti­ven Ver­pflich­tun­gen des Staa­tes aus Ar­ti­kel 8 eig­net sich zwar nicht für ei­ne präzi­se Be­stim­mung, doch sind die an­wend­ba­ren Grundsätze durch­aus ver­gleich­bar. In bei­den Fällen ist ins­be­son­de­re das zwi­schen dem All­ge­mein­in­ter­es­se und den In­ter­es­sen des Ein­zel­nen her­zu­stel­len­de aus­ge­wo­ge­ne Gleich­ge­wicht zu berück­sich­ti­gen, wo­bei der Staat in je­dem Fall über ei­nen Er­mes­sens­spiel­raum verfügt (Evans ./. Ver­ei­nig­tes König­reich [GK], Nr. 6339/05, Rd­nrn. 75-76, CEDH 2007-IV, vor­ge­nann­te Ent­schei­dung R.; sie­he auch Fu­en­tes Bo­bo ./. Spa­ni­en, Nr. 39293/98, Rd­nr. 38, 29. Fe­bru­ar 2000).

42. Der Ge­richts­hof führt fer­ner aus, dass der dem Staat ein­geräum­te Ge­stal­tungs­spiel­raum wei­ter ist, wenn es in­ner­halb der Mit­glied­staa­ten des Eu­ro­pa­rats kei­nen Kon­sens über die Be­deu­tung der in Re­de ste­hen­den In­ter­es­sen oder über die bes­ten Mit­tel zu ih­rem Schutz gibt. Der Spiel­raum ist ganz all­ge­mein auch weit, wenn der Staat ei­nen ge­rech­ten Aus­gleich zwi­schen kon­kur­rie­ren­den pri­va­ten und öffent­li­chen In­ter­es­sen oder ver­schie­de-

- 20 -

nen kon­ven­ti­ons­recht­lich geschütz­ten Rech­ten her­bei­zuführen hat (vor­ge­nann­te Rechts­sa­che Evans, Rd­nr. 77).

43. Die grund­le­gen­de Fra­ge, die sich im vor­lie­gen­den Fall stellt, lau­tet dem­nach, ob der Staat im Rah­men sei­ner Schutz­pflich­ten aus Ar­ti­kel 8 ver­pflich­tet war an­zu­er­ken­nen, dass dem Be­schwer­deführer im Zu­sam­men­hang mit der von der Mor­mo­nen­kir­che aus­ge­spro­che­nen Kündi­gung das Recht auf Ach­tung sei­nes Pri­vat­le­bens zu­stand. Folg­lich hat der Ge­richt­hof bei der Prüfung der von den deut­schen Ar­beits­ge­rich­ten vor­ge­nom­me­nen Abwägung die­ses Rechts des Be­schwer­deführers mit dem Recht der Mor­mo­nen­kir­che aus den Ar­ti­keln 9 und 11 zu er­mit­teln, ob das Maß des dem Be­schwer­deführer ge­bo­te­nen Schut­zes aus­rei­chend war oder nicht.

44. In die­ser Hin­sicht weist der Ge­richts­hof dar­auf hin, dass die Re­li­gi­ons­ge­mein­schaf­ten tra­di­tio­nell und welt­weit in Form or­ga­ni­sier­ter Struk­tu­ren exis­tie­ren; wenn die Or­ga­ni­sa­ti­on ei­ner sol­chen Ge­mein­schaft in Re­de steht, ist al­so Ar­ti­kel 9 im Lich­te des Ar­ti­kels 11 der Kon­ven­ti­on aus­zu­le­gen, der die Ver­ei­ni­gungs­frei­heit vor jeg­li­chem un­ge­recht­fer­tig­ten staat­li­chen Ein­griff schützt. Ih­re für den Plu­ra­lis­mus in ei­ner de­mo­kra­ti­schen Ge­sell­schaft un­ver­zicht­ba­re Au­to­no­mie gehört nämlich zum Kern­be­stand des Schut­zes, den Ar­ti­kel 9 ver­mit­telt. Der Ge­richts­hof legt fer­ner dar, dass das Recht auf Re­li­gi­ons­frei­heit im Sin­ne der Kon­ven­ti­on außer in ex­tre­men Aus­nah­mefällen jeg­li­che Be­ur­tei­lung sei­tens des Staa­tes im Hin­blick auf die Rechtmäßig­keit des re­li­giösen Be­kennt­nis­ses oder die Art und Wei­se, in der es zum Aus­druck ge­bracht wird, aus­sch­ließt (Has­san und Tchaouch ./. Bul­ga­ri­en [GK], Nr. 30985/96, Rd­nrn. 62 und 78, CEDH 2000-XI). Geht es schließlich um Fra­gen über das Verhält­nis zwi­schen Staat und Re­li­gio­nen, hin­sicht­lich de­rer in ei­ner de­mo­kra­ti­schen Ge­sell­schaft be­rech­tig­ter­wei­se tief­grei­fen­de Di­ver­gen­zen herr­schen können, ist der Rol­le der na­tio­na­len Ent­schei­dungs­träger be­son­de­re Be­deu­tung bei­zu­mes­sen (Ley­la Þahin ./. Türkei [GK], Nr. 44774/98, Rd­nr. 108, CEDH 2005-XI).

45. Der Ge­richts­hof stellt zunächst her­aus, dass Deutsch­land, in­dem es ein Ar­beits­ge­richts­sys­tem so­wie ein Ver­fas­sungs­ge­richt, das für die Kon­trol­le der durch die Ar­beits­ge­rich­te er­gan­ge­nen Ent­schei­dun­gen zuständig ist, ein­ge­rich­tet hat, sei­ne Schutz­pflicht ge­genüber den Recht­su­chen­den im ar­beits­recht­li­chen Be­reich erfüllt hat, in dem die Strei­tig­kei­ten ganz all­ge­mein die Rech­te der Be­trof­fe­nen aus Ar­ti­kel 8 der Kon­ven­ti­on berühren. Folg­lich hat­te der Be­schwer­deführer im vor­lie­gen­den Fall die Möglich­keit, das Ar­beits­ge­richt mit sei­nem Fall zu be­fas­sen, das die Rechtmäßig­keit der strei­ti­gen Kündi­gung un­ter dem Blick­win­kel

- 21 -

des staat­li­chen Ar­beits­rechts un­ter Berück­sich­ti­gung des kirch­li­chen Ar­beits­rechts zu un­ter­su­chen und die wi­der­strei­ten­den In­ter­es­sen des Be­schwer­deführers und des kirch­li­chen Ar­beit­ge­bers ab­zuwägen hat­te.

46. Der Ge­richts­hof merkt da­nach an, dass das Bun­des­ar­beits­ge­richt mit sei­nem Ur­teil vom 24. April 1997 sich um­fas­send auf die vom Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt in sei­nem Ur­teil vom 4. Ju­ni 1985 auf­ge­stell­ten Grundsätze be­zo­gen hat (Rd­nr. 26 oben). Das Bun­des­ar­beits­ge­richt hat ins­be­son­de­re her­aus­ge­stellt, dass die An­wend­bar­keit des staat­li­chen Ar­beits­rechts zwar nicht die Zu­gehörig­keit der Ar­beits­verhält­nis­se zu den ei­ge­nen An­ge­le­gen­hei­ten der Kir­chen hin­de­re, das Ar­beits­ge­richt je­doch nur un­ter der Vor­aus­set­zung an die tra­gen­den Grundsätze der Glau­bens- und Sit­ten­leh­re kirch­li­cher Ar­beit­ge­ber ge­bun­den sei, dass die­se Leh­re der Leh­re der ver­fass­ten Kir­chen Rech­nung trägt und nicht im Wi­der­spruch zu den Grund­prin­zi­pi­en der Rechts­ord­nung steht.

47. In Be­zug auf die An­wen­dung die­ser Kri­te­ri­en auf den Fall des Be­schwer­deführers stellt der Ge­richts­hof fest, dass das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt der Mei­nung war, dass die Vor­ga­ben der Mor­mo­nen­kir­che hin­sicht­lich der ehe­li­chen Treue den Grund­prin­zi­pi­en der Rechts­ord­nung nicht wi­der­spre­chen, weil der Ehe auch in an­de­ren Re­li­gio­nen und im Grund­ge­setz ei­ne her­aus­ra­gen­de Be­deu­tung zu­kom­me. Das Bun­des­ar­beits­ge­richt be­ton­te in die­sem Zu­sam­men­hang, dass die Mor­mo­nen­kir­che die Kündi­gung nur des­halb auf den Ehe­bruch des Be­schwer­deführer ha­be stützen können, weil der Be­trof­fe­ne selbst ihr die In­for­ma­tio­nen über den Ehe­bruch zur Kennt­nis ge­bracht ha­be. Nach­dem es die Ar­gu­men­te der Par­tei­en ge­prüft hat­te, ge­lang­te es zu dem Schluss, dass der Be­schwer­deführer aus ei­ge­nem An­trieb sei­nen Ar­beit­ge­ber über sein Ver­hal­ten, das die Kündi­gung be­ding­te, un­ter­rich­tet hat und dass ins­be­son­de­re sei­ne Be­haup­tun­gen zum rein seel­sor­ge­ri­schen Cha­rak­ter sei­ner Gespräche mit S., dann mit N., kei­ne Grund­la­ge in den er­wie­se­nen Tat­sa­chen fänden und im Wi­der­spruch zu der nicht vor­han­de­nen seel­sor­ge­ri­schen Kom­pe­tenz von N. stünden.

48. Dar­auf­hin stellt der Ge­richts­hof fest, dass dem Bun­des­ar­beits­ge­richt zu­fol­ge die Kündi­gung ei­ne er­for­der­li­che Maßnah­me war, um die Glaubwürdig­keit der Mor­mo­nen­kir­che zu be­wah­ren, vor al­lem an­ge­sichts der Art der Po­si­ti­on, die der Be­schwer­deführer in­ne­hat­te, und der Be­deu­tung, die der ab­so­lu­ten Treue zum Ehe­gat­ten in der Kir­che zu­kommt. Das ho­he Ge­richt hat auch aus­geführt, wes­halb die Mor­mo­nen­kir­che nicht ver­pflich­tet war, zunächst ei­ne we­ni­ger schwe­re Sank­ti­on, bei­spiels­wei­se ei­ne Ab­mah­nung, aus­zu­spre­chen. Der Ge­richts­hof führt wei­ter­hin aus, dass nach An­sicht des Lan­des­ar­beits­ge­richts der Scha-

- 22 -

den des Be­schwer­deführers durch die Kündi­gung an­ge­sichts sei­nes Al­ters, der Dau­er sei­ner Beschäfti­gung und der Tat­sa­che, dass dem Be­trof­fe­nen, der in der Mor­mo­nen­kir­che auf­ge­wach­sen ist und dort ver­schie­de­ne Ämter be­klei­det hat, hätte be­wusst sein müssen, für wie schwer­wie­gend sein Ar­beit­ge­ber sei­ne Hand­lun­gen be­wer­tet, zu­mal es sich nicht um ei­nen ein­ma­li­gen Fehl­tritt, son­dern um ei­ne länger an­dau­ern­de außer­ehe­li­che Be­zie­hung han­del­te, be­grenzt ist.

49. Der Ge­richts­hof weist auch dar­auf hin, dass sich die Ar­beits­ge­rich­te mit der Fra­ge aus­ein­an­der­ge­setzt ha­ben, ob die Kündi­gung des Be­schwer­deführers auf den zwi­schen dem Be­trof­fe­nen und der Mor­mo­nen­kir­che ge­schlos­se­nen An­stel­lungs­ver­trag gestützt wer­den konn­te und ob sie in Ein­klang mit § 626 des Bürger­li­chen Ge­setz­bu­ches stand. Sie ha­ben al­le sach­dien­li­chen As­pek­te berück­sich­tigt und die be­trof­fe­nen In­ter­es­sen ein­ge­hend und um­fas­send ab­ge­wo­gen. Dass sie der Mor­mo­nen­kir­che das Recht zu­er­kannt ha­ben, ih­ren Beschäfti­gen Loya­litäts­pflich­ten auf­zu­er­le­gen, und dass sie schließlich den In­ter­es­sen der Mor­mo­nen­kir­che mehr Ge­wicht bei­ge­mes­sen ha­ben als den In­ter­es­sen des Be­schwer­deführers, kann ei­gent­lich mit Blick auf die Kon­ven­ti­on kein Pro­blem auf­wer­fen. Hier­zu stellt der Ge­richts­hof fest, dass dem Bun­des­ar­beits­ge­richt zu­fol­ge die Ar­beits­ge­rich­te nicht un­ein­ge­schränkt an die Vor­ga­ben der Kir­chen und Re­li­gi­ons­ge­mein­schaf­ten ge­bun­den wa­ren, son­dern dafür Sor­ge zu tra­gen hat­ten, dass die­se nicht ih­ren Beschäfti­gen un­an­nehm­ba­re Loya­litäts­pflich­ten auf­er­le­gen.

50. Der Ge­richts­hof hält die Schuss­fol­ge­run­gen der Ar­beits­ge­rich­te, de­nen zu­fol­ge der Be­schwer­deführer kei­nen un­an­nehm­ba­ren Ver­pflich­tun­gen un­ter­wor­fen wur­de, für nicht un­an­ge­mes­sen. Der Ge­richts­hof ver­tritt nämlich die Auf­fas­sung, dass dem Be­trof­fe­nen, da er in der Mor­mo­nen­kir­che auf­ge­wach­sen war, bei der Un­ter­zeich­nung des An­stel­lungs­ver­trags und ins­be­son­de­re des § 10 des Ver­trags (über die Ein­hal­tung „ho­her mo­ra­li­scher Grundsätze“) be­wusst war oder hätte be­wusst sein müssen, wel­che Be­deu­tung sein Ar­beit­ge­ber der ehe­li­chen Treue bei­misst (sie­he ent­spre­chend Ahti­nen ./. Finn­land, Nr. 48907/99, Rd­nr. 41, 23. Sep­tem­ber 2008) und dass sei­ne außer­ehe­li­che Be­zie­hung, die er ein­ge­gan­gen war, mit den ge­stei­ger­ten Loya­litätsob­lie­gen­hei­ten, zu de­nen er sich ge­genüber der Mor­mo­nen­kir­che als Ge­biets­di­rek­tor Eu­ro­pa in der Ab­tei­lung Öffent­lich­keits­ar­beit ver­pflich­tet hat­te, un­ver­ein­bar ist.

- 23 -

51. Nach An­sicht des Ge­richts­hofs ist die Tat­sa­che, dass die Kündi­gung auf ein Ver­hal­ten aus der Pri­vat­sphäre des Be­schwer­deführers gestützt wur­de, und dies ge­schah, oh­ne dass der Fall in die Me­di­en ge­lang­te oder das frag­li­che Ver­hal­ten be­deu­ten­de öffent­li­che Aus­wir­kun­gen hat­te, im vor­lie­gen­den Fall nicht aus­schlag­ge­bend. Er stellt fest, dass sich die be­son­de­re Art der dem Be­schwer­deführer auf­er­leg­ten be­ruf­li­chen An­for­de­run­gen aus der Tat­sa­che er­ge­ben, dass sie von ei­nem Ar­beit­ge­ber fest­ge­legt wur­den, des­sen Ethos auf re­li­giösen Grundsätzen oder Welt­an­schau­un­gen be­ruht (sie­he Rd­nr. 27 oben, Ar­ti­kel 4 der Richt­li­nie 2000/78/EG; sie­he auch Lom­bar­di Vallau­ri ./. Ita­lie, Nr. 39128/05, Rd­nr. 41, CEDH 2009-... (Auszüge)). Er ist hier­bei der Mei­nung, dass die Ar­beits­ge­rich­te hinläng­lich nach­ge­wie­sen ha­ben, dass die dem Be­schwer­deführer auf­er­leg­ten Loya­litäts­pflich­ten an­nehm­bar wa­ren, in­so­fern als sie die Glaubwürdig­keit der Mor­mo­nen­kir­che be­wah­ren soll­ten. Wei­ter­hin stellt er her­aus, dass das Lan­des­ar­beits­ge­richt ein­deu­tig dar­ge­legt hat, dass sei­ne Schluss­fol­ge­run­gen nicht so zu ver­ste­hen sei­en, als würden sie be­deu­ten, dass je­der Ehe­bruch an sich ei­nen Grund für ei­ne [frist­lo­se] Kündi­gung ei­nes kirch­li­chen Beschäftig­ten dar­stellt, son­dern dass es auf­grund der Schwe­re des Ehe­bruchs in den Au­gen der Mor­mo­nen­kir­che und der her­aus­ra­gen­den Po­si­ti­on, die der Be­schwer­deführer be­klei­de­te und die ihn ge­stei­ger­ten Loya­litäts­pflich­ten un­ter­warf, zu die­sem Schluss ge­langt sei.

52. An­ge­sichts des Er­mes­sens­spiel­raums des Staa­tes im vor­lie­gen­den Fall (Rd­nr. 42 oben) und ins­be­son­de­re der Tat­sa­che, dass die Ar­beits­ge­rich­te ei­nen ge­rech­ten Aus­gleich zwi­schen meh­re­ren pri­va­ten In­ter­es­sen her­beiführen muss­ten, er­ach­tet der Ge­richts­hof die­se As­pek­te für aus­rei­chend, um zu dem Schluss zu ge­lan­gen, dass im vor­lie­gen­den Fall Ar­ti­kel 8 der Kon­ven­ti­on dem deut­schen Staat nicht auf­er­leg­te, dem Be­schwer­deführer ei­nen höhe­ren Schutz zu bie­ten.

53. In­fol­ge­des­sen ist die­ser Ar­ti­kel vor­lie­gend nicht ver­letzt wor­den.

- 24 -

AUS DIESEN GRÜNDEN ENT­SCHEI­DET DER GERICH­TSHOF EINSTIM­MIG:

1. Er erklärt die Be­schwer­de für zulässig.

2. Er ent­schei­det, dass Ar­ti­kel 8 der Kon­ven­ti­on nicht ver­letzt wor­den ist.

Aus­ge­fer­tigt in französi­scher Spra­che und an­sch­ließend am 23. Sep­tem­ber 2010 gemäß Ar­ti­kel 77 Absätze 2 und 3 der Ver­fah­rens­ord­nung schrift­lich über­mit­telt.

 

Clau­dia Wes­ter­diek 

Kanz­le­rin

 

Peer Lo­ren­zen

Präsi­dent


Weitere Auskünfte erteilen Ihnen gern:

Dr. Martin Hensche
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Kontakt:
030 / 26 39 620
hensche@hensche.de
Christoph Hildebrandt
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Kontakt:
030 / 26 39 620
hildebrandt@hensche.de
Nina Wesemann
Rechtsanwältin
Fachanwältin für Arbeitsrecht

Kontakt:
040 / 69 20 68 04
wesemann@hensche.de

Auf Facebook teilen Auf Google+ teilen Ihren XING-Kontakten zeigen Beitrag twittern

 


zur Übersicht 425/03