HENSCHE RECHTSANWÄLTE, FACHANWALTSKANZLEI FÜR ARBEITSRECHT

 

LAG Ber­lin-Bran­den­burg, Ur­teil vom 16.09.2010, 2 Sa 509/10

   
Schlagworte: Kündigung: Außerordentlich
   
Gericht: Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen: 2 Sa 509/10
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 16.09.2010
   
Leitsätze:

1. Vermögensstraftaten gegenüber dem Arbeitgeber sind als "wichtiger Grund" im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB "an sich" zum Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung geeignet. Die Wirksamkeit der Kündigung ist dann im Rahmen einer auf den Einzelfall bezogenen umfassenden Interessenabwägung zu prüfen (ständige Rechtsprechung des BAG).

2. Den Hinweisen, die der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts ausweislich der Pressemitteilung in seiner nunmehrigen Entscheidung vom 10.06.2010 (BAG vom 10.06.2010 - 2 AZR 541/09 - "Pfandbon") für die diesbezüglich anzustellende Interessenabwägung gegeben hat, ist zu entnehmen, dass einer sehr langjährigen beanstandungsfreien Betriebszugehörigkeit und dem damit angesammelten Vertrauenskapital ein sehr hoher Wert im Rahmen der Interessenabwägung zukommt, so dass auch eine erhebliche Pflichtverletzung - jedenfalls im "Erstfalle" - nicht ohne weiteres zu einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses führen muss.

3. Dieser Gesichtspunkt, der im dortigen Fall bei einer erheblichen Pflichtwidrigkeit einer Kassiererin sogar im Kernbereich ihrer Tätigkeit an der Kasse zu einer Unwirksamkeit der Kündigung führte, war im Streitfalle in noch höherem Maße zugunsten der seit 40 Jahren beschäftigten Klägerin zu berücksichtigen, die in einer besonderen Ausnahmesituation außerhalb des Kernbereichs ihrer Tätigkeit eine Betrugshandlung gegenüber dem Arbeitgeber mit einem Schadensbetrag von rd. 150,- € vorgenommen hatte.

Vorinstanzen: Arbeitsgericht Berlin, Urteil vom 4.02.2010, 24 Ca 12088/09
   

Lan­des­ar­beits­ge­richt

Ber­lin-Bran­den­burg

 

Verkündet

am 16. Sep. 2010

Geschäfts­zei­chen (bit­te im­mer an­ge­ben)

2 Sa 509/10

24 Ca 12088/09
Ar­beits­ge­richt Ber­lin

G.-K., VA
als Ur­kunds­be­am­ter/in
der Geschäfts­stel­le


Im Na­men des Vol­kes

 

Ur­teil


In Sa­chen

pp 

hat das Lan­des­ar­beits­ge­richt Ber­lin-Bran­den­burg, 2. Kam­mer,
auf die münd­li­che Ver­hand­lung vom 3. Au­gust 2010
durch den Vi­ze­präsi­den­ten des Lan­des­ar­beits­ge­richts Dr. B. als Vor­sit­zen­den
so­wie die eh­ren­amt­li­chen Rich­te­rin­nen K. und J.
für Recht er­kannt:

I. Auf die Be­ru­fung der Kläge­rin wird das Ur­teil des Ar­beits­ge­richts Ber­lin vom
04.02.2010 - 24 Ca 12088/09 – geändert:

1. Es wird fest­ge­stellt, dass das Ar­beits­verhält­nis der Kläge­rin durch die Kündi­gung der Be­klag­ten vom 23.06.2009 nicht auf­gelöst ist.

 

- 3 -

2. Die Be­klag­te wird ver­ur­teilt, die Kläge­rin bis zum rechts­kräfti­gen Ab­schluss des Ver­fah­rens zu un­veränder­ten Be­din­gun­gen als Mit­ar­bei­te­rin Ser­vice- Team wei­ter­zu­beschäfti­gen.

3. Die Kos­ten des Rechts­streits wer­den der Be­klag­ten auf­er­legt.

II. Die Re­vi­si­on wird nicht zu­ge­las­sen.


Dr. B. J. K.

 

- 4 -

Tat­be­stand

Die Par­tei­en strei­ten über die Rechts­wirk­sam­keit ei­ner außer­or­dent­li­chen Kündi­gung sei­tens der Be­klag­ten vom 23.06.2009, die hilfs­wei­se mit so­zia­ler Aus­lauf­frist zum 31.12.2009 aus­ge­spro­chen wur­de.

Die 1951 ge­bo­re­ne Kläge­rin steht bei der Be­klag­ten, ei­nem Un­ter­neh­men des Bahn­ver­kehrs, seit dem 01.09.1968 in ei­nem Ar­beits­verhält­nis; zu­letzt war sie als Zu­gan­sa­ge­rin im Bahn­hof S. ge­gen ein Brut­to­mo­nats­ent­gelt von rund 2.000,00 € tätig. Auf das Ar­beits­verhält­nis fin­det der Man­tel­ta­rif­ver­trag Schie­ne An­wen­dung; nach des­sen Re­ge­lun­gen ist das Ar­beits­verhält­nis der Kläge­rin or­dent­lich nicht mehr künd­bar.

Bei der Be­klag­ten be­steht ei­ne Kon­zern­richt­li­nie (Bl. 47, 48 d. A.), der­zu­fol­ge u.a. die Be­wir­tung von Mit­ar­bei­tern im Rah­men ei­ner Fei­er aus An­lass ei­nes u.a. 40-jähri­gen Dienst­ju­biläums zulässig ist und die Be­klag­te Auf­wen­dun­gen hier­zu über­nimmt. Für ei­ne sol­che Fei­er war dies ein Be­trag bis zu 250,00 €. Auf­wen­dun­gen, wel­che die in der Ta­bel­le ge­nann­ten Beträge über­schrit­ten, wur­den nach die­sen Richt­li­ni­en von der Be­klag­ten nicht über­nom­men. Die Kläge­rin war von der kaufmänni­schen Ad­mi­nis­tra­to­rin der Be­klag­ten auf die Re­ge­lung zum Zu­schuss bei Ju­biläen hin­ge­wie­sen wor­den.

Am 01.09.2008 fei­er­te die Kläge­rin ihr 40-jähri­ges Dienst­ju­biläum; aus die­sem An­lass führ­te sie am 17.09.2008 ei­ne Ju­biläums­fei­er im Kol­le­gen­kreis durch, durch die ihr Kos­ten in Höhe von 83,90 € ent­stan­den sind. Am 22.09.2008 leg­te die Kläge­rin der Be­klag­ten ei­ne Quit­tung (Bl. 25 d. A.) der Fir­ma S. (F. T. E.) über 250,00 € für „Spei­sen und Ge­tränke“ vor. Die­se Quit­tung, der kei­ne tatsächlich er­brach­ten Leis­tun­gen zu­grun­de la­gen, war ihr von ei­ner Be­kann­ten, Frau M., be­sorgt wor­den, die Mit­ar­bei­te­rin im Rei­se­zen­trum ei­nes Schwes­ter­un­ter­neh­mens der Be­klag­ten ist. Die Kläge­rin be­haup­te­te der Be­klag­ten ge­genüber, dass es sich bei der Quit­tung um die­je­ni­ge für die Kos­ten der Ju­biläums­fei­er han­de­le und ließ sich den Be­trag von der Be­klag­ten aus­zah­len. Im Rah­men ei­ner bei der S. im Mai 2009 durch­geführ­ten Re­vi­si­on wur­de fest­ge­stellt, dass dort Quit­tun­gen oh­ne Leis­tun­gen aus­ge­ge­ben wor­den

 

- 5 -

wa­ren. Po­ten­ti­el­le Empfänger wur­den sei­tens der S. über die­sen Um­stand in­for­miert. Am 09.06.2009 er­folg­te ei­ne Mit­tei­lung der S. an die Be­klag­te, dass die von der Kläge­rin ein­ge­reich­te Quit­tung über 250,00 € oh­ne tatsächli­chen Kauf er­stellt wor­den war. Die­se In­for­ma­ti­on er­folg­te an den Bahn­hofs­ma­na­ger S., Herrn X. In der Mit­tei­lung (Bl. 26 d. A.) hieß es, dass die Quit­tung auf Bit­te von Frau M. aus­ge­stellt wor­den sei, die­se ha­be den Wunsch nach ei­ner sol­chen Quit­tung da­mit be­gründet, dass sie bzw. an­de­re Mit­ar­bei­ter der D. täglich Kun­den sei­en und in Sum­me Einkäufe in den ge­nann­ten Beträgen in der zurück­lie­gen­den Zeit getätigt hätten.

Am 18.06.2009 wur­de mit der Kläge­rin ein Per­so­nal­gespräch geführt, an wel­chem der Bahn­hofs­ma­na­ger, zwei Per­so­nal­re­fe­ren­tin­nen der Be­klag­ten und die Be­triebs­rats­vor­sit­zen­de teil­nah­men. Das dies­bezügli­che er­stell­te Pro­to­koll (Bl. 27 d. A.) wur­de von der Kläge­rin mit un­ter­zeich­net; es weist aus, dass die Kläge­rin zu­ge­ge­ben hat, dass sie ei­ne Rech­nung der Fa. S. ein­ge­reicht hat­te. Die Rech­nung der S. ha­be sie über Frau M. er­hal­ten; sie ha­be von Frau H. ge­wusst, dass für die Aus­ge­stal­tung der Fei­er bis zu 250,00 € zur Verfügung stünden. Am Fol­ge­ta­ge leg­te die Kläge­rin dann der Be­klag­ten die Rech­nung über ei­nen Be­trag von 83,90 € (Bl. 28 d. A.) vor, wel­che die ihr tatsächlich ent­stan­de­nen Be­wir­tungs­kos­ten aus­wies.

Mit Da­tum vom 19.06.2009 hörte die Be­klag­te den bei ihr ge­bil­de­ten Be­triebs­rat zu ei­ner be­ab­sich­tig­ten frist­lo­sen, hilfs­wei­se un­ter Ein­hal­tung ei­ner so­zia­len Aus­lauf­frist aus­zu­spre­chen­den Kündi­gung an (Bl. 22 ff. d. A.). Das Anhörungs­schrei­ben wur­de der Se­kretärin des Be­triebs­rats am 19.06.2009 ge­gen 13:20 Uhr über­ge­ben, ge­gen 15:30 Uhr wur­de dem Be­triebs­rats­mit­glied Frau B. ein glei­ches Ex­em­plar über­reicht. Die Be­triebs­rats­vor­sit­zen­de und de­ren Stell­ver­tre­te­rin wa­ren zu die­sem Zeit­punkt im Ur­laub. Mit Be­schluss vom 22.06.2009 teil­te der Be­triebs­rat der Per­so­nal­lei­te­rin der Be­klag­ten mit , dass er dem Kündi­gungs­be­geh­ren nicht zu­stim­men könne (Bl. 34 ff. d. A.).

Mit Schrei­ben vom 23.06.2009 (Bl. 4 d. A.), wel­ches der Kläge­rin am glei­chen Ta­ge zu­ging, sprach die Be­klag­te ei­ne Kündi­gung aus wich­ti­gem Grund mit so­for­ti­ger Wir­kung, vor­sorg­lich un­ter Ein­hal­tung der ein­schlägi­gen ta­rif­li­chen

 

- 6 -

Kündi­gungs­frist als so­zia­len Aus­lauf­frist zum 31.12.2009 un­ter dem Ge­sichts­punkt ei­ner Tat- und Ver­dachtskündi­gung aus.

Mit der vor­lie­gen­den, bei Ge­richt am 01.07.2009 ein­ge­gan­ge­nen Kla­ge wen­det sich die Kläge­rin ge­gen die­se Kündi­gung; erst­in­stanz­lich hat sie vor­ge­tra­gen, Frau M. ha­be sie an­ge­spro­chen und ihr mit­ge­teilt, dass sie ihr ger­ne ei­ne Quit­tung der Fir­ma S. über 250.- € be­sor­gen würde. Bei ihr sei der Ein­druck ent­stan­den, dass dies all­ge­mein bei der Be­klag­ten so ge­hand­habt wer­de. Die Kläge­rin hat die Ein­hal­tung der 2-Wo­chen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB eben­so in Fra­ge ge­stellt wie die ord­nungs­gemäße Be­triebs­rats­anhörung.

Dem­ge­genüber hat die Be­klag­te die Auf­fas­sung ver­tre­ten, die Kläge­rin ha­be den Ar­beit­ge­ber in straf­recht­lich re­le­van­ter Wei­se geschädigt, in­dem sie wis­sent­lich ei­ne „Schein­rech­nung“ zur Er­stat­tung der Kos­ten der Ju­biläums­fei­er ein­ge­reicht ha­be. Da­mit sei ein Fest­hal­ten am Ar­beits­verhält­nis nicht möglich.

We­gen der wei­te­ren Ein­zel­hei­ten des erst­in­stanz­li­chen Par­tei­vor­brin­gens wird auf die dort ge­wech­sel­ten Schriftsätze und den Tat­be­stand der an­ge­foch­te­nen Ent­schei­dung Be­zug ge­nom­men, § 69 Abs. 2 ArbGG.

Das Ar­beits­ge­richt Ber­lin hat mit Ur­teil vom 04.02.2010 die Kla­ge ab­ge­wie­sen. Die streit­ge­genständ­li­che Kündi­gung sei als Tatkündi­gung wirk­sam. Das Ar­beits­ge­richt hat die von der Recht­spre­chung zu § 626 BGB ent­wi­ckel­ten Grundsätze re­fe­riert; es hat so­dann fest­ge­stellt, dass die Kläge­rin ei­nen Be­trug zu Las­ten des Ar­beit­ge­bers be­gan­gen ha­be. Da­bei sei es un­er­heb­lich, ob sie Kennt­nis von der Kon­zern­richt­li­nie ge­habt ha­be und ob die Vor­la­ge ei­ner ent­spre­chen­den Quit­tung „üblich“ sei. Denn kei­nes­falls ha­be sie da­von aus­ge­hen dürfen, dass sie be­rech­tigt sein sol­le, die un­rich­ti­ge Quit­tung ge­genüber dem Ar­beit­ge­ber zu ver­wen­den und sich den frag­li­chen Be­trag aus­zah­len zu las­sen. Es han­de­le sich um ei­ne schwe­re Pflicht­ver­let­zung; ei­ne Ab­mah­nung sei ent­behr­lich ge­we­sen. Im Rah­men der In­ter­es­sen­abwägung sei fest­zu­stel­len, dass es sich um ei­nen gra­vie­ren­den Sach­ver­halt han­de­le, der zu ei­nem tie­fen Ver­trau­ens­ver­lust auf Sei­ten des Ar­beit­ge­bers geführt ha­be. Un­ge­ach­tet des Um­stan­des, dass sie sich im 58. Le­bens­jahr be­fin­de und 40 Dienst­jah­re ab­sol­viert ha­be, sei dem Ar­beit­ge­ber auch nicht ein­mal die Ein­hal­tung ei­ner

 

- 7 -

fik­ti­ven Kündi­gungs­frist zu­zu­mu­ten ge­we­sen. Hin­zu kom­me, dass die Kläge­rin auch im Güte­ter­min hartnäckig die Auf­fas­sung ver­tre­ten ha­be, sie selbst ha­be nichts falsch ge­macht; nicht ein­mal im Kam­mer­ter­min ha­be sie Ein­sicht ge­zeigt. Die 2-Wo­chen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB sei ein­ge­hal­ten ge­we­sen, Frist­be­ginn sei der 19.06.2009 ge­we­sen. Et­wai­ge frühe­re Mit­tei­lun­gen sei­tens der S. über aus­ge­stell­te Quit­tun­gen sei­en noch zu va­ge ge­we­sen, um von ei­nem Frist­be­ginn aus­ge­hen zu können. Auch die Be­triebs­rats­anhörung sei ord­nungs­gemäß er­folgt. Dem Be­triebs­rat sei­en die ent­spre­chen­den Kündi­gungs­gründe mit­ge­teilt wor­den, teil­wei­se sei­en die­se der Be­triebs­rats­vor­sit­zen­den oh­ne­hin be­kannt ge­we­sen. Das Ver­fah­ren der Ein­lei­tung der Be­triebs­rats­anhörung durch Aushändi­gung der Un­ter­la­gen an Frau B. sei ord­nungs­gemäß er­folgt. We­gen der wei­te­ren Ein­zel­hei­ten wird auf die Ent­schei­dungs­gründe (Bl. 79 ff. f. A.) Be­zug ge­nom­men.

Ge­gen die­ses am 15.02.2010 zu­ge­stell­te Ur­teil rich­tet sich die Be­ru­fung der Kläge­rin, die sie mit ei­nem beim Lan­des­ar­beits­ge­richt am 05.03.2010 ein­ge­gan­ge­nen Schrift­satz ein­ge­legt und mit ei­nem beim Lan­des­ar­beits­ge­richt am 14.04.2010 ein­ge­gan­ge­nen Schrift­satz be­gründet hat.

Die Kläge­rin und Be­ru­fungskläge­rin rügt in der Be­ru­fungs­in­stanz im We­sent­li­chen ei­ne feh­ler­haf­te In­ter­es­sen­abwägung durch das Ar­beits­ge­richt. Die­ses ha­be nicht berück­sich­tigt, dass sie zum Tat­zeit­punkt sub­jek­tiv nicht da­von aus­ge­gan­gen sei, et­was Rechts­wid­ri­ges zu tun. Erst in der Fol­ge­zeit und nun­mehr ha­be sie selbst die Ver­werf­lich­keit ih­res Han­delns er­kannt. In­so­fern be­ste­he ge­genwärtig auch kei­ne Wie­der­ho­lungs­ge­fahr mehr. Sie ha­be sich im Rechts­irr­tum da­hin be­fun­den, dass die vor­ge­nom­me­ne Ver­fah­rens­wei­se bei der Be­klag­ten so üblich sei. In­so­fern be­ste­he kei­ne ne­ga­ti­ve Pro­gno­se. Das Ver­trau­ens­verhält­nis sei nicht völlig zerrüttet, es müsse in Rech­nung ge­stellt wer­den, dass sie 40 Jah­re ei­ne be­an­stan­dungs­freie Tätig­keit für die Be­klag­te aus­geübt ha­be. Die 2-Wo­chen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB sei nicht ein­ge­hal­ten wor­den, der Bahn­hofs­ma­na­ger sei be­reits am 07.05.2009 kon­kret un­ter Na­mens­nen­nung darüber in­for­miert wor­den, dass un­ter Umständen Quit­tun­gen ein­ge­reicht wor­den sei­en, de­nen kein tatsäch­li­cher Kauf zu­grun­de lie­ge. Die Be­triebs­rats­anhörung sei nicht ord­nungs­gemäß er­folgt, ins­be­son­de­re die Ein­lei­tung des Anhörungs­ver­fah­rens sei feh­ler­haft.

 

- 8 - 

Die Kläge­rin und Be­ru­fungskläge­rin be­an­tragt,

1. fest­zu­stel­len, dass das Ar­beits­verhält­nis der Par­tei­en we­der durch die frist­lo­se Kündi­gung und auch durch die hilfs­wei­se mit so­zia­ler Aus­lauf­frist aus­ge­spro­che­ne Kündi­gung der Be­klag­ten zum 23.06.2009 be­en­det wor­den sei;

2. im Fal­le des Ob­sie­gens die Be­klag­te zu ver­ur­tei­len, sie bis zum rechts­kräfti­gen Ab­schluss des Ver­fah­rens zu un­veränder­ten ar­beits­ver­trag­li­chen Be­din­gun­gen als Mit­ar­bei­te­rin Ser­vice-Team wei­ter­zu­beschäfti­gen.


Die Be­klag­te und Be­ru­fungs­be­klag­te be­an­tragt,

die Be­ru­fung zurück­zu­wei­sen.

Die Be­klag­te und Be­ru­fungs­be­klag­te ver­tei­digt die ar­beits­ge­richt­li­che Ent­schei­dung und ver­tritt die Auf­fas­sung, die Fort­set­zung des Ar­beits­verhält­nis­ses mit der Kläge­rin sei ihr un­zu­mut­bar. Die Kläge­rin ha­be sich bei ih­rem Ver­hal­ten nicht in ei­nem Rechts­irr­tum be­fun­den, je­den­falls sei dies nicht plau­si­bel vor­ge­tra­gen wor­den. Die Ausführun­gen der Ad­mi­nis­tra­to­rin Frau H. über die Be­hand­lung des Zu­schus­ses bei Ju­biläen sei­en klar und ein­deu­tig da­hin er­folgt, dass „bis ma­xi­mal 250,00 € ge­gen Vor­la­ge ei­ner Quit­tung“ er­stat­tet würden. Die Kläge­rin ha­be kei­nes­wegs an­neh­men dürfen, die Be­klag­te dul­de die Vor­la­ge un­rich­ti­ger Quit­tun­gen. So­weit die Kläge­rin bei ih­rer Anhörung den tatsächli­chen Ge­sche­hens­ab­lauf vor­be­halt­los bestätigt ha­be, könne ihr dies nicht oh­ne Wei­te­res zu­gu­te ge­hal­ten wer­den. Es sei nämlich zu berück­sich­ti­gen, dass sie in dem Per­so­nal­gespräch mit stark be­las­ten­den In­di­zi­en kon­fron­tiert ge­we­sen sei. Die Kläge­rin ha­be den ge­sam­ten Vor­fall vorsätz­lich durch­geführt. Der ihr ent­stan­de­ne Scha­den sei hoch, er sei je­den­falls sehr viel höher als es bei den so ge­nann­ten „Ba­ga­tell-De­lik­ten“ der Fall sei. Die Umstände der Tat, ins­be­son­de­re die Ein­rei­chung ei­ner Schein­quit­tung, be­las­te­ten die Kläge­rin sehr stark. Die Kläge­rin ha­be sich auch mit Be­dacht für die­ses Vor­ge­hen ent­schie­den. Die In­ter­es­sen­abwägung müsse zu ih­ren Las­ten aus­fal­len. Die 2-Wo­chen-Frist sei ein­ge­hal­ten wor­den; ei­ne si­che­re Kennt­nis über die Tat­umstände sei bei ihr erst am 19.06.2009 ein­ge­tre­ten, als die Kläge­rin die Ko­pie der Ori­gi­nal­rech­nung über

 

- 9 -

die 83,09 € (tatsächli­che Be­wir­tungs­kos­ten) ein­ge­reicht ha­be. Die Be­triebs­rats­anhörung sei ord­nungs­gemäß er­folgt.

We­gen der wei­te­ren Ein­zel­hei­ten des zweit­in­stanz­li­chen Par­tei­vor­brin­gens wird auf den Schrift­satz der Kläge­rin vom 13.04.2010 (Bl. 102 ff. d. A.) und auf den­je­ni­gen der Be­klag­ten vom 23.06.2010 (Bl. 118 ff. d. A.) Be­zug ge­nom­men.


Ent­schei­dungs­gründe


1. Die gemäß §§ 8 Abs. 2, 64 Abs. 1 und 2 ArbGG, 511 ZPO statt­haf­te Be­ru­fung ist form- und frist­ge­recht im Sin­ne von §§ 64 Abs. 6, 66 Abs. 1 ArbGG, 519 ZPO ein­ge­legt und be­gründet wor­den.

Die Be­ru­fung ist da­her zulässig.

2. Die Be­ru­fung hat­te in der Sa­che Er­folg.

Das Ar­beits­verhält­nis der Kläge­rin ist durch die streit­ge­genständ­li­che Kündi­gung we­der so­fort noch nach Ab­lauf der so­zia­len Aus­lauf­frist auf­gelöst wor­den; des­we­gen ist die Kläge­rin zu un­veränder­ten Ar­beits­be­din­gun­gen wei­ter­zu­beschäfti­gen.

Zwar hat die Kläge­rin ei­ne gro­be und er­heb­li­che Pflicht­wid­rig­keit zu Las­ten der Be­klag­ten be­gan­gen; im Rah­men der In­ter­es­sen­abwägung war je­doch, ins­be­son­de­re im Hin­blick auf ei­ne 40-jähri­ge Be­triebs­zu­gehörig­keit, ihr In­ter­es­se am Fest­hal­ten am Ar­beits­verhält­nis als über­wie­gend an­zu­er­ken­nen.

2.1 Es ist im Grund­satz da­von aus­zu­ge­hen, dass gemäß § 626 Abs. 1 BGB das Ar­beits­verhält­nis aus wich­ti­gem Grund oh­ne Ein­hal­tung ei­ner Kündi­gungs­frist gekündigt wer­den kann, wenn Tat­sa­chen vor­lie­gen, auf­grund de­rer dem Kündi­gen­den un­ter Berück­sich­ti­gung al­ler Umstände des Ein­zel­fal­les und un­ter Abwägung der In­ter­es­sen bei­der Ver­trags­tei­le die Fort­set­zung des Ar­beits­verhält­nis­ses bis zum Ab­lauf der Kündi­gungs­frist nicht zu­ge­mu­tet wer­den

 

- 10 -

kann. Nach der ständi­gen Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts voll­zieht sich da­bei die Prüfung, ob ein ge­ge­be­ner Le­bens­sach­ver­halt ei­nen wich­ti­gen Grund dar­stellt, in zwei Stu­fen. Zunächst ist zu prüfen, ob gemäß § 626 Abs. 1 ein Um­stand vor­liegt, der ei­nen „wich­ti­gen Grund“ im Sin­ne die­ser Vor­schrift „an sich“ dar­stellt. Ist dies der Fall, be­darf es in ei­nem wei­te­ren Schritt der Prüfung, ob die Fort­set­zung des Ar­beits­verhält­nis­ses un­ter Berück­sich­ti­gung der kon­kre­ten Umstände des Ein­zel­fal­les und un­ter Abwägung der In­ter­es­sen bei­der Ver­trags­tei­le zu­mut­bar ist oder nicht.

Da­bei ist wei­ter da­von aus­zu­ge­hen, dass straf­ba­re Hand­lun­gen zu Las­ten des Ar­beit­ge­bers oder sons­ti­ge gro­be Pflicht­ver­let­zun­gen grundsätz­lich ei­ne außer­or­dent­li­che Kündi­gung nach § 626 BGB recht­fer­ti­gen können. Ein Ar­beit­neh­mer, der im Zu­sam­men­hang mit sei­ner Ar­beits­leis­tung straf­recht­lich re­le­van­te Hand­lun­gen ge­gen das Vermögen sei­nes Ar­beit­ge­bers be­geht, ver­letzt da­mit sei­ne ar­beits­ver­trag­li­che Rück­sicht­nah­me­pflicht schwer­wie­gend und miss­braucht das in ihn ge­setz­te Ver­trau­en in er­heb­li­cher Wei­se. Nach der bis­he­ri­gen ständi­gen Recht­spre­chung des Zwei­ten Se­nats des Bun­des­ar­beits­ge­richts galt dies auch dann, wenn die rechts­wid­ri­ge Ver­let­zungs­hand­lung nur Sa­chen von ge­rin­gem Wert be­trof­fen hat (BAG vom 11.12.2003 – 2 AZR 36/03 – NZA 2004, 486 : aus­sor­tier­te Mi­ni-Fla­schen Al­ko­hol ; BAG vom 13.12.2007 – 2 AZR 537/06 – NZA 2008, 1008 : Lip­pen­stift ).

Liegt ein wich­ti­ger Grund zur außer­or­dent­li­chen Kündi­gung an sich vor, so kann ei­ne hier­auf gestütz­te außer­or­dent­li­che Kündi­gung das Ar­beits­verhält­nis al­ler­dings nur dann wirk­sam be­en­de­ten, wenn bei ei­ner um­fas­sen­den In­ter­es­sen­abwägung das Be­en­di­gungs­in­ter­es­se des Ar­beit­ge­bers das Be­stands­in­ter­es­se des Ar­beit­neh­mers über­wiegt. Da­bei können in die In­ter­es­sen­abwägung ein­be­zo­gen wer­den et­wai­ge Un­ter­halts­pflich­ten und der Fa­mi­li­en­stand des Ar­beit­neh­mers, wo­bei die­ser bei dem Vor­wurf ei­ner Straf­tat nur ge­rin­ge Be­deu­tung hat (BAG vom 16.12.2004 – 2 ABR 7/04 – EzA Nr. 7 zu § 626 BGB 2002). Ins­be­son­de­re der Dau­er des Ar­beits­verhält­nis­ses und der be­an­stan­dungs­frei­en Be­stands­zeit kommt ein be­son­de­res Ge­wicht zu. Wei­ter ist zu berück­sich­ti­gen, wel­che Nach­tei­le und Aus­wir­kun­gen die Ver­trags­pflicht­ver­let­zung im Be­reich des Ar­beit­ge­bers ge­habt hat. Auch die Be­ur­tei­lung der „Tat“ selbst und die Umstände von de­ren Be­ge­hung im

 

- 11 -

Ein­zel­nen spie­len hier ei­ne Rol­le. Zu Las­ten des Ar­beit­neh­mers kann bei­spiels­wei­se berück­sich­tigt wer­den, wenn der Pflicht­ver­s­toß ei­nen sen­si­blen Be­reich be­trifft, ei­ne feh­len­de Sank­ti­on durch die Ar­beit­ge­ber­sei­te die Ge­fahr der Nach­ah­mung durch an­de­re Ar­beit­neh­mer ver­ur­sa­chen kann und wenn der Ar­beit­neh­mer sei­nen Pflich­ten­ver­s­toß zunächst leug­net und dann mehr­fach vorsätz­lich die Un­wahr­heit sagt (so noch BAG vom 24.11.2005 – 2 AZR 39/05 – NZA 2006, 484; ein­schränkend für un­wah­re An­ga­ben nach Aus­spruch der Kündi­gung nun­mehr wohl BAG vom 10.06.2010 – 2 AZR 541/09 – PM).

2.2 Un­ter Be­ach­tung und in An­wen­dung der vor­ge­nann­ten Grundsätze war im Streit­fall zunächst da­von aus­zu­ge­hen, dass die Kläge­rin ei­ne gro­be und schwer­wie­gen­de Pflicht­ver­let­zung ih­res Ar­beits­verhält­nis­ses da­durch be­gan­gen hat, dass sie der Be­klag­ten ei­ne „Gefällig­keits­quit­tung“ über ei­nen Be­trag von 250,00 € mit dem Hin­weis vor­ge­legt hat, es han­de­le sich da­bei um die Kos­ten, die ihr für die Be­wir­tung der Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen aus An­lass der Fei­er ih­res 40-jähri­gen Dienst­ju­biläums ent­stan­den sei­en, während sich die­se Kos­ten in Wirk­lich­keit nur auf 83,90 € be­lau­fen ha­ben. Sie hat sich den über 83,90 € hin­aus­ge­hen­den Be­trag mit­hin durch ei­ne Täuschungs­hand­lung zu Un­recht sei­tens der Be­klag­ten aus­zah­len las­sen. Dies stellt sich als Be­trug ge­genüber der Be­klag­ten dar. Die Kläge­rin war sich des Um­stan­des, dass sie von der Be­klag­ten mehr Geld er­hal­ten hat, als ihr an Kos­ten ent­stan­den wa­ren, auch sehr wohl be­wusst. Sie hat da­mit in er­heb­li­cher und gröbli­cher Wei­se ge­gen ih­re Pflich­ten aus dem Ar­beits­verhält­nis mit der Be­klag­ten ver­s­toßen. Es steht außer Fra­ge, dass die Kläge­rin durch die­ses Ver­hal­ten ei­nen Kündi­gungs­grund „an sich“ im Sin­ne des § 626 Abs. 1 BGB ge­setzt hat.

Im Rah­men der so­dann an­zu­stel­len­den In­ter­es­sen­abwägung im Ein­zel­fall ha­ben je­doch – letzt­lich – an­ge­sichts der mit ei­ner Kündi­gung ver­bun­de­nen schwer­wie­gen­den Ein­bußen die zu­guns­ten der Kläge­rin in die Abwägung ein­zu­stel­len­den Ge­sichts­punk­te über­wo­gen.

Da­bei ist die Kam­mer von den­je­ni­gen Grundsätzen aus­ge­gan­gen, die der Zwei­te Se­nat des Bun­des­ar­beits­ge­richts in sei­ner Ent­schei­dung vom 10.06.2010 (BAG vom 10.06.2010 – 2 AZR 541/09 – PM) in die von ihm selbst vor­ge­nom­me­ne In­ter­es­sen­abwägung ein­ge­stellt hat.

 

- 12 - 

Zu berück­sich­ti­gen war da­nach zunächst die Beschäfti­gungs­zeit der Kläge­rin. Die­se war zum Zeit­punkt des Vor­fal­les ex­akt 40 Jah­re bei der Be­klag­ten bzw. de­ren Rechts­vorgänge­rin­nen beschäftigt. Sie hat da­mit ihr ge­sam­tes Ar­beits­le­ben bei der Be­klag­ten bzw. den Rechts­vorgänge­rin­nen ver­bracht.

Das Ar­beits­verhält­nis war bis zu die­sem Zeit­punkt oh­ne recht­lich re­le­van­te Störun­gen ver­lau­fen. Der Zwei­te Se­nat des Bun­des­ar­beits­ge­richts hat in sei­ner Ent­schei­dung vom 10.6.2010 (BAG vom 10.6.2010 -2 AZR 541/09) aus­weis­lich der Pres­se­mit­tei­lung dies­bezüglich her­aus­ge­stellt, dass sich die – dor­ti­ge – Ar­beit­neh­me­rin ein ho­hes Maß an Ver­trau­en er­wor­ben ha­be, das durch den aty­pi­schen und ein­ma­li­gen Kündi­gungs­sach­ver­halt nicht vollständig zerstört wor­den sei. Im hie­si­gen Streit­fal­le war die Beschäfti­gungs­zeit der Kläge­rin noch er­heb­lich länger als die­je­ni­ge der dor­ti­gen Kas­sie­re­rin. Mit­hin muss­te nach der Ent­schei­dung des BAG vom 10.6.2010 da­von aus­ge­gan­gen wer­den, dass auch im hie­si­gen Streit­fal­le die Kläge­rin sich durch ih­re 40-jähri­ge Be­triebs­zu­gehörig­keit ein solch ho­hes Maß an Ver­trau­en er­wor­ben hat­te, das durch den Kündi­gungs­sach­ver­halt nicht so­fort und vollständig ver­braucht wor­den ist. Der hie­si­ge Kündi­gungs­vor­fall ist von der Si­tua­ti­on her tatsächlich „ein­ma­lig“: Es ist nämlich fest­zu­stel­len, dass die Pflicht­wid­rig­keit der Kläge­rin sich nicht auf die von ihr aus­zuführen­den „alltägli­chen“ Hand­lun­gen be­zo­gen hat­te, son­dern ei­ne ganz sel­te­ne Aus­nah­me­si­tua­ti­on be­tra­fen. Die Fei­er zum 40-jähri­gen Dienst­ju­biläum war ein – im Wort­sin­ne - ein­ma­li­ger Vor­gang und stell­te für die Kläge­rin ei­nen Aus­nah­me­fall dar. An­ders als die Kas­sie­re­rin im Fal­le der Ent­schei­dung des Zwei­ten Se­nats des Bun­des­ar­beits­ge­richts vom 10.06.2010 hat die hie­si­ge Kläge­rin ihr Fehl­ver­hal­ten mit­hin nicht im „Kern­be­reich“ ih­rer Tätig­keit be­gan­gen, son­dern weit außer­halb von die­sem. Die Kläge­rin ist als Zu­gan­sa­ge­rin beschäftigt und hat – so­weit er­sicht­lich – mit Geld­an­ge­le­gen­hei­ten nichts zu tun. Ei­ne Gefähr­dung des Vermögens der Be­klag­ten durch ähn­li­che Hand­lun­gen ist mit­hin im Streit­fal­le sehr un­wahr­schein­lich; denn der hier in Re­de ste­hen­de Vor­gang wie­der­holt sich – an­ders als bei ei­ner Kas­sie­re­rin im Su­per­markt die Vorgänge an der Kas­se – nicht. Er bleibt – we­nigs­tens in der Aus­gangs­si­tua­ti­on - „ein­ma­lig“.

 

- 13 - 

Wei­ter­hin war zu­guns­ten der Kläge­rin in die In­ter­es­sen­abwägung ein­zu­stel­len, dass sie so­gar – an­ders als die Kas­sie­re­rin in der Ent­schei­dung des Bun­des­ar­beits­ge­richts vom 10.06.2010 – den Vor­fall bei ih­rer Be­fra­gung durch den Ar­beit­ge­ber un­um­wun­den ein­geräumt und so­mit die Er­mitt­lungs­ar­beit und Aufklärungs­ar­beit des Ar­beit­ge­bers nicht be­hin­dert hat. Es mag sein, dass der Ar­beit­ge­ber sie in dem Per­so­nal­gespräch mit ein­deu­ti­gen, be­las­ten­den Tat­sa­chen kon­fron­tiert hat; des­sen un­ge­ach­tet bleibt es da­bei, dass die Kläge­rin den Vor­gang oh­ne zu zögern ein­geräumt hat. Auch dies ist ein Ge­sichts­punkt, der je­den­falls nach der bis­he­ri­gen Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts zu­guns­ten des Ar­beit­neh­mers zu berück­sich­ti­gen und der für die pro­gnos­ti­sche Be­trach­tung des Ver­trau­ens­verhält­nis­ses und der zukünf­ti­gen Ent­wick­lung des Ar­beits­verhält­nis­ses von Be­deu­tung ist. Denn ge­ra­de das Ver­hal­ten des Ar­beit­neh­mers nach be­gan­ge­ner Pflicht­wid­rig­keit kann die­se in un­ter­schied­li­chem Licht er­schei­nen las­sen. Geht der Ar­beit­neh­mer of­fen mit der Pflicht­wid­rig­keit um, lässt er bei der Be­fra­gung durch den Ar­beit­ge­ber er­ken­nen, dass er die­se be­dau­ert oder dass er die­se mögli­cher­wei­se un­be­dacht be­gan­gen hat, so kann das für die Fra­ge ei­ner mögli­chen Zu­sam­men­ar­beit in der Zu­kunft durch­aus ei­ne po­si­ti­ve­re Pro­gno­se zu­las­sen, als wenn der Ar­beit­neh­mer sei­ne Tat be­harr­lich leug­net, die­se zu ver­tu­schen ver­sucht oder gar ver­sucht, an­de­re Ar­beit­neh­me­rin­nen und Ar­beit­neh­mer oh­ne An­lass in sei­ne ei­ge­ne Pflicht­wid­rig­keit „mit her­ein­zu­zie­hen“. Ge­ra­de in letz­te­rem Fall wird die Pro­gno­se eher ne­ga­tiv aus­fal­len, während im ers­te­ren Fal­le im­mer­hin ei­ne wei­te­re Zu­sam­men­ar­beit nicht oh­ne Wei­te­res als unmöglich er­schei­nen muss.


Al­ler­dings muss­te ne­ga­tiv ins Ge­wicht fal­len, dass der von der Kläge­rin ver­ur­sach­te Scha­den, rund 166.- €, ei­ne beträcht­li­che Höhe hat­te. Er war da­mit nicht mehr als „ge­ringfügig“ an­zu­se­hen; er über­steigt so­gar deut­lich die in der rechts­po­li­ti­schen Dis­kus­si­on von ei­ni­gen pro­pa­gier­te „Ba­ga­tell­gren­ze“. Al­ler­dings muss­te in die­sem Zu­sam­men­hang auch die Be­son­der­heit des hier ein­ge­tre­te­nen „Scha­dens“ mit berück­sich­tigt wer­den. Die Be­klag­te hat­te sich in der Kon­zern­richt­li­nie ver­pflich­tet, für die Fei­er des 40-jähri­gen Dienst­ju­biläums an­fal­len­de Be­wir­tungs­kos­ten bis zu ei­nem Be­trag von 250,00 € zu tra­gen. Die Ar­beit­ge­ber­sei­te hat da­mit zu er­ken­nen ge­ge­ben, dass sie be­reit ge­we­sen wäre, ei­nen Be­trag in die­sem Um­fan­ge zur Verfügung zu stel­len; sie hat es der

 

- 14 -

Ar­beit­neh­me­rin, die ihr 40-jähri­ges Dienst­ju­biläum fei­er­te, da­mit frei­ge­stellt, in­ner­halb die­ser Mar­ge ei­ne Be­wir­tung vor­zu­neh­men und die Kos­ten der Be­klag­ten in Rech­nung zu stel­len. Sie hat den Be­trag in Höhe von 250,00 € da­mit – wenn auch zweck­ge­bun­den – „frei­ge­ge­ben“. Hätte die Kläge­rin Be­wir­tungs­kos­ten im Um­fan­ge von 250,00 € tatsächlich ver­ur­sacht, hätte die Be­klag­te die­sen Be­trag oh­ne Wenn und Aber nach den Kon­zern­richt­li­ni­en über­nom­men. Die Be­klag­te hat­te auch kei­ner­lei Ein­fluss dar­auf ge­nom­men, in wel­chem Um­fan­ge und auf wel­chem Ni­veau die Kläge­rin ei­ne Be­wir­tung ih­rer Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen aus An­lass des 40-jähri­gen Dienst­ju­biläums vor­neh­men würde. Dies be­deu­tet si­cher nicht, dass es der Be­klag­ten qua­si „gleichgültig“ ge­we­sen sei, ob die Ar­beit­neh­me­rin Be­wir­tungs­kos­ten oder eben nur fik­ti­ve Be­wir­tungs­kos­ten gel­tend mach­te, wenn nur der Be­trag von 250,00 € nicht über­stie­gen wer­den würde. Hier­von kann nicht aus­ge­gan­gen wer­den, und hier­von konn­te auch die Kläge­rin red­li­cher­wei­se nicht aus­ge­hen. In­des­sen kann nicht über­se­hen wer­den, dass die nun­mehr vor­ge­nom­me­ne Be­las­tung der Be­klag­ten im Rah­men ei­nes „rechtmäßigen Al­ter­na­ti­ve­r­hal­tens“ der Kläge­rin durch­aus be­tragsmäßig eben­falls hätte er­reicht wer­den können. Auch dies ist im Rah­men der In­ter­es­sen­abwägung zu würdi­gen. In­so­fern zeigt der vor­lie­gen­de Fall auch, dass der „Scha­dens­be­trag“ kei­ne not­wen­di­ge Si­gni­fi­kanz für den Un­wert­cha­rak­ter mit sich bringt, wel­cher ei­ner pflicht­wid­ri­gen Hand­lung an­haf­tet. Die Kam­mer hat in die­sem Zu­sam­men­hang auch nicht un­berück­sich­tigt ge­las­sen, dass die Kläge­rin, wie sich aus dem ge­sam­ten In­halt der münd­li­chen Ver­hand­lung er­gibt, nicht „von sich aus“ ein von vorn­her­ein ziel­ge­rich­te­tes Han­deln in Be­zug auf die Pflicht­wid­rig­keit vor­ge­nom­men hat. Aus­schlag­ge­bend wa­ren of­fen­bar „Hin­wei­se“ und „An­re­gun­gen“, die ihr von der Mit­ar­bei­te­rin im Rei­se­zen­trum dies­bezüglich ge­ge­ben wur­den. Das Be­ru­fungs­ge­richt hat aus der münd­li­chen Ver­hand­lung und den dor­ti­gen persönli­chen Ein­las­sun­gen der Kläge­rin bezüglich de­ren Ge­dan­kengänge und Dik­ti­on den Ein­druck ge­won­nen, dass die­se sich die später in die Tat um­ge­setz­te Vor­ge­hens­wei­se hat „na­he brin­gen“ las­sen; die Mit­ar­bei­te­rin im Rei­sebüro, die auf­grund ih­rer Dienst­stel­lung und ih­rer Er­fah­rung ei­nen sehr viel prägen­de­ren Um­gang mit der­ar­ti­gen Din­gen hat­te und die der Kläge­rin schließlich auch die „Gefällig­keits­quit­tung“ be­sorgt hat­te, schien der Kam­mer für das Vor­ge­hen der Kläge­rin als be­stim­mend.

 

- 15 - 

Die­se zu­guns­ten der Kläge­rin in die In­ter­es­sen­abwägung ein­zu­stel­len­den Punk­te ha­ben ihr In­ter­es­se am Fort­be­stand des Ar­beits­verhält­nis­ses ge­genüber dem­je­ni­gen der Be­klag­ten an des­sen Be­en­di­gung über­wie­gen las­sen. Die Kam­mer hat da­bei nicht ver­kannt, dass die Be­klag­te an­ge­sichts des Vor­falls an ei­ne frist­lo­se Kündi­gung den­ken muss­te und an­ge­sichts der bis­he­ri­gen Recht­spre­chung des 2. Se­nats des Bun­des­ar­beits­ge­richts auch die Wirk­sam­keit der Kündi­gung als möglich an­se­hen konn­te. Dies gilt nicht zu­letzt des­we­gen, weil die Be­klag­te auch im Hin­blick auf die Bin­nen­wir­kung im Un­ter­neh­men, auf die Ver­hal­tens­wei­sen an­de­rer Ar­beit­neh­mer, es im Grund­satz je­den­falls nicht hin­neh­men kann, in ei­ner sol­chen Wei­se hin­ter­gan­gen zu wer­den (dies hat­te der 2. Se­nat im Ur­teil vom 11.12.2003 – 2 AZR 36/03 – NZA 2004, 486 noch aus­drück­lich an­er­kannt ).

Das Be­ru­fungs­ge­richt hat je­doch ge­ra­de den Hin­wei­sen, die der Zwei­te Se­nat des Bun­des­ar­beits­ge­richts in sei­ner nun­meh­ri­gen Ent­schei­dung vom 10.06.2010 aus­weis­lich der Pres­se­mit­tei­lung für die an­zu­stel­len­de In­ter­es­sen­abwägung ge­ge­ben hat, ent­nom­men, dass ei­ner sehr langjähri­gen be­an­stan­dungs­frei­en Be­triebs­zu­gehörig­keit und dem da­mit an­ge­sam­mel­ten Ver­trau­en­s­ka­pi­tal ein solch ho­her Wert im Rah­men der In­ter­es­sen­abwägung zu­kom­men muss, dass auch ei­ne er­heb­li­che Pflicht­ver­let­zung – je­den­falls im „Erst­fal­le“ - nicht oh­ne wei­te­res zu ei­ner Be­en­di­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses führen muss. Die­ser Ge­sichts­punkt, der im dor­ti­gen Fall so­gar bei ei­ner er­heb­li­chen Pflicht­wid­rig­keit im Kern­be­reich der Tätig­keit an der Kas­se zu ei­ner Un­wirk­sam­keit der Kündi­gung führ­te, war im Streit­fal­le in noch höhe­rem Maße zu­guns­ten der Kläge­rin, die in ei­ner be­son­de­ren Aus­nah­me­si­tua­ti­on außer­halb des Kern­be­reichs ih­rer Tätig­keit ei­ne gro­be Pflicht­wid­rig­keit be­gan­gen hat­te, zu berück­sich­ti­gen. Ob und in­wie­weit und un­ter wel­chen dog­ma­ti­schen Ge­sichts­punk­ten da­bei der vor­ran­gi­ge Aus­spruch ei­ner Ab­mah­nung zu prüfen sein soll (so of­fen­bar BAG vom 10.6.2010 – 2 AZR 541/09 – PM) , kann da­hin­ste­hen .

Dem stand nicht ent­ge­gen, dass sich die Kläge­rin im ge­richt­li­chen Ver­fah­ren nach Auf­fas­sung des Ar­beits­ge­richts zunächst „un­ein­sich­tig“ ge­zeigt hat. Das dies­bezügli­che Ver­hal­ten im Pro­zess spielt nach der Ent­schei­dung des Bun­des­ar­beits­ge­richts vom 10.6.2010 kei­ne Rol­le für die Be­ur­tei­lung der

 

- 16 -

Kündi­gung; es kann sich da­bei auch um ein nur un­ge­schick­tes Ver­hal­ten im Pro­zess han­deln, mit dem sie kund­tun woll­te, dass sie sich ei­gent­lich in ei­nem Rechts­irr­tum be­fun­den ha­be.

3. Er­wies sich die Kündi­gung be­reits in­so­weit als un­wirk­sam, so kam es auf die Fra­ge, ob die Be­klag­te die 2-Wo­chen-Frist des § 626 BGB ein­ge­hal­ten hat­te und ob die Be­triebs­rats­anhörung ord­nungs­gemäß er­folgt ist, nicht mehr an.

4. Auf die Be­ru­fung war das Ur­teil des Ar­beits­ge­richts Ber­lin ent­spre­chend ab­zuändern und die von der Kläge­rin be­gehr­te Fest­stel­lung zu tref­fen, eben­so der Aus­spruch zur Wei­ter­beschäfti­gung, der auf der Grund­la­ge der Pflich­ten des Ar­beit­ge­bers im be­ste­hen­den Ar­beits­verhält­nis und den dies­bezügli­chen Rechts­po­si­tio­nen des Ar­beit­neh­mers be­ruht.

Die Kos­ten­ent­schei­dung be­ruht auf § 91 ZPO.

5. Die Zu­las­sung der Re­vi­si­on gemäß § 72 Abs. 2 ArbGG kam nicht in Be­tracht, da die ge­setz­li­chen Vor­aus­set­zun­gen nicht vor­ge­le­gen ha­ben.

Rechts­mit­tel­be­leh­rung

Ge­gen die­ses Ur­teil ist ein Rechts­mit­tel nicht ge­ge­ben. Die Be­klag­te wird auf die Möglich­keit der Nicht­zu­las­sungs­be­schwer­de gemäß § 72 a ArbGG hin­ge­wie­sen.
 

Dr. B.
zu­gleich für die eh­ren­amt­li­che Rich­te­rin
J., die sich in Ur­laub (4 Wo­chen)
be­fin­det

K.


 


 


 

Weitere Auskünfte erteilen Ihnen gern:

Dr. Martin Hensche
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Kontakt:
030 / 26 39 620
hensche@hensche.de
Christoph Hildebrandt
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Kontakt:
030 / 26 39 620
hildebrandt@hensche.de
Nina Wesemann
Rechtsanwältin
Fachanwältin für Arbeitsrecht

Kontakt:
040 / 69 20 68 04
wesemann@hensche.de

Auf Facebook teilen Auf Google+ teilen Ihren XING-Kontakten zeigen Beitrag twittern

 


zur Übersicht 2 Sa 509/10