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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 15|2023

Update Arbeitsrecht 15|2023 vom 26.07.2023

Entscheidungsbesprechungen

EuGH: Verstoß gegen die Pflicht, der Arbeitsagentur eine Abschrift der ersten Information des Betriebsrats über eine Massenentlassung zuzuleiten

Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 13.07.2023, C-134/22

Ein Verstoß gegen die Pflicht des Arbeitgebers gemäß § 17 Abs.3 Satz 1 KSchG, der Arbeitsagentur eine Kopie der ersten Betriebsrats-Information zu übersenden, führt nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung.

§ 17 Abs.3 Satz 1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG); Art.2 Abs.3 Unterabsatz 2 Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20.07.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (Massenentlassungsrichtlinie - MERL); § 134 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)

Rechtlicher Hintergrund

Plant der Arbeitgeber eine sog. Massenentlassung, muss er sie der Arbeitsagentur vorab schriftlich anzeigen. Die Anzeigepflicht gilt in Betrieben mit 21 oder mehr Arbeitnehmern, wenn die in § 17 Abs.1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) festgelegte Zahl von Entlassungen überschritten wird. 

Besteht in dem von der Massenentlassung betroffenen Betrieb ein Betriebsrat, ist der Arbeitgeber außerdem gemäß § 17 Abs.2 KSchG verpflichtet, ihn über die geplanten Entlassungen vorab zu informieren und sich mit ihm darüber zu beraten (sog. „Konsultation“). 

Verstößt der Arbeitgeber gegen die Pflicht zur Information und Konsultation des Betriebsrats und/oder zur Massenentlassungsanzeige, führt dies zur Unwirksamkeit der später ausgesprochenen Kündigungen, so die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG).

Nach dieser Rechtsprechung sind die Vorschriften zur Information und Konsultation des Betriebsrats und zur Erstattung einer Massenentlassungsanzeige (§ 17 Abs.1, Abs.2, Abs.3 Satz 2 bis 4 KSchG) Schutzgesetze zugunsten der Arbeitnehmer im Sinne von § 134 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB).

Denn mit § 17 KSchG wird die europäische Richtlinie 98/59/EG vom 20.07.1998, die sog. Massenentlassungsrichtlinie (MERL), umgesetzt. Und nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ist der mit der MERL bezweckte Arbeitnehmerschutz nur gewährleistet, wenn die Mitgliedsstaaten die o.g. drei Arbeitgeberpflichten, die auch in der MERL festgelegt sind, wirksam umsetzen.

Über diese Arbeitgeberpflichten hinaus ist in Art.2 Abs.3 Unterabsatz 2 MERL und in § 17 Abs.3 Satz 1 KSchG vorgesehen, dass der Arbeitgeber - gleichzeitig mit der ersten schriftlichen Information des Betriebsrats über die geplante Massenentlassung - eine Abschrift dieses Informationsschreibens an die Arbeitsagentur übersendet.

Die Pflicht, der Arbeitsagentur eine Kopie der ersten Betriebsrats-Information zu übersenden, darf nicht mit der Pflicht zur Massenentlassungsanzeige verwechselt werden. Denn zum Zeitpunkt der ersten Unterrichtung des Betriebsrats und der Arbeitsagentur ist noch nicht entschieden, ob und wie viele Entlassungen es geben wird. Das steht erst später fest, als Ergebnis der Konsultationen von Arbeitgeber und Betriebsrat. Erst dieses verbindliche (spätere) Beratungsergebnis ist Gegenstand der Massenentlassungsanzeige. 

Es ist daher nicht klar, was die Arbeitsverwaltung mit einer Kopie der ersten (Vorab-)Information des Betriebsrats anfangen soll, und ob ein Verstoß gegen diese Pflicht die Rechtsstellung der entlassenen Arbeitnehmer verbessert. 

Das BAG hat daher den EuGH Anfang 2022 gefragt, welchem Zweck Art.2 Abs.3 Unterabsatz 2 MERL dient (BAG, Beschluss vom 27.01.2022, 6 AZR 155/21 (A), s. dazu Update Arbeitsrecht 03|2022). Vor kurzem hat der EuGH diese Frage beantwortet: EuGH, Urteil vom 13.07.2023, C-134/22.

Sachverhalt

Nachdem ein Hersteller landwirtschaftlicher Geräte insolvent geworden war, sah er sich gezwungen, seinen Betrieb mit knapp 190 Arbeitnehmern stillzulegen. 

Er informierte daher den Betriebsrat rechtzeitig über die geplanten Entlassungen unter Beachtung von § 17 Abs.2 Satz 1 KSchG, denn hier ging es um eine Massenentlassung im Sinne von § 17 Abs.1 Satz 1 Nr.2 KSchG. Außerdem führte er zu diesem Thema Konsultationen mit dem Betriebsrat im Sinne von § 17 Abs.2 Satz 2 KSchG durch, was dieser im Interessenausgleich bestätigte. 

Allerdings hatte es das Unternehmen unterlassen, zu Beginn der Konsultationen mit dem Betriebsrat der Arbeitsagentur eine Abschrift des an den Betriebsrat gerichteten Informationsschreibens zuzusenden. Das verstieß gegen § 17 Abs.3 Satz 1 KSchG.

Im Zuge der Verhandlungen vereinbarten Unternehmen und Betriebsrat einen Interessenausgleich, dem eine Liste mit den Namen der zu kündigenden Arbeitnehmer gemäß § 1 Abs.5 KSchG und § 125 Abs.1 Insolvenzordnung (InsO) beigefügt war. Außerdem einigte man sich auf einen Sozialplan.

Auf dieser Grundlage hörte der Arbeitgeber den Betriebsrat zu den einzelnen betriebsbedingten Kündigungen gemäß § 102 BetrVG an und sprach sie dann fristgemäß aus. 

Ein gekündigter Schweißer erhob Kündigungsschutzklage und argumentierte, dass die Kündigung wegen § 17 Abs.3 Satz 1 KSchG in Verb. mit § 134 BGB unwirksam sei.

Das Arbeitsgericht Osnabrück wies die Klage ab (Urteil vom 16.06.2020, 1 Ca 79/20), und so entschied auch das Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachsen (LAG Niedersachsen, Urteil vom 24.02.2021, 17 Sa 890/20, s. dazu Update Arbeitsrecht 07|2021 vom 07.04.2021).

Wie erwähnt setzte das BAG das Verfahren aus und bat den EuGH um eine Erläuterung des Zwecks von Art.2 Abs.3 Unterabsatz 2 MERL.

Entscheidung des EuGH

Der EuGH entschied, dass die Pflicht, der Arbeitsverwaltung eine Kopie der ersten an die Arbeitnehmervertreter gerichteten Information zu übersenden, nicht den Zweck hat, den von Massenentlassungen betroffenen Arbeitnehmern einen Individualschutz zu gewähren. 

Denn die den Arbeitnehmervertretern zu gebenden Auskünfte können sich im Verlauf der Verhandlungen und Planungen ändern, so dass die vom Arbeitgeber der Arbeitsverwaltung in Kopie zu übermittelnden (ersten) Informationen der Arbeitnehmervertreter für die Arbeitsverwaltung keine zuverlässige Grundlage sind, die in ihre Zuständigkeit fallenden Maßnahmen vorzubereiten (EuGH, Urteil, Rn.31 - 33).

Außerdem weist Art.2 Abs.3 Unterabsatz 2 MERL der Arbeitsverwaltung im Verfahren der Konsultation der Arbeitnehmervertreter keine aktive Rolle zu. Eine solche Rolle hat die Behörde erst in einem späteren Stadium, d.h. nach der Anzeige der Massenentlassung (EuGH, Urteil, Rn.34 - 35).

Die Übersendungspflicht gemäß Art.2 Abs.3 Unterabsatz 2 MERL dient daher der frühzeitigen ungefähren Abschätzung der späteren (möglichen) Entlassungen durch die Behörde, die sich in diesem Stadium des Verfahrens nicht mit der individuellen Situation einzelner Arbeitnehmer zu befassen hat (EuGH, Urteil, Rn.36 - 37).

Daraus folgt, so der Gerichtshof, dass die Übersendungspflicht einen kollektiven und keinen individuellen Schutz gewährt (EuGH, Urteil, Rn.37).

Praxishinweis

Die hinter § 17 Abs.3 Satz 1 KSchG stehende Regelung der MERL gewährt Arbeitnehmern keinen individuellen Rechtsschutz gegenüber Kündigungen.

Daher hat ein Verstoß gegen die Pflicht des Arbeitgebers gemäß § 17 Abs.3 Satz 1 KSchG, der Arbeitsagentur eine Kopie der ersten Betriebsrats-Information zu übersenden, nicht zur Folge, dass die später erklärten Kündigungen unwirksam sind.

Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 13.07.2023, C-134/22

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 27.01.2022, 6 AZR 155/21 (A)

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 27.01.2022, 6 AZR 155/21 (A) (Pressemeldung des Gerichts)

Landesarbeitsgericht Niedersachsen, Urteil vom 24.02.2021, 17 Sa 890/20

 

Handbuch Arbeitsrecht: Betriebsrat

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Handbuch Arbeitsrecht: Kündigung - Betriebsbedingte Kündigung

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Handbuch Arbeitsrecht: Sozialplan

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