HENSCHE RECHTSANWÄLTE, FACHANWALTSKANZLEI FÜR ARBEITSRECHT

ARBEITSRECHT AKTUELL // 07/48

Lan­des­ar­beits­ge­richt Nie­der­sach­sen vs. Ar­beits­ge­richt Os­na­brück

LAG: Die Bil­dung von Al­ters­grup­pen bei der So­zi­al­aus­wahl ist kei­ne ver­bo­te­ne Al­ters­dis­kri­mi­nie­rung: Lan­des­ar­beits­ge­richt Nie­der­sach­sen, Ur­teil vom 13.07.2007, 16 Sa 274/07
Zwei Gruppen von je drei Arbeitnehmern mit Helm, Bekleidung der beiden Gruppen unterschiedlich Al­ters­grup­pen bei der So­zi­al­aus­wahl sind gut für die Jun­gen und schlecht für die Al­ten

17.09.2007. An­fang des Jah­res hat­te das Ar­beits­ge­richt Os­na­brück in ei­nem auf­se­hen­er­re­gen­den Ur­teil ent­schie­den, dass die Bil­dung von Al­ters­grup­pen bei der So­zi­al­aus­wahl ei­ne ver­bo­te­ne Dis­kri­mi­nie­rung der äl­te­ren Ar­beit­neh­mer we­gen ih­res Al­ters sei (Ar­beits­ge­richt Os­na­brück, Ur­teil vom 05.02.2007, 3 Ca 724/06 - wir be­rich­te­ten in Ar­beits­recht ak­tu­ell: 07/15 Ar­beits­ge­richt Os­na­brück: AGG gilt bei Kün­di­gun­gen).

Das Prin­zip der So­zi­al­aus­wahl be­sagt, dass nur die­je­ni­gen Ar­beit­neh­mer aus be­triebs­be­ding­ten Grün­den ge­kün­digt wer­den kön­nen, die so­zi­al am we­nigs­ten schutz­be­dürf­tig sind, und hier sind die Äl­te­ren im Ver­gleich zu den jün­ge­ren schutz­be­dürf­ti­ger. Al­ters­grup­pen­bil­dung bei der So­zi­al­aus­wahl heißt dann aber: Man schützt zwar die äl­te­ren ge­gen­über den jün­ge­ren, doch bil­det man zu­vor Al­ters­grup­pen (z.B. die 40 bis 49jährigen) und be­vor­zugt die Äl­te­ren dann nur in­ner­halb "ih­rer" Al­ters­grup­pe. Im Er­geb­nis wird da­mit das Al­ter als Ver­gleichs­kri­te­ri­um bei der So­zi­al­aus­wahl er­heb­lich ent­wer­tet.

Jetzt kam für die kla­gen­den Ar­beit­neh­mer in der Be­ru­fungs­in­stanz vor dem Lan­des­ar­beits­ge­richt (LAG) Nie­der­sa­chen die kal­te Du­sche. Denn das LAG Nie­der­sach­sen war an­ders als das Ar­beits­ge­richt der An­sicht, dass der Ar­beit­ge­ber bei der So­zi­al­aus­wahl Al­ters­grup­pen bil­den darf, d.h. die der So­zi­al­aus­wahl ent­spre­chen­de Bes­ser­stel­lung äl­te­rer Mit­ar­bei­ter auf die Ar­beit­neh­mer in­ner­halb der je­wei­li­gen Al­ters­grup­pe be­schrän­ken darf: LAG Nie­der­sa­chen, Ur­teil vom 13.07.2007, 16 Sa 274/07 u.a. (Kar­mann).

Sind Al­ters­grup­pen bei der So­zi­al­aus­wahl ei­ne ver­bo­te­ne Dis­kri­mi­nie­rung we­gen des Al­ters?

17.09.2007. Wie wir be­reits be­rich­te­ten (Ar­beits­recht Ak­tu­ell: 07/15 Ar­beits­ge­richt Os­nabrück: AGG gilt bei Kündi­gun­gen), hat das Ar­beits­ge­richt Os­nabrück in ei­ner Viel­zahl gleich­ge­la­ger­ter Kündi­gungs­schutz­ver­fah­ren mit Ur­tei­len vom Ja­nu­ar und Fe­bru­ar 2007 (un­ter an­de­rem: Ur­teil vom 05.02.2007, 3 Ca 724/06) den kla­gen­den Ar­beit­neh­mern recht ge­ge­ben.

Die ju­ris­ti­sche Streit­fra­ge lau­te­te: Darf der Ar­beit­ge­ber bei der gemäß § 1 Abs.3 Kündi­gungs­schutz­ge­setz (KSchG) im Fal­le be­triebs­be­ding­ter Kündi­gun­gen vor­zu­neh­men­den So­zi­al­aus­wahl Al­ters­grup­pen bil­den, d.h. darf er die aus ei­ner „nor­ma­len“ So­zi­al­aus­wahl re­sul­tie­ren­de über­pro­por­tio­na­le Häufig­keit von Kündi­gun­gen jünge­rer Ar­beit­neh­mer ver­hin­dern?

Denn da das Al­ter ein wich­ti­ges Kri­te­ri­um der So­zi­al­aus­wahl ist (ne­ben der Be­triebs­zu­gehörig­keit, den Un­ter­halts­pflich­ten und ei­ner et­wai­gen Schwer­be­hin­de­rung), führt je­de be­triebs­be­ding­te Kündi­gungs­wel­le zu ei­nem höhe­ren Durch­schnitts­al­ter der Be­leg­schaft.

Das ver­hin­dert ei­ne Al­ters­grup­pen­bil­dung: Der Ar­beit­ge­ber nimmt zwar ei­ne Aus­wahl nach so­zia­len Ge­sichts­punk­ten vor und berück­sich­tigt das Al­ter, aber im­mer nur in­ner­halb von Al­ters­grup­pen, al­so z.B. der 36- bis 45jähri­gen, der 46- bis 55jähri­gen usw.

Das Ar­beits­ge­richt Os­nabrück hat hier­zu die Mei­nung ver­tre­ten, dass das AGG trotz § 2 Abs.4 All­ge­mei­nes Gleich­be­hand­lungs­ge­setz (AGG) auf Kündi­gun­gen an­wend­bar sei.

Wei­ter­hin war das Ar­beits­ge­richt Os­nabrück der An­sicht, das in § 1 und § 7 Abs.1 AGG ent­hal­te­ne Ver­bot ei­ner Dis­kri­mi­nie­rung we­gen des Al­ters ei­ne Al­ters­grup­pen­bil­dung bei der So­zi­al­aus­wahl aus­sch­ließe, da dies zu ei­ner ge­woll­ten und sys­te­ma­ti­schen Be­nach­tei­li­gung älte­rer Ar­beit­neh­mer führe.

Das LAG Nie­der­sach­sen hat mit Ur­tei­len vom 13.07.2007 über ei­nen Teil ge­gen die­se Ur­tei­le des Ar­beits­ge­richts Os­nabrück ein­ge­leg­te Be­ru­fun­gen ent­schie­den.

Der Streit­fall: Mas­sen­ent­las­sun­gen beim Au­to­mo­bil­pro­du­zen­ten Kar­man

Der Au­to­zu­lie­fe­rer Kar­mann in Os­nabrück hat­te En­de 2006 auf der Grund­la­ge ei­nes mit dem Be­triebs­rat aus­ge­han­del­ten In­ter­es­sen­aus­gleichs und So­zi­al­plans, in de­nen die zu kündi­gen­den Ar­beit­neh­mer na­ment­lich be­nannt wa­ren (sog. „Na­mens­lis­te“), in et­wa 600 Fällen be­triebs­be­ding­te Kündi­gun­gen aus­ge­spro­chen. Da­bei hat­te er zu­sam­men mit dem Be­triebs­rat bei der Er­mitt­lung der zu kündi­gen­den Ar­beit­neh­mer Al­ters­grup­pen ge­bil­det.

Ei­ne sol­che Vor­ge­hens­wei­se hat die ge­woll­te Fol­ge, dass vie­le Ar­beit­neh­mer, die z.B. der Al­ters­grup­pe mit den 46- bis 55jähri­gen zu­zu­ord­nen sind, ei­ne Kündi­gung er­hal­ten, ob­wohl sie im di­rek­ten Ver­gleich mit Ar­beit­neh­mern der Al­ters­grup­pe der 36- bis 45jähri­gen oder gar mit Ar­beit­neh­mern der Al­ters­grup­pe der 26- bis 35jähri­gen so­zi­al stärker schutz­bedürf­tig wären: Durch die Bil­dung von Al­ters­grup­pen bei der So­zi­al­aus­wahl wird ein sol­cher al­ters­grup­penüberg­rei­fen­der Ver­gleich von „Kündi­gungs­kan­di­da­ten“ be­wusst ver­hin­dert.

Die auf­grund die­ser Art von So­zi­al­aus­wahl mit Al­ters­grup­pen­bil­dung gekündig­ten Ar­beit­neh­mer er­ho­ben Kla­ge, wo­bei sie wie erwähnt in der ers­ten In­stanz vor dem Ar­beits­ge­richt Os­nabrück ob­sieg­ten.

LAG Nie­der­sach­sen: Al­ters­grup­pen­bil­dung bei der So­zi­alauis­wahl verstößt we­der ge­gen das AGG noch ge­gen das Eu­ro­pa­recht

Das Lan­des­ar­beits­ge­richt Nie­der­sach­sen (16 Kam­mer) erklärte sechs Kündi­gun­gen, die auf dem In­ter­es­sen­aus­gleich und So­zi­al­plan vom 08.09.2006 be­ruh­ten, für wirk­sam.

Da­bei wur­de die Re­vi­si­on zum Bun­des­ar­beits­ge­richt zu­ge­las­sen (Ur­tei­le vom 13.07.2007, 16 Sa 274/07 u.a.).

Ent­ge­gen der An­sicht des Ar­beits­ge­richts Os­nabrück, das al­len Kla­gen statt­ge­ge­ben hat­te, hat das Lan­des­ar­beits­ge­richt auf die Be­ru­fung des Ar­beit­ge­bers fest­ge­stellt, dass der mit dem Be­triebs­rat ver­ein­bar­te In­ter­es­sen­aus­gleich nicht ge­gen die Be­stim­mun­gen des All­ge­mei­nen Gleich­be­hand­lungs­ge­set­zes (AGG) bzw. die eu­ro­pa­recht­li­chen Dis­kri­mi­nie­rungs­ver­bo­te ver­s­toße.

Für die Ent­schei­dung des LAG Nie­der­sach­sen spricht, dass das im AGG ent­hal­te­ne Ver­bot der Dis­kri­mi­nie­rung we­gen des Al­ters auch ei­ner Be­nach­tei­li­gung jünge­rer Ar­beit­neh­mer ent­ge­gen­wir­ken möch­te.

Dies zeigt ein Blick in § 10 AGG, der die wich­tigs­ten ge­setz­lich an­er­kann­ten Aus­nah­men vom grundsätz­li­chen Ver­bot der Al­ters­dis­kri­mi­nie­rung be­nennt; da die­se Aus­nah­men Fälle der recht­li­chen Begüns­ti­gung von älte­ren Ar­beit­neh­mern aus­drück­lich be­nen­nen bzw. er­lau­ben, schützt das die­sen Aus­nah­men zu­grun­de lie­gen­de all­ge­mei­ne Prin­zip, d.h. das Ver­bot der Al­ters­dis­kri­mi­nie­rung, of­fen­bar nicht nur Al­te, son­dern auch Jun­ge.

Dies gilt auch für die dem AGG zu­grun­de lie­gen­de Richt­li­nie 2000/78/EG des Ra­tes vom 27.11.2000 zur Fest­le­gung ei­nes all­ge­mei­nen Rah­mens für die Ver­wirk­li­chung der Gleich­be­hand­lung in Beschäfti­gung und Be­ruf bzw. für Art.6 die­ser Richt­li­nie.

So ge­se­hen ist un­ter dem As­pekt des Ver­bots der Al­ters­dis­kri­mi­nie­rung we­ni­ger die Al­ters­grup­pen­bil­dung bei der So­zi­al­aus­wahl, son­dern die So­zi­al­aus­wahl selbst bzw. die hier­in lie­gen­de Be­nach­tei­li­gung jünge­rer Ar­beit­neh­mer das Pro­blem.

An­de­rer­seits hat­te das be­klag­te Un­ter­neh­men Kar­mann vor Ge­richt aus­drück­lich da­mit ar­gu­men­tiert, hin­ter der Al­ters­grup­pen­bil­dung ste­he die Ab­sicht, ei­ne Übe­r­al­te­rung der Be­leg­schaft in­fol­ge der be­ab­sich­tig­ten Kündi­gungs­wel­le zu ver­mei­den.

Das mit der Al­ters­grup­pen­bil­dung ganz „of­fi­zi­ell“ ver­folg­te Ziel war al­so nicht der Schutz der jünge­ren Ar­beit­neh­mer vor Be­nach­tei­li­gung, son­dern ein möglichst ge­rin­ger Al­ters­durch­schnitt im Be­trieb. Ei­ne sol­che Ziel­set­zung stellt mögli­cher­wei­se doch ei­ne ver­bo­te­ne Al­ters­dis­kri­mi­nie­rung dar. Hier hätte man sich viel­leicht bes­ser in Schwei­gen hüllen sol­len.

Wie auch im­mer: Das BAG hat­te be­reits mit Be­schluss vom 20.04.2005 (2 AZR 201/04), d.h. un­abhängig von Fra­gen der Al­ters­dis­kri­mi­nie­rung, ent­schie­den, dass der Ar­beit­ge­ber ei­ne von ihm bei der So­zi­al­aus­wahl prak­ti­zier­te Al­ters­grup­pen­bil­dung mit sehr de­tail­lier­ten Ar­gu­men­ten be­gründen muss, will er nicht ge­gen § 1 Abs.3 KSchG ver­s­toßen (vgl. un­se­ren Be­richt in Ar­beits­recht Ak­tu­ell 05/03).

Das BAG wird da­her die vom Ar­beits­ge­richt Os­nabrück bzw. vom Lan­des­ar­beits­ge­richt Nie­der­sach­sen gefäll­ten Ur­tei­le nicht nur un­ter dem As­pekt des im AGG ent­hal­te­nen Dis­kri­mi­nie­rungs­ver­bots, son­dern auch un­ter dem ei­ner (zulässi­gen oder zu weit­ge­hen­den?) Ab­wei­chung von § 1 Abs.3 KSchG über­prüfen.

Wei­te­re In­for­ma­tio­nen zu die­sem Vor­gang fin­den Sie un­ter:

Hin­weis: In der Zwi­schen­zeit, d.h. nach Er­stel­lung die­ses Ar­ti­kels, hat das Ge­richt sei­ne Ent­schei­dungs­gründe schrift­lich ab­ge­fasst und veröffent­licht. Die Ent­schei­dungs­gründe im Voll­text fin­den Sie hier:

Letzte Überarbeitung: 14. September 2016

Weitere Auskünfte erteilen Ihnen gern:

Dr. Martin Hensche
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Kontakt:
030 / 26 39 620
hensche@hensche.de
Christoph Hildebrandt
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Kontakt:
030 / 26 39 620
hildebrandt@hensche.de
Nina Wesemann
Rechtsanwältin
Fachanwältin für Arbeitsrecht

Kontakt:
040 / 69 20 68 04
wesemann@hensche.de

Bewertung:

Auf Facebook teilen Auf Google+ teilen Ihren XING-Kontakten zeigen Beitrag twittern

 

Für Personaler, betriebliche Arbeitnehmervertretungen und andere Arbeitsrechtsprofis: "Update Arbeitsrecht" bringt Sie regelmäßig auf den neusten Stand der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung. Informationen zu den Abo-Bedingungen und ein kostenloses Ansichtsexemplar finden Sie hier:

Alle vierzehn Tage alles Wichtige
verständlich / aktuell / praxisnah

HINWEIS: Sämtliche Texte dieser Internetpräsenz mit Ausnahme der Gesetzestexte und Gerichtsentscheidungen sind urheberrechtlich geschützt. Urheber im Sinne des Gesetzes über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte (UrhG) ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht Dr. Martin Hensche, Lützowstraße 32, 10785 Berlin.

Wörtliche oder sinngemäße Zitate sind nur mit vorheriger schriftlicher Genehmigung des Urhebers bzw. bei ausdrücklichem Hinweis auf die fremde Urheberschaft (Quellenangabe iSv. § 63 UrhG) rechtlich zulässig. Verstöße hiergegen werden gerichtlich verfolgt.

© 1997 - 2024:
Rechtsanwalt Dr. Martin Hensche, Berlin
Fachanwalt für Arbeitsrecht
Lützowstraße 32, 10785 Berlin
Telefon: 030 - 26 39 62 0
Telefax: 030 - 26 39 62 499
E-mail: hensche@hensche.de